Kunst und Protest

Clevere Strategie oder Störung der Ordnung?

29:42 Minuten
Auf einem Platz liegen große Eisblöcke. Zwischen den Eisblöcken laufen Menschen herum.
Klimaprotest als Kunst: Der Künstler Olafur Eliasson ließ 24 Eisblöcke vor der Tate Modern Gallery in London ablegen. © picture alliance / empics / Matt Alexander
Von Paul Lohberger · 30.06.2021
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Schmelzende Eisblöcke in London als Protest gegen den Klimawandel - solche Kunstaktionen zeigen, wie eng die Verbindung von Kunst und Protest derzeit ist. Doch Kunst und politischer Protest gehen schon lange zusammen - auch wenn das nicht allen gefällt.
Die Verbindung von politischem Protest und Kunst im heutigen Sinne beginnt im 20. Jahrhundert. Protestsongs erscheinen als wichtiges Medium, sie vermitteln ihre Botschaft innerhalb von ein paar Minuten. In anderen Kunstformen ist der Protest nicht so eindeutig. Als Provokation wirken sie trotzdem.

Als ein bemalter Mann 1965 durch Wien ging, erreichte er nicht sein Ziel

Der Wiener Heldenplatz ist ein weiter Freiraum mitten in der Stadt direkt neben der Hofburg, dem alten Machtzentrum und heute Sitz von Teilen der Staatsführung. Zwei gigantische Reiterstandbilder stehen sich hier gegenüber, eine Seite nimmt die Nationalbibliothek ein, Architektur von Barock bis 19. Jahrhundert. Ein Ort von hoher symbolischer und historischer Bedeutung, auch im Sinne der Kunst.
Im Jahr 1965 erschien auf diesem Platz eine seltsame Figur. Der Auftritt geschah ganz plötzlich, erinnert sich Marie-Therese Hochwartner, Kunsthistorikerin vom Wiener Museum für Moderne Kunst
"An dieser Stelle ist Günter Brus am 5. Juli 1965 um circa 11 Uhr aus dem Auto gestiegen. Er wurde hierher geführt, mit einer sogenannten Ente, von John Sailer. Und wir wissen, dass er sich bei der Fahrt hierher bei jeder roten Ampel geduckt hat, damit das lebende Kunstwerk nicht vorab schon entdeckt wird, und diese Aktion quasi schon vorab einen Abbruch erfährt."
"Also, er ist ausgestiegen, gekleidet eigentlich ganz normal mit einem Anzug, sehr charmant. Aber dieser Anzug war dick bestrichen mit pastoser Malfarbe, und zwar ganz in Weiß. Und zusätzlich zu dieser weißen Farbe hat er einen schwarzen Strich. Und dieser Strich fängt an seiner rechten Schuhspitze an, zieht sich nach oben mittig durch seinen Körper, zieht sich über das Gesicht, mittig über den Kopf und den Hinterkopf und endet dann links unten an seiner Ferse, an seinem Schuhabsatz."
Ein junger Mann sitzt im Rahmen eines Happenings in einer Art Schlafanzug auf einem Tisch und hält die Hand an den Kopf.
Für Günter Brus als einen Vertreter des Wiener Aktionismus war Kunst Aktion, wie hier bei einem Happening im Porrhaus 1967.© picture-alliance / VOTAVA / VOTAVA
So marschierte der Künstler Günter Brus los Richtung Zentrum – oder vielmehr: Er promenierte. Wir folgen seinem Weg während des Interviews, das lässt sich gut machen, denn der Spaziergang wurde für damalige Verhältnisse aufwändig dokumentiert, mit Fotos und Film. Sein Ziel war eine Vernissage, auf der seine Bilder ausgestellt werden sollten. Günter Brus war aber schon damals einer der Protagonisten des Wiener Aktionismus und wollte darum Aktionen zeigen. Darum ging er bemalt durch die Stadt.
Beim Wort "Aktionismus" denkt man heute an die Proteste von Umwelt- und Klimaschutz-NGOs. Aber war der Wiener Spaziergang von Günter Brus auch eine Protestgeste?
"Wir gehen jetzt hier beim Schweizertor vorbei, Hofburg, Heldenplatz, Schweizertor, das sind alles historische Orte, und er eignet sich durch das Gehen quasi die Stadt, den Stadtraum an, und möchte aufmerksam machen auf die Kunst, und das in einer Zeit – in Österreich nach 1945 wird nicht so sehr Wert gelegt auf einen Neuanfang, sondern auf Wiederaufbau, Wiederaufbau tradierter Werte, sehr wertekonservativ, eine sehr veränderungsfeindliche Gesellschaftsstimmung. Und dieses enge Korsett erlaubt auch relativ wenig Austausch mit der internationalen Moderne, den internationalen Künstlern. Das heißt, diese soziokulturellen Umstände fordern quasi eine Avantgarde heraus, die einen scharfen Gegenimpuls liefert."
Aktionisten wie Günter Brus wollten über den Einsatz ihrer Körper die Verwerfungen in der österreichischen Psyche reflektieren – individuell und kollektiv, erörtert Marie-Therese Hochwartner und läuft durch einen Torbogen Richtung Innenstadt.
"Es ist in jedem Fall gesellschaftskritisch gemeint, es geht darum, was für Auswirkungen diese Wertvorstellungen oder Normen auf uns haben, auf unser Leben, auf unsere Körper. Und sie versuchen mit diesem Ausbruch aus der Tafelmalerei in die Wirklichkeit, mit direkter Kunst, die Kunst ins tatsächliche Leben zu holen und ihr Relevanz zu verleihen."

