Kulturwissenschaftler Joseph Vogl

Wie Internetkonzerne den öffentlichen Raum privatisieren

08:28 Minuten
Aktienhändler in New York
Börsenmakler und Anleger ließen Konzerne wie Google und Facebook mächtig werden, sagt Joseph Vogl. © picture-alliance/newscom/John Angelillo
Moderation: Ute Welty  · 04.01.2020
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Es ist zu viel billiges Geld im Umlauf: Das sagt der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl und beklagt eine Entwicklung des Finanzkapitals, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt – und die auch den klassischen Journalismus gefährdet.
Ute Welty: Spätestens in der Finanzkrise haben wir uns mit dem Finanzkapitalismus beschäftigen müssen. "Too big to fail" war da das Stichwort, zu groß der Einfluss der Finanzmärkte auf die real existierende Wirtschaft, um einen Zusammenbruch tatsächlich riskieren zu können. Inzwischen ist die Wirtschaft einem zweiten Einfluss ausgesetzt, dem Plattformkapitalismus, da geht es dann um die Macht der großen Internetkonzerne.
Joseph Vogl schreibt an einem Buch über den Zusammenhang. Er ist Inhaber eines Lehrstuhls für neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Literaturwissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Medienwissenschaftler – wie kommt man auf die Idee, sich mit den verschiedenen Formen des Kapitalismus auseinanderzusetzen?
Vogl: Ich glaube, die Frage müsste fast umgedreht werden: Wie kommt man dazu, sich nicht damit auseinanderzusetzen? Seit dem 18. Jahrhundert ist eines der wichtigsten Themen der Literatur tatsächlich die Ökonomie. Autoren wie Daniel Defoe oder Goethe haben nicht nur selbst ökonomische Professionen betrieben, sondern sich in zentralen Texten auch immer wieder mit der zeitgenössischen Ökonomie beschäftigt.
Das geht bis in die Gegenwartsliteratur. Das jüngste Faszinosum ist natürlich die Spekulation, der Börsenhandel, es sind Crashs et cetera als höchst dramatische und höchst narrative Ereignisformen.
Welty: Der Arbeitstitel Ihres Buches lautet "Kapitalismus und Ressentiment". Erinnert so ganz kurz an "Stolz und Vorurteil" oder "Verstand und Gefühl". Was wollen Sie genau herausfinden?
Der Philosoph Joseph Vogl
Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl ergründet das Wesen des Kapitalismus. © Deutschlandradio / Torben Waleczek
Vogl: Mich interessiert in letzten Konsequenz der Zusammenhang zwischen jüngsten Veränderungen, man könnte auch sagen Mutationen, des Finanzmarktkapitalismus auf der einen Seite und der Entstehung von autoritären Strukturen auf der anderen Seite, zu denen natürlich auch so etwas wie ressentimentale Politik gehört.
Welty: Inwieweit bedingen sich Finanzkapitalismus und Plattformkapitalismus gegenseitig und inwieweit lässt sich diese moderne, diese Hybridform von Kapitalismus überhaupt noch kontrollieren?

Die Privatisierung des Internets

Vogl: Also ein erster Punkt wäre tatsächlich die Entstehung der modernen elektronischen Börsen, das sind in letzter Konsequenz die ersten Modelle oder Vorbilder für Plattformunternehmen, so etwas wie die New Yorker "Nasdaq" beispielsweise, die als Informationssystem für Wertpapiermakler begonnen hat und in den 90er-Jahren dann zu der größten, auch weltweit größten Börse geworden ist. Das ist ein wichtiger Start, und der zweite Start besteht in der Privatisierung des Internets, die auch im Laufe der 90er-Jahre passiert ist.
Es gab ein sehr einschneidendes Gesetz von 1996, das zwei Elemente enthielt: Auf der einen Seite die Privatisierung der Netzkommunikation, wenn Sie so wollen der Gnadenstoß gegen öffentliche Netzbetreiber. Auf der anderen Seite die klare Unterscheidung zwischen "Publisher", man könnte sagen Verlagshäuser, auf der einen Seite und bloße "Provider" auf der anderen Seite. Von diesem Zeitpunkt an sind eben Plattformunternehmen nicht mehr für den Content verantwortlich, sind nicht verantwortlich im Sinne des Presserechts.
Es kommt, wenn ich das noch dazusagen kann, ein letzter Aspekt dazu: Wir haben es nämlich spätestens seit den 1990er-Jahren, aber insbesondere auch nach 2000 mit Finanzkrisen zu tun, die man Akkumulationskrisen nennen kann. Es ist zu viel Geld im Umlauf, wir sehen es auch heute, zu viel billiges Geld im Umlauf.
Dieses Geld sucht nach neuen Anlagemöglichkeiten. Und diese neuen Anlagemöglichkeiten findet man nicht nur in Immobilienmärkten, wie man es hier überall auch in Berlin spürt, sondern man sucht nach neuen Wertschöpfungsmöglichkeiten. Da boten die Plattformunternehmen eine überaus intelligente Form für die Investition von Finanzkapital.

