Kultusminister: Privatschulen führen zu breiterem Angebot

Jan-Hendrik Olbertz im Gespräch mit Susanne Führer · 05.10.2009
Den Boom von Privatschulen in Deutschland sieht Jan-Hendrik Olbertz, Kultusminister in Sachsen-Anhalt, gelassen. "Für eine lebendige und plurale Schullandschaft braucht man auch ein entsprechend breites Angebotsspektrum, und zunächst einmal finde ich das im Kern erfreulich", so Olbertz.
Susanne Führer: Vor acht Jahren wurde Deutschland von einer Studie namens PISA geschockt. Zum einen kam heraus, dass die Schülerinnen und Schüler hierzulande gar nicht so toll sind wie gedacht, und zum anderen erfuhren die entsetzten Bürger, dass in keinem anderen Industrieland der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg so groß ist wie in Deutschland. Seitdem sind die Bildungspolitiker am Rotieren. Welche Konsequenzen sind aus PISA zu ziehen? Es wird diskutiert und bisweilen auch reformiert, was das Zeug hält. Viele Eltern aber haben schon Konsequenzen ge- und den staatlichen Schulen das Vertrauen entzogen: Sie geben ihre Kinder auf Privatschulen und es werden immer mehr. Über diese Entwicklung spreche ich nun mit Professor Jan-Hendrik Olbertz, er ist Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt. Guten Tag, Herr Olbertz!

Jan-Hendrik Olbertz: Guten Tag, ich grüße Sie!

Führer: Wie ist das, beunruhigt Sie dieser Trend zur Privatschule?

Olbertz: Wir sehen ja in Deutschland überall Gefahr lauern, vor allem in der Vielfalt. Und deswegen wundert mich diese Diskussion ein bisschen. Es ist ja gar nicht zwingend der Fall, dass Eltern staatlichen Schulen das Vertrauen entziehen, wenn sie eine alternative Option wählen. Das ist zunächst mal eine Entscheidung nach dem Förderschwerpunkt, den Begabungen des Kindes, den Überlegungen, die die Eltern und das Kind gemeinsam anstellen. Ich würde darin nicht automatisch gleich eine Kampfansage sehen.

Führer: Na, aber vielleicht ja doch eine Misstrauensansage. Wenn ich die Wahl habe zwischen mehreren Schulen und dann eine bestimmte wähle und die andere nicht, dann heißt das doch eindeutig, dass ich die für besser halte.

Olbertz: Ich glaube, das hat eher einen physikalischen Grund, dass ich nicht alle auf einmal wählen kann. Wenn ich die Wahl habe, besteht doch der Sinn dieses Umstandes darin, zu wählen, und darin steckt natürlich immer dann auch der Effekt der Abwahl. Aber ich weiß nicht, ob ich das so dramatisieren würde. Für eine lebendige und plurale Schullandschaft braucht man auch ein entsprechend breites Angebotsspektrum, und zunächst einmal finde ich das im Kern erfreulich. Wir können dann gerne über die sehr unterschiedlichen Motive der Anwahl oder Abwahl reden, aber den Untergang des Abendlandes sehe ich nicht direkt drohen aus dieser Konstellation.

Führer: Hm, Herr Olbertz, Sie sprechen von einer lebendigen und pluralen Schullandschaft. Wir hatten am Freitag den Bildungsökonom Manfred Weiß zum selben Thema im Radiofeuilleton im Gespräch, und ihm ging es mehr um eine lebendige und plurale Gesellschaft. Hören wir mal, was er gesagt hat zu dem Boom der Privatschulen.

Manfred Weiß: Die Segregationstendenzen könnten sich verstärken. Der gesellschaftliche Auftrag von Schule, zum Umgang mit Vielfalt zu befähigen, und das durch reale Erfahrungen in den Schulen, das wird zunehmend in Frage gestellt durch eine solche Entwicklung, wenn jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Ich denke, dass die Bildungspolitik aufpassen muss, dass ihre Bemühungen, die durch PISA aufgedeckten Chancenungleichheiten zu verringern, nicht durch ein expandierendes Privatschulsystem unterlaufen werden. Es kann nicht sein, dass unser Schulwesen die Spaltung der Gesellschaft funktional unterstützt. Das tut es, wenn Schule auf die Rolle eines Dienstleisters des Elternwillens reduziert wird.

Führer: Das sagte am Freitag der Bildungsökonom Manfred Weiß. Am Telefon ist weiterhin der Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, Jan-Hendrik Olbertz. Was sagen Sie dazu, Herr Olbertz?