Als der König seinen Kopf verlor, nahm niemand seinen Platz ein

Die Geschichte der Protestkultur beginnt schon lange vor dem 20. Jahrhundert und ist eng verbunden mit der Entwicklung des Bürgertums, das nach dem Mittelalter mit dem Adel und der Kirche um die Herrschaft konkurrierte. Erst dadurch entstand der öffentliche Raum, die Öffentlichkeit im heutigen Sinn.
"Zu dieser Frage nach der Herausbildung der zivilgesellschaftlichen Sphäre von 16. ins 19. Jahrhundert kann man sagen, dass dieser öffentliche Raum, der sich da herausbildet, immer schon ein ästhetischer Raum auch ist – also, dass man das Politische und das Ästhetische da eigentlich nicht wirklich voneinander trennen kann."
Sobald der öffentliche Raum bespielt wird, sei das immer auch eine Inszenierung, hier seien Kunst und Protest nicht klar voneinander zu trennen, sagt Anna Schober-de Graaf, Professorin für visuelle Kultur an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. In ihrer Habilitation beschäftigte sie sich mit Kunst und Protest, inklusive der Vorgeschichte seit der Französischen Revolution. In der Sozialwissenschaft ist es üblich, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Räume und Sphären zu betrachten:
"Man muss sich so vorstellen, dass die Gesellschaftspyramide im Ancien Regime, also in den monarchischen und aristokratischen Gesellschaften vor diesen Revolutionen von einer Figur besetzt war, das ist der Kopf und der Körper des Königs, der zugleich die weltliche Macht verkörpert hat als auch Gott auf Erden. Und diese Gesellschaftsspitze wird eliminiert, mit diesen Revolutionen wird der König abgesetzt, geköpft, und wichtig ist, dass nichts mehr an diese Stelle kommt, die Stelle wird ein leerer Raum."

Der öffentliche Raum als Bühne

Dieser leere Raum an der Spitze der Gesellschaft wird in der Demokratie immer nur temporär besetzt, von Wahl zu Wahl. Diejenigen, die die Mächtigen infrage stellen, können sich in der realen und in der symbolischen Öffentlichkeit präsentieren. Eine Parade oder Demonstration machen den öffentlichen Raum zur Bühne. Museen, Massenmedien oder politische Zusammenkünfte gehören aber auch zur Öffentlichkeit.
"Es gibt natürlich totalitäre Gesellschaften, die sich herausgebildet haben, wo dann wieder versucht wird, im Faschismus oder Realsozialismus, in Diktaturen, wo dann wieder ein Kopf und ein Körper hingebracht wird, Lenin, Stalin, Hitler. Das ist eine ständige Gefahr dieser Demokratien, aber es ist eben nicht Teil dieser neuen Ordnung."
Politik und Gesellschaft bestimmen das Verhältnis von Kunst und Protest zueinander. Anschaulich wird diese raum- und körperbezogene Kulturtheorie durch ein Beispiel aus jüngerer Zeit. Es geht dabei im Wortsinn um die Verkörperung von politischen Statements.