"Wer publiziert ist nicht verantwortlich"

Welty: Dieses Urteil, das Sie angesprochen haben, das den Unterschied macht zwischen Publishern und Providern, welche Folgen hat das bis heute für die Medienlandschaft?
Vogl: Man könnte das als Paradox formulieren und könnte sagen, wer publiziert ist nicht verantwortlich und wer Content liefert, publiziert nicht. Und die Konsequenz ist schlichtweg, dass jede Plattform, die ihren Inhalt redaktionell bearbeiten will, verantwortlich gemacht wird für diesen Inhalt. Und alle Plattformen wie zum Beispiel Facebook, die das nicht tun, nie eine Klage wegen Verleumdung erhalten werden. Damals war das tatsächlich die Voraussetzung dafür, die technische und ökonomische Entwicklung von Plattformen gewissermaßen rechtlich zu ermöglichen. Damals war allerdings noch nicht absehbar, dass das neue Monopolunternehmen, wie Google, wie Facebook, hervorgebracht haben könnte.
Welty: Wer trägt denn dann noch Verantwortung für die Inhalte?
Vogl: Sie wissen, es gibt allenfalls Kompromisslösungen, also beispielsweise – aber auch das ist einigermaßen prekär – dass diese Unternehmen, wenn sie sich darauf einlassen, eventuell Schiedsgerichte anbieten, private Schiedsgerichte, um bestimmten Content zu entfernen. Ganz wesentlich aber ist, dass hier eine radikale Privatisierung des öffentlichen Raums stattfindet.

Journalismus im Hintertreffen

Welty: Und der klassische Journalismus, wo bleibt der?
Vogl: Der Journalismus ist tatsächlich zum Wirtstier geworden, denn die News, die eingestellt werden auf Facebook beispielsweise, stammen größtenteils auch aus klassischen Publikationsorganen und können dort ohne weitere rechtliche Auflagen publiziert werden.
Auf der anderen Seite, glaube ich, kann man bemerken, dass traditionelle Redaktionen, das heißt Redaktionen, die Journalismus, Investigation, Reportagen und damit Dinge betreiben, die zeit- und geldintensiv sind, dass die mehr und mehr unter Druck ihrer Onlineredaktionen geraten. Um ein Beispiel zu nennen, die "Spiegel Online"-Redaktion hat ihre größten Klickzahlen im Bereich der Wellness und im Bereich des Sports.
Welty: Jetzt ist es an Ihnen, diese verschiedenen Fäden zusammenzubringen, deren Verlauf wir ja nur haben skizzieren können. Wo setzen Sie dann da an und mit wie vielen Seiten rechnen Sie am Ende?
Vogl: Man rechnet nie mit den Seiten am Ende, so wenig, wie man mit dem eigenen Absterben rechnet. Ich würde auch da für ein offenes Buch plädieren. Ich bin nicht sicher, ob dieses Projekt intellektuell tatsächlich vollendet werden kann. Im Augenblick ist das nichts anderes als der Versuch, einige Dinge mir selbst klarzumachen, die nicht so selbstverständlich sind. Aber vielleicht kann ich zwei oder drei Dinge dazu noch bemerken.
Miniaturfiguren stehen vor einer Börsenkurve
Die Fusion von Finanz- und Informationsökonomie habe Folgen für alle Bereiche der Gesellschaft, sagt Joseph Vogl.© picture-alliance/dpa/Mascha Brichta
Das Erste ist tatsächlich mit der These verbunden, dass Plattformunternehmen nicht einfach ein neues Geschäftsmodell sind, sondern tatsächlich ein letzter Schritt in der Veränderung, der Metamorphose des Finanzkapitals. Zweitens trifft es nicht einfach nur einen ökonomischen Sektor, der in den Vereinigten Staaten im Grunde nicht mehr als sieben Prozent der Wirtschaftsleistung beträgt, sondern es betrifft eine Ökonomie, die sich aus der Fusion von Finanz- und Informationsökonomie hergestellt hat und die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt, das heißt alle ökonomischen, alle sozialen, alle politischen Bereiche.

"Eigentümliche Universalisierung des Maklerwesens"

Anders formuliert: Das, was man heute Digitalisierung nennt, ist nichts anderes als die Kapitalisierung dieses Netzwerkes. Das führt dazu, dass man diese Unternehmen als eine eigentümliche Universalisierung des Maklerwesens begreifen kann, was einstmals die Börsen gewesen sind.
Und das heißt, Börsengeschäfte, in denen keine Produkte, sondern nur Preise gehandelt werden, werden gewissermaßen universalisiert und treffen heute den Meinungsmarkt. Unternehmen wie Google oder wie Facebook sind Meinungsmärkte und repräsentieren die Gleichschaltung von Marktgesetzen und Gesetzen der öffentlichen Meinung.
Welty: Wobei Gleichschaltung ja durchaus ein besetzter Begriff ist, aber den, nehme ich an, benutzen Sie bewusst.
Vogl: Der ist mir bewusst entrutscht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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