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Brexit-Debatte
Furcht vor dem Festland ist "vollkommen paradox"

Die Historikerin Claudia Schnurmann hält die Argumente für eine Abkopplung Großbritanniens von der EU für wenig plausibel. Zwar habe sich England in der Geschichte immer schon über Abgrenzung definiert, sagte sie im Deutschlandfunk, allerdings sei das Land nur durch den Handel mit Europa zu der Weltmacht geworden, nach der sich die Brexit-Befürworter jetzt zurücksehnten.

Claudia Schnurmann im Gespräch mit Änne Seidel | 12.06.2016
    Blick auf den französischen Küstenort Trouville-sur-Mer mit Häusern, Hafen, Strand und Meer
    Vom Ort Trouville-sur-Mer in der Normandie kann man auf den Ärmelkanal hinaussehen, auf dessen anderer Seite Großbritannien ist. (imago / Jürgen Ritter)
    Die alten Ideale habe es in dieser Form nie gegeben, sagte Schnurmann im DLF: "Man träumt so von der Weltmacht Großbritannien, die natürlich existent war, aber diese Weltmacht ist nur Weltmacht geworden, weil sie im steten Austausch mit ihren Nachbarn stand."
    Dass die Brexit-Befürworter glaubten, durch Abgrenzung von Europa habe man einen stärkeren Einfluss auf die Welt und sie bringe die Rückkehr zu altem Glanz und Gloria, hält Schnurmann, die an der Universität Hamburg lehrt und forscht, für unverständlich. "Ich glaube, das ist auch so ein bisschen Wunschdenken." Im sogenannten imperialen Jahrhundert ab 1815 sei man da schon weitergewesen, da wussten die Briten, dass sie dem Kontinent viel zu verdanken hatten. Man beschimpfte ihn zwar, aber man konnte besser miteinander umgehen als heute in einigen Kreisen innerhalb Großbritanniens. "Das ist eigentlich erschrecken, dass der Fortschrittsgedanke, dass dieser Lerneffekt im Moment ein bisschen stottert", sagte sie im Deutschlandfunk.
    "Diese splendid isolation ist im Grunde eine Schimäre, die man nie wirklich hat durchsetzen können. Das funktioniert einfach nicht bei einem Staat, der so sehr in seiner Machtentwicklung, in seinem Selbstverständnis auf die Kooperation mit anderen Staaten angewiesen ist", so Schnurmann. "Es hat nie funktioniert, dass Nationalstaaten sich abschotten können. Dafür sind die Zusammenhänge, die Abhängigkeiten, die Interdependenzen viel zu groß."
    Blick von der Seite auf die mittelalterlichen Mauern des Klosters Battle Abbey in Battle bei Hastings in East Sussex, aufgenommen im Februar 2005.
    Blick von der Seite auf die mittelalterlichen Mauern des Klosters Battle Abbey in Battle bei Hastings in East Sussex. (picture alliance / dpa / Daniel Sambraus)
    1000 Jahre alte Ängste
    Schnurmann führte die jahrhundertelange Angst vor dem Einfluss Europas unter anderem auf die Schlacht von Hastings im Jahr 1066 zurück, in der die französischen Normannen unter Herzog Wilhelm England eroberten. "Daraus könnte man das Moment ableiten, seit dem in England eine kollektive Furcht vor der Übernahme vom Kontinent existiert. Es ist völlig irrational, dass man also aus diesen historischen Erfahrungen heraus glaubt, dass Europa England bedroht", sagte Schnurmann im DLF.
    Es gäbe einige andere Zäsuren, die das Verhältnis Großbritanniens zu Kontinentaleuropa bis heute prägten. Dabei werde vergessen, dass sich solche Übernahmen durchaus auch positiv für England ausgewirkt hätten. So habe die normannische Übernahme das gesamte Gesellschaftssystem verändert, weil sich dadurch das europäische Lehnswesen in England festgesetzt habe. Auch Sprache und Küche seien durch die Normannen positiv beeinflusst worden. Ebenso die "three lions" im englischen Wappen, die vermutlich vom Wappen der Normandie abstammten.
    England habe außerdem seinerseits Einfluss auf den Kontinent genommen. Es habe Personalunionen zwischen dem englischen Königshaus und dem Haus Hannover gegeben, England sei maßgeblich für die Entstehung und Entwicklung des Staates Belgien verantwortlich, habe als Besatzungsmacht in Deutschland Europas Nachkriegsordnung mitgeprägt. "So was wird vollkommen übersehen oder vergessen oder verdrängt", sagte Schnurmann.