Als ein einzelner Mann auf ein Gebäude schaute, war das ziemlich frech

Der Gezi-Park im Sommer 2013. Wochenlang versammelten sich dort jeden Abend tausende ganz unterschiedliche Menschen, um gemeinsam friedlich zu protestieren. Zuerst ging es ihnen um die Erhaltung des Parks, doch bald richteten sich die Proteste gegen die Politik des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Erdogan.
"Es formiert sich ein junges engagiertes Publikum, das wirklich massiv motiviert ist, auf die Straßen zu gehen, auf diesem Gezi-Park-Gelände und dann darauf ausstrahlend auf diesem politisch signifikanten Taksim-Platz", sagt der Kulturtheoretiker Florian Bettel, der an der Universität für Angewandte Kunst in Wien lehrt und forscht.
"Im Juni kommt dann Erdem Gündüz, ein Performer, aus der darstellenden Kunst kommend, auf die Idee, sich zu engagieren, stellt sich auf diesen Platz, den Taksim Square, und vereinzelt sich als Masse. Der Hintergrund ist der, dass die Polizei den Platz geräumt hat, es galt auch ein Versammlungsverbot. Und Erdem Gündüz als Performer findet eine künstlerische Form, dieses Verbot zu unterwandern, indem er allein auf diesem Platz steht, nicht als Menge, sondern als Individuum, und starrt auf das Atatürk-Kulturzentrum. Und auf diesem Atatürk-Kulturzentrum findet sich natürlich ein Atatürk-Porträt und damit auch ein signifikantes Zeichen für den Laizismus, also etwas, was unter Erogan ja versucht wird zu unterwandern, mit allen Möglichkeiten, die es da gibt."
Auf dem nächtlichen Taksim Square in Istanbul stehen viele junge Menschen und schauen auf das Atatürk-Kulturzentrum, an dessen Fassade zwei türkische Flaggen und ein Porträt Atatürks angebracht sind.
Schweigen und starren als Protestform - dem Künstler Erdem Gündüz schlossen sich schnell zahlreiche weitere Menschen an. © imago images / Seskim Photo
Hier zeigt sich eine symbolträchtige Verbindung von Körper und Ideologie in der Öffentlichkeit – im Porträt des Politikers einerseits, in der Person des Performers andererseits. Die Dokumentation und Verbreitung dieses Sujets war bedeutend einfacher zu verstehen als bei Günter Brus.
"Was das Schöne an dieser Geste ist: sie wurde fotografiert und dokumentarisch festgehalten und ging, wie man so schön sagt, im Internet viral, das heißt, das hat eine extreme Öffentlichkeit produziert. Und es haben sich Leute angeschlossen, sich ebenfalls vereinzelt, und so haben sich eine Ansammlung von Individuen auf dem Taksim Square vereinzelt und die Polizei konnte nicht unter dem Versammlungsparagraphen einschreiten", sagt Bettell.
"Das Schöne an diesen künstlerischen Interventionen ist, dass sie oft zu Symbolen von Protestbewegungen werden. Wenn Sie Gezi-Park googeln, werden Sie bald auf diese Protestgeste von Erdem Gündüz stoßen."
Spektakuläre Bilder und Inszenierungen sorgen für den Wow-Effekt und das entsprechende Echo in den sozialen Medien, gerade in einer mit Bildern und Nachrichten übersättigten Zeit.