Olbertz: Ich finde das sehr überzogen, muss ich sagen, denn was ist denn die Schlussfolgerung daraus? Ein ich sage mal jetzt monostrukturiertes, farbloses Angebotssystem, das sozusagen alle mit Demselben konfrontiert? Wir haben doch längst gelernt, dass wir nicht gleich sind, sondern höchst unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten, Potenziale, Interessen haben, und ich stelle mir eine lebendige, demokratische Kultur unserer Gesellschaft gerade durch Vielfalt vor und nicht durch das Gegenteil. Also, ich würde da widersprechen. Wir können gern über andere Sachen reden, wo man sich auch Sorgen machen kann, aber ich finde, diesen Trend … Im Übrigen, wir reden von Privatschulen, das klingt ja auch ein bisschen abschreckend, das sind konfessionelle Schulen, das sind Schulen, die über Vereine und Bürgerinitiativen getragen werden, das sind Konzeptschulen, die etwa anthropologisch arbeiten oder nach der Konzeption von Maria Montessori. Ich wüsste nicht, was ich vom Grundsatz her dagegen vortragen sollte.

Führer: Na, im Grundsatz gibt es ja eine neue Entwicklung, dass nämlich immer mehr renditeorientierte Anbieter, wie es in diesem Fall heißt, auf den Markt kommen und da hat ja zum Beispiel das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung festgestellt, dass diese neue Form der Privatschulen jede Chancengleichheit außer Kraft setzt.

Olbertz: Ja, da kommen wir jetzt bei ein paar Problemen an, die ich auch ernst nehme. Natürlich: In dem Moment, wo eine Sonderung der Eltern beziehungsweise der Kinder nach den Vermögensverhältnissen ihrer Eltern stattfindet oder sozusagen Geschäftemacher auf den Plan treten und ein ungeregelter Bildungsmarkt entsteht, in dem Moment erst würde ich mich den Kritikern anschließen. Aber vorher würde ich erst mal sagen: Ich wünsche mir ein breites Angebot, eine Palette von Möglichkeiten, aus denen man wählen kann, und ich erwarte, dass immer die Zugangsregelungen so beschaffen sind, dass neben den Leistungsvoraussetzungen auch die Möglichkeit besteht für Kinder aus weniger gut betuchten Elternhäusern, dann irgendeine Förderung zu erfahren, wie das die meisten seriösen Privatschulen ja auch machen.

Führer: Nun haben ja doch aber verschiedene Studien ergeben, Herr Olbertz, dass es sehr wohl eine Trennung gibt, also diese Vielfalt, von der Sie gesprochen haben, es wäre ja wünschenswert, wenn man die innerhalb einer Schulklasse finden würde, es sind aber die Bildungsbürger und die besserverdienenden Bildungsbürger, die vor allem ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Das heißt, den staatlichen Schulen bleibt, wie der "Spiegel" wenig charmant schrieb, der Rest.

Olbertz: Ja, gut, der "Spiegel" ist ja jetzt nicht für Charme zuständig, aber ich verstehe auch nicht ganz diese unterschwellige Polemik gegen die Bildungsbürger. Ich würde mir ein paar mehr davon wünschen, sofern es auch Verantwortungsbürger sind. Also, diese wirtschaftliche Frage – da kann ich Ihnen ja folgen und da muss man auch wirklich aufpassen, das ist auch eine Frage der Schulgesetzgebung der jeweiligen Länder, der Genehmigungsverfahren für private Initiativen. Insgesamt sehe ich dieser Entwicklung aber relativ gelassen entgegen, solange wie staatlich kontrolliert wird und bestimmte Anerkennungsrituale auch sichern, dass Qualität im Spiel ist. Ich mache mir ganz andere Sorgen, wenn Schulgründungen zum Beispiel aus spontanen Protestambitionen heraus entstehen oder diese Vermeidungsgründungen, wo man in einem ganz falschen Ansatz versucht, die Kinder vor der rauen Wirklichkeit zu schützen und sie in irgendwelchen Inseln zu isolieren. Ich würde lieber über Motive von Schulgründungen reden, als insgesamt diesen Sektor zu befehden. Das gefällt mir nicht.

Führer: Die Motive scheinen ja bei den neueren, sagen wir mal, Schulgründungen vor allem darin zu liegen, dass die Eltern für ihre Kinder bessere Chancen wollen, einen besseren Start.

Olbertz: Ja, und sollte man ihnen das allen Ernstes vorwerfen?

Führer: Nein, aber man kann doch dann vielleicht – sagen wir mal, mit Wolfgang Nowak, dem früheren Bildungspolitiker – den staatlichen Schulen vorwerfen, dass sie nicht in der Lage sind, den Wünschen der Eltern besser gerecht zu werden. Das nennt er einen Skandal.

