Sophie Calle: "Das Adressbuch"

Puzzleteile eines fremden Lebens

Buchcover "Das Adressbuch" von Sophie Calle
Buchcover "Das Adressbuch" von Sophie Calle © Suhrkamp Verlag / Deutschlandradio
Von Eva Hepper  · 07.01.2020
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1983 findet Sophie Calle ein Adressbuch. Sie ruft die darin enthaltenen Nummern an, um so ein Bild des Besitzers zusammenzusetzen. Das daraus entstandene Buch wird zum Skandal und macht die Konzeptkünstlerin berühmt, die Leser jedoch zu Voyeuren.
"Mit der Zeit werde ich ihn kennenlernen", schreibt Sophie Calle am 2. August 1983 in ihrer ersten Kolumne. Da steckt die heute weltberühmte Konzeptkünstlerin schon mitten in ihrem Projekt, von dessen Fortgang sie einen Monat lang täglich in der französischen Tageszeitung "Libération" berichten wird.
Die zugrunde liegende Idee ist verwegen: Calle hatte ein Adressbuch gefunden, es einmal kopiert, bevor sie es seinem Besitzer kommentarlos zurückschickte, und beschlossen, sich von dessen Leben allein durch seine Kontakte ein Bild zu machen.

Das Leben eines Unbekannten

"Ziel ist, den Mann kennenzulernen, ohne ihn je zu treffen." Wen die damals 29-jährige Künstlerin stattdessen trifft, sind etwa 30 seiner Freunde und Bekannten. Sie ruft sie nacheinander an, bittet um eine Verabredung und fordert sie auf, von dem ahnungslosen Besitzer des Adressbuchs zu erzählen. Am Ende der akribischen Detektivarbeit wird Sophie Calle nicht nur eine überraschend scharfe Studie des Unbekannten zusammenrecherchiert haben. Sie wird zugleich einen Riesenskandal auslösen und quasi über Nacht berühmt.
Pierre D. – wie sie ihn nannte – war entsetzt, an die Öffentlichkeit gezerrt worden zu sein. Tief verletzt verpflichtete er "Libération" im Gegenzug, ein Nacktfoto Calles zu drucken (da sie als Stripperin gearbeitet hatte, war das leicht zu beschaffen), und unterband jedes weitere Publikmachen des Projekts zu seinen Lebzeiten.
14 Jahre nach seinem Tod und fast 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheinen die Kolumnen nun erstmals in deutscher Übersetzung als Buch.

Akribische Detektivarbeit mit Sogwirkung

Die geschliffen formulierten Texte entwickeln noch heute eine fast unheimliche Sogwirkung. Es ist so erschreckend wie faszinierend zu lesen, wie die von den Freunden offenbarten Details aus Pierre D.s Privatleben sich nach und nach zu einem Ganzen fügen.
Sophie Calle – und mit ihr der Leser – erfährt Intimstes, nicht nur Aussehen, Alter, Familienstand und Beruf. Bald weiß man, wie Pierre D.s Wohnung eingerichtet ist, wie er sich kleidet, dass er ein Faible für Slapstick-Filme hat, als intellektuell gilt und einsam zu sein scheint. Und auch, wie er sich als Liebhaber verhält, wird ersichtlich.
Nicht alle der Angerufenen gaben Auskunft. Manche zögerten, andere wahrten Diskretion und wieder andere waren empört. Selbst die Künstlerin bekam Skrupel ob ihres Tuns, machte aber weiter, weil sie Pierre ja "nichts Schlechtes will".
Doch tat sie ihm auch nichts Gutes, das zeigt das Ende. Tatsächlich werden die Leserin und der Leser noch heute zu Voyeuren. Das ruft äußerst gemischte Gefühle hervor. Nicht zuletzt deswegen aber ist die Aktion Sophie Calles so bestechend. Die Konzeptkünstlerin spielt mit Identität, Realität und Fiktion, mit der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben und mit Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Hier fließt alles ineinander, und zwar lange vor Instagram, Facebook, Amazon, Google und Co. Sophie Calles Arbeit erweist sich als visionär und – so scheint es 2020 – fast als harmlose Variante dessen, was heute Alltag ist.

Sophie Calle: "Das Adressbuch"
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich
Suhrkamp Verlag 2019
105 Seiten, 22 Euro

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