Die identitäre Rechte übernimmt Protestformen der Linken

Bilder für die Medien zu inszenieren, ist aber keine ganz neue Entwicklung. Seit den 1980ern protestierten NGOs wie Greenpeace mit spektakulären Aktionen gegen Umweltzerstörung. Die NGOs gingen aus der Friedens- und Umweltbewegung hervor, in der sich viele Künstlerinnen und Künstler engagierten. Mit der Zeit entstand eine Art professionelle Protestkultur, der künstlerische Aspekt trat in den Hintergrund. Anliegen sollten kreativ, aber eindeutig transportiert werden.
Daran orientiert sich auch die Neue Rechte: Die "Identitäre Bewegung" brachte beispielsweise im Jahr 2016 Transparente am Brandenburger Tor an und imitierte damit eine Aktion der Umwelt-NGO Greenpeace. Das ist kein Zufall, wie Pia Steidl feststellt.
In ihrer kulturwissenschaftlichen Diplomarbeit an der Universität für Angewandte Kunst in Wien analysierte die Diplomandin die Selbstdarstellung der Identitären Bewegung in Österreich. Mit Imitationen verfolgten die Identitären ganz bewusst ein subversives Image, schreibt sie in ihrer Diplomarbeit:
"Sie sind ebenso subversiv, gesellschaftskritisch, tatkräftig und frei von politisch-bürokratischem Staub, wie Greenpeace es früher war. Quasi: Das neue Greenpeace ist rechts, weil die gesellschaftliche Unterdrückung heutzutage von links kommt. Aber es ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, und jedenfalls moralisch gerechtfertigt."
Pia Steidl beschreibt und analysiert in ihrer Arbeit zahlreiche Inszenierungen, mit denen sich die Identitären in Szene setzten. Sie stellt auch fest, dass das Forum der "Bewegung"die eigenen Kanäle in den sozialen Medien sind. Als die Identitären auf Facebook gesperrt wurden und zu anderen Plattformen wechselten, hatten sie plötzlich wesentlich weniger Freunde – weil ein Großteil gekauft war, folgert die Forscherin.
Vorerst bleibt es in der Neuen Rechten also bei einer Imitation bewährter Methoden von Protest. Namhafte Berührungspunkte mit der Kunstszene gibt es nicht, in dem Sinn auch keine rechte Protestkunst.

Ab den 1960ern wurde der Protest spielerischer

Wesentlich mehr Impulse für die Kunst lieferte die Umwelt- und Klimathematik, spätestens seit die Fridays-For-Future-Bewegung diesem Protest in den letzten drei Jahren eine neue Dynamik gab. Beispielsweise deponierte 2018 Olafur Eliasson 30 Eisblöcke vor der Tate Modern Gallery mitten in London.
"Meine Beobachtung ist einfach, dass Kunst und Protest sich im Lauf der Geschichte immer wieder beeinflusst haben, dass es teilweise auch offene Übergänge gab zwischen beiden Feldern", sagt der politische Soziologe Simon Teune, der unter anderem am Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung tätig ist. Aus dieser Perspektive rekapituliert er nochmals künstlerische Strömungen des 20. Jahrhunderts.
"Wenn man in der Geschichte der Protestbewegungen zurückguckt: Die Bewegung gegen Sklaverei, die Frauenrechtsbewegung, die Arbeiterbewegung haben Künstlerinnen und Künstler immer zu Arbeiten inspiriert und ihnen einen Resonanzraum gegeben. Damit haben sie auch das Bild dieser Bewegungen geprägt – in der Arbeiterbewegung denk ich da z.B. an Bert Brecht, an Anna Seghers, an John Heartfield, die wesentlich auch die Art, wie die Bewegung wahrgenommen wurde, mitgeprägt haben. Und andersherum haben künstlerische Strömungen auch immer einen Einfluss auf die Art, wie wir protestieren. Da fällt mir als erstes Beispiel die Studentenbewegung der 60er-Jahre ein, wo Fluxus, Situationismus dazu beigetragen haben, dass der Protest spielerischer wurde, dass auch theatrale Elemente aufgenommen wurden. Und das sind so wesentliche historische Momente, wo wir so ein Zusammenspiel von Kunst und Protest sehen."