Olbertz: Ich glaube nicht, dass das pauschal in dieser Weise stimmt. Wir haben ja sehr hervorragende, staatliche Schulen, die auch sehr erfolgreich arbeiten, das ist … immer noch die ganz große Mehrheit der Schulen werden durch den Staat verantwortet und arbeiten erfolgreich. Diese Kontrastierung, glaube ich, führt zu wechselseitigen Verdächtigungen und diskreditiert im Übrigen auch das Bemühen der jeweils in beiden Systemen beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer. Und da würde ich mich gern mal vor die stellen und erst mal die Ausgangshypothese wagen, dass die alle ihr Bestes tun und dass man dann schauen muss, dass man diese Vielfalt kultiviert, qualifiziert, aber eben auch bewahrt und nicht als ein Übel darstellt. Das hat der "Spiegel" so ein bisschen gemacht, fand ich.

Führer: Na ja, es findet ja eine Abstimmung mit den Füßen statt – raus aus den staatlichen Schulen, wer es sich leisten kann.

Olbertz: Ja, warum raus aus den staatlichen Schulen, warum nicht rein in alternative Angebote, die einfach besondere Profile entwickelt haben oder besondere Konzepte verfolgen? Ich muss mich ja auch jederzeit – im Handel und sonst wo – entscheiden, was ich wähle und was ich nicht wähle. Darin steckt ja noch nicht die Diskriminierung und Abwahl eines anderen Angebots, sondern ich suche für mein Kind das aus, was ich für das Beste halte. Ich würde mir mehr Eltern wünschen, die sich mit großer Sorgfalt an die Wahl der geeigneten Schule heranmachen, und das funktioniert nur, wenn ich auch ein Angebotsspektrum habe und einen gewissen Wettbewerb. Und ich muss gute Regeln haben, demokratische und ökonomische. Unter diesen Prämissen würde ich diese Entwicklung immer noch bejahen, die wir im Moment besprechen.

Führer: Herr Olbertz, ich möchte doch noch mal auf den Punkt zurückkommen, dass ja doch eine, sagen wir mal, soziale Homogenität an den meisten privaten Schulen herrscht. Das hat auch wieder das Max-Planck-Institut untersucht. Die Frage ist doch, was man da vielleicht gegen unternehmen könnte? So hat zum Beispiel eine Soziologin, Uta Meier-Gräwe, gefordert, dass Privatschulen einen Anteil von 30 Prozent Kindern aus schwierigen Verhältnissen aufnehmen müssen. Wäre das ein Vorschlag, mit dem Sie sich als Politiker anfreunden könnten?

Olbertz: Nein, ich kann den menschlich ganz gut verstehen, aber ich müsste dann diese Gruppe überhaupt erst konstituieren und definieren, ich müsste also eine verlässliche und auch rechtswirksame Aufteilung von Kindern aus einfachen und aus schwierigen Verhältnissen vornehmen. Das muss mir erst mal einer zeigen, wie ich das machen soll. Und dann würde diese Subgruppierung in der Schule natürlich eine merkwürdige Wirklichkeit bilden. Das wären dann die, die irgendwie möglicherweise andere Kleidung tragen müssen, damit sie auch erkennbar sind. Also, ich weiß nicht, ob solche Werkzeuge wirklich funktionieren.

Führer: Aber das ist doch Unsinn, das kann man doch nun vorher feststellen, wie hoch das Einkommen der Eltern ist und der Bildungsabschluss zum Beispiel.

Olbertz: Ja, aber Sie wissen doch ganz genau, dass das, was wir als Bildungsarmut bezeichnen, keineswegs immer nur mit Geld zusammenhängt. Ich kenne eine Menge von vernachlässigten Kindern und Jugendlichen, wo die Kontostände der Eltern gar nicht schlecht sind, auch die Workaholics haben Kinder und vernachlässigen sie, obwohl viel Geld da ist. Die kaufen sich von ihren Kindern sogar frei. Also, es ist sehr schwierig, eine solche Gruppe so sicher zu identifizieren, dass man Zugangsregeln für private Schulen daraus ableiten könnte. Und die Schule selbst muss doch inhaltlich, pädagogisch irgendetwas in ihrem Konzept haben, das diese Zielgruppe überhaupt rechtfertigt, denn der Sinn ist doch nicht nur, irgendeine Quote von Erwerbsschwachen aufzunehmen, sondern der Sinn einer Schule kann doch nur sein, genau diese Gruppe ganz besonders und gezielt zu fördern. Also würde ich auf das Konzept gucken und nicht auf eine formale Quote.

Führer: Professor Jan-Hendrik Olbertz, Kultusminister in Sachsen-Anhalt, über den Boom von Privatschulen in Deutschland, den er gelassen sieht. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Olbertz!

Olbertz: Ja, ich danke Ihnen auch!