Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy

„An manchen Objekten klebt Blut“

53:31 Minuten
Bénédicte Savoy posiert in Paris für eine Porträtaufnahme.
Forschte schon als junge Wissenschaftlerin zu Raubkunst: Bénédicte Savoy © AFP / Alain Jocard
Bénédicte Savoy im Gespräch mit René Aguigah · 20.01.2019
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Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat für die französische Regierung zu Kolonialkunst und der Rückgabe afrikanischen Kulturerbes geforscht. Sie sagt, viele Exponate seien mehr als Form und Material – und bei der Restitution gehe es auch um Respekt.
Im vergangenen November erhielt der französische Präsident Emmanuel Macron einen "Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes". Macron hatte den Bericht bei zwei Wissenschaftlern in Auftrag gegeben: dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr und der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Zusammen forschten die beiden acht Monate lang, in Frankreich ebenso wie in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Sie fassten ihre Ergebnisse und Empfehlungen auf rund 200 Seiten zusammen. Macrons Entscheidung, afrikanische Kulturgüter tatsächlich zurückzugeben, hat eine breite Debatte ausgelöst – ebenso wie der dazugehörige Bericht. Im Gespräch erklärt Bénédicte Savoy ihren Standpunkt.
Savoy lehrt an der Technischen Universität Berlin und am Collège de France in Paris. Ihr erstes großes Forschungsthema als junge Wissenschaftlerin war der Kunstraub Napoleons in Deutschland, weshalb sie sagt: "Ich hab seit den Anfängen meiner Lehrtätigkeit immer Themen angefasst, die politisch sind, nämlich Museumsgeschichte." Schon damals habe sie so etwas wie "Empathie für die Opfer" von Kulturgutverlagerungen entwickelt.

"Das Militär ist eine große Gruppe der Sammler"

Eine der auffälligsten Erfahrungen während ihrer Arbeit am Bericht zur Restitution afrikanischer Kulturgüter war, selbst zu sehen, dass die erdrückende Mehrzahl afrikanischer Artefakte gar nicht auf dem Kontinent ihrer Herkunft zu sehen ist, sondern in Europa. "Wenn Sie nach Mexiko reisen, wissen Sie, dass Sie im Nationalmuseum von Mexiko Kunst aus der Gegend werden sehen können. Wenn Sie nach Australien fahren, haben Sie die Hoffnung, etwas aus der Südsee zu sehen. Wenn Sie nach Afrika fahren, südlich der Sahara, gibt es diese Präsenz des afrikanischen Kulturerbes nicht – und zwar nicht weil es per se keines gibt, weil die Afrikaner angeblich nur tanzen oder nur Musik machen würden, sondern weil diese Objekte, die sehr zahlreichen Objekte, zu einem bestimmten Zeitpunkt unserer gemeinsamen Geschichte massiv ausgeführt wurden unter verschiedenen Bedingungen."
Drei Gruppen von Akteuren haben während der Kolonialzeit vor allem Gegenstände gesammelt: das Militär, Kolonialbeamte und Wissenschaftler. "Das Militär sammelt entweder direkt auf dem Schlachtfeld, oder danach, oder wenn das Militär nichts zu tun hat – gerade Militärärzte, die gehen sammeln, gern auch botanische Sachen oder Heilungsstatuetten. Das Militär ist eine ganz große Gruppe der Sammler. Und deswegen kann man auch sagen, dass an manchen Objekten Blut klebt. Diese Formel, die so übertrieben klingt, kann man beim Wort nehmen."

Ohne Kolonialkunst wären einige Museen leer

70.000 Gegenstände aus Afrika befinden sich allein im Pariser Musée du quai Branly. Es sind aber auch die Leitungen anderer Museen oder Kulturpolitiker, die dem Bericht von Savoy und Sarr gegenüber einwenden: Wenn man Objekte in großem Stil restituiere, stünden die europäischen Museen am Ende leer da. Savoy erwidert: "Das wird nicht der Fall sein. Das soll nicht so sein. Niemand wünscht sich das. Auch nicht in Afrika wünscht sich irgendjemand, dass die europäischen Museen – jedenfalls von den 150 Gesprächspartnern, die wir innerhalb von acht Monaten intensiv befragt haben – niemand will das, und es wird auch nicht geschehen." Es gehe eher um Objekte mit historischer, psychologischer oder symbolische Bedeutung für die Gesellschaften, aus denen sie stammen.
Große königliche Statuen des Königreichs Dahomey aus den Jahren 1890-1892 im Quai Branly Museum-Jacques Chirac.
Große königliche Statuen des Königreichs Dahomey aus den Jahren 1890-1892 im Musée du quai Branly© picture alliance/dpa/Foto: Sabine Glaubitz
Beispiel Abomey: In der Stadt in Benin, der früheren Hauptstadt des Königreichs Dahomey, wurden während des Kolonialkriegs 1892 nicht zuletzt Statuen aus dem Königspalast entwendet. "Jeder von den Menschen dort weiß, dass da ein Königreich ein Ende gefunden hat 1892, dass der König Behanzin damals ins Exil geschickt wurde, dass er gestorben ist, und dass es ab dann keine Unabhängigkeit mehr gab, sondern die französische Kolonialzeit begann. Das weiß jeder. Und trotzdem geht es nicht um alle Gegenstände dort. Sondern um diese paar wichtigen Objekte. Benin verlangt 26."