Die größte Kraft geht von der Wirklichkeit aus

Kunst und Protest suchen sich in jeder Zeit das passende Medium – das war zu gewissen Zeiten das Theater, heute gibt es Fernsehen, Internet und Social Media. Sie dienen der Verbreitung, doch egal ob als Objekt oder als Performance, die größte Kraft geht von der unmittelbaren Wirklichkeit aus.
Dafür muss der Protest "in echt" stattfinden.
Als der Rechtspopulist Bernd Höcke eines Morgens aus seinem Hause trat, fand er sein Nachbargrundstück zu einer gewaltigen Skulptur verwandelt
"Der entscheidende Punkt hier, künstlerisch gesehen, ist etwas, was wir bei vielen großen Aktionen gemacht haben, ich würde es fast die Magie des Augenblicks benennen: Im ersten Augenblick ist der Garten leer, und im zweiten Augenblick steht das Berliner Holocaust-Mahnmal, oder stehen da 24 Stelen des Berliner Mahnmals mitten in Bornhagen, direkt vor Höckes Haus."
Neben einem Einfamilienhaus im ländlichen Raum sind dem Holocaust-Mahnmal in Berlin nachempfundene Betonstelen aufgebaut.
"Diese Aktion ist clever, aber ist sie Kunst?" Das fragt sich der Soziologe Simon Teune.© imago images / snapshot / F. Boillot
Der Philosoph und Aktionskünstler Philipp Ruch spricht für das Berliner Zentrum für politische Schönheit (ZPS). Dieses Kollektiv treibt die Verquickung von Kunst und Protest, Diskurs und Praxis gern auf die Spitze. Als der AfD-Politiker Björn Höcke in einer Rede im Januar 2017 eine neue Erinnerungskultur forderte und das Berliner Holocaust Mahnmal als "Denkmal der Schande" bezeichnete, baute man ihm ein kleines Abbild davon direkt vor seiner Nase auf das Nachbargrundstück – eine gezielte Störung des ländlichen Idylls mit urbaner Kunst. Dazu kommt die Verunsicherung durch das relativ plötzliche Erscheinen des Mahnmals. Höcke selbst bezeichnete die Aktion als Terrorismus. Und Kulturtheoretiker Florian Bettel?
"Ich stelle eher die Frage, muss diese Aktion des ZPS als Kunstaktion beurteilt werden. Warum nicht auf einer Folie der Populartkultur, des polit. Aktivismus. Wozu braucht es hier diesen zusätzlichen Indikator für die Bewertung, das sei Kunst? Diese Aktion ist clever, aber ich frage, ist sie Kunst?"
Für das Zentrum für politische Schönheit ist das wohl egal. Ein reproduziertes Kunstwerk war hier nur ein Mittel zum Zweck.

Den Sinn von Moral und Menschenrechten begreiflich machen

In einer anderen Aktion ließ das Zentrum ein Mahnmal verschwinden, das an die deutsch-deutsche Grenze erinnern sollte.
"Wir haben gesagt, wenn es eine Aktualität des Mauerfalls gibt, und wenn man dem gedenken soll, dann muss man den Mauertoten gedenken. Den Mauertoten bis 89 und auch den Mauertoten an der europäischen Außengrenze", sagt Rucht.
"Auch da gab es diesen magischen Moment, also die Aktion Erster europäischer Mauerfall startet, und ein gesamtes Denkmal für diese Mauertoten verschwindet aus dem Regierungsviertel, aus dem bestgesichertsten Bezirk dieser Republik, wo Bundestag, Kanzleramt, die ganzen Nebengebäude stehen, taucht ein Mahnmal, ein Denkmal einfach so ab, und taucht an den europäischen Außengrenzen wieder auf. Und das im ungünstigsten Moment, in dem Moment, als das Gedenken rückwärts verstanden werden soll, nämlich auf die Toten an der DDR-Mauer, und ja nicht auf den Umstand aufmerksam gemacht werden soll, dass an den Mauern der Union manchmal stündlich mehr Leute sterben als in 28 Jahren an der deutsch-deutschen Mauer."
Diese Aktion richtete den Blick auf die Gegenwart statt zurück, die Logik ist jedoch immer gleich: Historische Bezüge herstellen und fragen, was daraus zu lernen ist. Im Gedenken solle die Macht der Geschichte spürbar werden, erklärt Philipp Ruch.
Um die Lehren der Geschichte, aber auch den Sinn von Moral und Menschenrechten begreiflich zu machen, und auch ihre praktischen Konsequenzen zu zeigen, greift das Zentrum für politische Schönheit zu künstlerischen Mitteln.
"Der Diskurs, der kann ja noch so rational sein, aber ohne Gefühle wird sich nichts ändern – Thema Klimawandel, oder die deutsche Geschichte. Und Kunst, in diesem Spannungsfeld, also wir haben einen rationalen Diskurs, dann steht die Kunst für den Idealismus, oder für einen idealistischen Diskurs. Wer soll denn sonst noch diese Rolle übernehmen, außer Intellektuelle, Künstlerinnen, Schauspieler, Regisseurinnen, also das, was ich die fünfte Gewalt im Staat nenne – es gibt die vierte, das ist die Presse. Und die fünfte Gewalt sind vielleicht die kulturellen Kräfte eines Landes."
Im Gegensatz zum Diskurs habe Kunst die Freiheit, Fragen zu stellen, aber sie müsse keine Antworten liefern, meint Philipp Ruch. Das Publikum könne mit seinen Irritationen allein gelassen werden.

Als ein bemalter Mann 1965 durch Wien ging, erreichte er nicht sein Ziel (Fortsetzung)

In Wien 1965 spazierte Günter Brus im Anzug, aber bemalt, durch die alten Gassen Richtung Zentrum. Und 2013 stellte sich Erdem Gündüz auf den Taksim-Platz und schaute auf ein Atatürk-Denkmal. Er machte es so, dass er nicht verhaftet werden konnte im Rahmen der bestehenden Sanktionen. Die totalitären Tendenzen in der Türkei waren bereits stark.
Aber Gündüz wurde nicht verhaftet, Günter Brus dagegen – in einer angeblich offenen und demokratischen Gesellschaft – wurde verhaftet und bestraft, nachdem er die Hofburg durchquert hatte.
"Man darf nicht vergessen, wie konservativ Österreich war, das war tatsächlich eine Störung der öffentlichen Ordnung, und das wurde auch so empfunden. Und es war ja nicht sein erster Kontakt mit der Polizei, zwei Jahre vorher hat er eine Strafe bekommen, weil er geholfen hat, den Lammkadaver zu beseitigen, den Hermann Nitsch bei einer Aktion verwendet hat. Den Aktionisten war durchaus bewusst, dass die Gesellschaft das als Störung ihrer normalen und normierten Ordnung empfindet."
Allerdings, betont die Kunsthistorikerin Marie-Therese Hochwartner, ging es bei den Wiener Aktionisten nicht bloß um gesellschaftlichen Protest, sondern auch um die Auseinandersetzung mit tieferen Bewusstseinsebenen. Durch diese Thematik behalten die Aktionen respektive deren Dokumentationen ihre ästhetische Wirkung, jenseits der Wirkung in der Zeit - ebenso wie Erdem Gündüz als "Standing Man" auch eine rein ästhetische Wirkung erzielt, die für Spannung sorgt, auch wenn man den Protestbezug nicht kennt.