Auch junge Afrikaner sollen Zugang bekommen zur Kunst

Ein anderer Einwand lautet: In Afrika könnten die Gegenstände nicht angemessen konserviert werden. Savoy antwortet mit sehr unterschiedlichen Verhältnissen in den unterschiedlichen afrikanischen Ländern; dem Hinweis auf das neue, hochmoderne "Museum of Black Civilisations" in Dakar. Und sie gibt eine Antwort ihres Kollegen Felwine Sarr wieder: "Diese Objekte waren manchmal 300 Jahre alt, als sie weggenommen wurden, das heißt, diese 300 Jahre hatten sie schon geschafft in den schlechten klimatischen Bedingungen, vor der Erfindung des Stromes."
Ein dritter Einwand lautet, erst die Europäer hätten viele afrikanische Gegenstände gerettet und zu Kunst gemacht, indem sie sie ins Museum gestellt hätten. Bénédicte Savoy will diesen Einwand nicht gelten lassen in einer Diskussion, in der es darum geht, ob die afrikanischen Gesellschaften überhaupt Zugang zu ihrem eigenen Kulturerbe bekommt. "Was nicht auszuhalten ist, ist, dass diese Jugend dort vor Ort, die jungen Kreativen, die Filmemacher, die Designer etc., keinen Zugang zum Kulturerbe, zur Kreativität ihrer Vorfahren bekommen. Ob das eine spirituelle Kreativität ist oder eine Designer-Kreativität – es sind ja auch beispielsweise viele Löffel in unseren Sammlungen und Schalen und Textilien, das ist keine Kunst in dem Sinne, sondern das ist so sehr Kunst wie etwa das Bauhaus. Und warum die jüngere Generation in Afrika nicht Zugang haben soll zu diesen Objekten, die auch Objekte des Alltags gewesen sind, das leuchtet einem nicht ein."

"Die Exponate sind mehr als Form und Material"

Ob es eigentlich angemessen ist, bei diesen so diversen Kunst- und Gebrauchsgegenständen stets von "Objekten" zu sprechen? Nein, räumt Savoy ein: "Was man auf jeden Fall sagen kann, ist, dass die Benutzung des Wortes Objekt nicht passt. Denn in vielen Fällen sind es sogar Subjekte, übrigens auch im Museum. Vielleicht ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie vor einem Kunstwerk stehen und den Eindruck haben, dieses Kunstwerk agiert auf mich, also verändert Sie wie ein Subjekt. Ich hab gern diese Vorstellung, dass in gewisser Hinsicht in den Museen die Exponate oder die Stücke die eigentlichen Subjekte sind, unsterblich, die uns beobachten, wie wir Sterbliche da an ihnen vorbeigehen. Von Generation zu Generation, und sie bleiben hier.
Im afrikanischen Kontext ist es noch sichtbarer, weil diese Gegenstände eben auch Reserven von Energien sind, von Potentialitäten, es ist etwas in ihnen. Das zeigt auch der Film ‚Black Panther’, ein hochintelligenter Film, man hat den Eindruck, dass der ganze Forschungsstand eingegangen ist in den Film. Denn das Stück, das dort gestohlen wird, besteht aus Vibranium, und das ist eine energetische Quelle. Das ist etwas, aus dem die Zukunft Afrikas, oder im Film von Wakanda, diesem fiktive Land, bestimmen wird, und mit diesem Material wird man die Welt retten in dem Film. Das heißt, diese Exponate in Museen sind viel mehr als nur Form und Material, sie sind Energie."
Blick auf das Museum, aufgenommen am 21.7.2018
Das Museum of Black Civilizations in Senegals Hauptstadt Dakar© picture alliance / Xinhua / Yan Yan
Zur Bedeutung von Museen heute: "Ich glaube auch an die Ruhe in den Museen. Gerade in unseren sehr bewegten Zeiten. An Momente, wo man in sich kehren kann und im Dialog mit einem Gegenstand und in Ruhe sich Fragen stellen kann, die außerhalb des Habens, des Werdens, des Effektivseins liegen, die eben poetische Fragen sind, und, ja, die Poesie soll allen zugänglich sein. Oder die Möglichkeit, in sich selbst Poesie zu spüren. Ja, und nicht nur allen in Europa, also nicht nur den Erben dieser großen Kulturgutverlagerung, die auch noch ein Privileg der Mobilität haben, sondern auch diejenigen, woher diese Objekte kommen."

Bei der Rückgabe geht es um Vertrauen und Respekt

Der Untertitel des Berichts an Präsident Macron lautet: "Vers une nouvelle éthique relationelle", für eine neue Beziehungsethik zwischen Nord und Süd. Offenkundig betrifft die Frage der Restitution nicht nur Museumsfragen. Wenn Artefakte zurückgegeben werden, sagt Savoy, gehe es auch um Respekt und Vertrauen. "Wie haben das Vertrauen, dass, wenn ihr diese Objekte haben wollt, ihr schon wissen werdet, wie man damit umgeht, wie erwachsenen Gesellschaften. Und nicht im Sinne von:Wir geben das ganz kurz, und dann beobachten wir das ganz genau, und schauen, ob ihr nicht dummes Zeug mit eurem eigenen Kulturerbe macht... Diese Geste ist das, was ich gern das Ende der Arroganz nennen möchte. Nämlich zu sagen: Wir sind Beginn des 21. Jahrhunderts, die Geschichte liegt hinter uns, wir haben sehr davon profitiert, wir müssen zusehen, dass es nicht in diesem ungleichmäßigen Verhältnis weitergeht."

Der "Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes" ist auf Französisch und Englisch im Internet veröffentlicht, unter der Adresse restitutionreport2018.com

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