Der "ethical turn" als Herausforderung für die Kunstkritik

Angesichts von Klimawandel, Migration oder alles bestimmender Digitalisierung scheint es für Künstlerinnen und Künstler immer drängender, zu aktuellen Fragen Stellung zu beziehen – was wiederum die Kunsttheorie beschäftigt. Florian Bettel verweist hier auf eine Position, die die britische Historikerin Claire Bishop formulierte:
"Ihrer Diagnose nach gibt es bereits in den 1990er Jahren, eine Ethical Turn in der Kunstkritik, wo berechtigte Anliegen in die Kunst kommen, aus ethischer Sicht berechtigt, und die Kunstkritik so gar nicht damit arbeiten kann, weil eben Ethik kein Bewertungskriterium der klassischen Kunstkritik ist."
Wenn Olafur Eliasson die Eisblöcke in London platziert, die dann langsam vor sich hinschmelzen, ist die Intention klar, aber wie soll man diese Arbeit als Kunstwerk bewerten?
Theodor W. Adorno vertrat die Überzeugung, die Kunst müsse sich auf sich selbst konzentrieren. Der Grund war seine Erfahrung der politisch instrumentalisierten Kunst im Faschismus. Auch Walter Benjamin hatte das erlebt, zog aber andere Schlüsse.
"Er findet dafür die Formel, dass diese faschistische Kunst, die er hier ausmacht, und die im Nationalsozialismus sehr stark eingesetzt wird, dass die nichts anders tut als eine Ästhetisierung von Politik, und Benjamin versucht sich zu überlegen, wie könnte Kunst hier anders vorgehen, und stellt dem gegenüber die Idee einer Politisierung der Kunst."
Und das einzulösen, ist die Frage, welche Kunst das kann.
Die Aufnahme von 1958 zeigt den Philosophen Theodor W. Adorno mit hinter dem Rücken verschränkten Händen neben seinem Schreibtisch stehend. 
In der Frage nach der Verbindung von Kunst und Politik vertrat der Philosoph Theodor W. Adorno die Auffassung, Kunst solle sich auf sich selbst besinnen.© picture-alliance / brandstaetter images / Franz Hubmann
Christoph Schlingensief inszenierte ein Reality-Theater mit Asylwerbern im Container als Kunstaktion. Hier wäre Adornos Anspruch "die Kunst müsse sich auf sich selbst konzentrieren" ebenso gelungen wie der politische Anspruch, meint Florian Bettel. Auch Joseph Beuys beherrschte solche Grenzüberschreitungen. Er machte Performances in Galerien, pflanzte aber auch Bäume in den Städten – beides war bei ihm Kunst.
"Joseph Beuys ist ein interessantes Beispiel, ich lese seine Tätigkeit mehr als die Ausweitung dessen, was aus der Kunst kommt. ZPS setzt sich dagegen aus Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, auch mit einem Philosophen als Kopf, die aus einem anderen Diskurs kommen und in die Kunst reingehen – das ist wohl anders. Das Spiel mit der politischen Öffentlichkeit liegt dem ZPS viel näher."
So versteht Philipp Ruch auch die Mission der Organisation, für die er spricht.
Im Gegensatz zu Adorno sieht Anna Schober-de Graaf die Kunst sehr wohl als ein Korrektiv zu einer Öffentlichkeit, in der ein fauler Konsens herrscht, der den Diskurs lähmt. Die Auseinandersetzung werde in solchen Situationen zum Scheingefecht, das die wesentlichen Fragen ausspart.
"Das führt zu einer tendenziellen Verarmung von Öffentlichkeit, auch wenn es ganz viele Veranstaltungen und Kanäle gibt und viel Information. Und da hat die Kunst die wichtige Aufgabe, eben querzuschießen, ein Sand im Getriebe zu sein, da auch den Stadtraum wieder aufzuwerten, Live Performances aufzuwerten oder auch wieder möglich zu machen – das Unvorhergesehene einzubringen."

Es gibt keine Verpflichtung der Kunst zum Protest

Als in Österreich 2019 tatsächlich sehr unvorhergesehen das Ibiza-Video mit geheimen Trinkgesprächen des rechtspopulistischen Vizekanzlers auftauchte – was später zu Neuwahlen führte – wurde auch das Zentrum für politische Schönheit als Urheber vermutet. Das stimmte zwar nicht, Philipp Ruch gibt sich aber amüsiert darüber, "dass genau diese Macht der Fiktion die wirklich Mächtigen nachts nicht schlafen lässt – und dafür sind wir natürlich da".
Die Inszenierung einer Video-Falle, um fragwürdige Politiker bloßzustellen – tatsächlich könnte auch das heute Protestkunst sein. Offenbar war das aber nicht die Intention der Organisatoren des Ibiza- Videos. Der Gegenentwurf zum Zentrum für politische Schönheit wäre derzeit wohl die selbstreferenzielle Verrätselung eines Jonathan Meese. Seine Ästhetik ist zeitgemäß, er spiegelt aktuelle und historische Fragen in seinem Werk. Doch bleibt er in den Sphären der Kunst, hier vertritt er seine Positionen.
Diese künstlerischen Strategien gegeneinander aufzuwägen, wäre unsinnig. So viele Themen scheinen dringlich, es gibt jedoch nach wie vor keinerlei Verpflichtung der Kunst zum Protest. Auch Protestsongs sind ja schön und gut, aber deswegen kann man nicht von jedem Popsong erwarten, dass er die großen Fragen der Welt verhandelt.
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