kulturSchock – ein satirischer Jahresrückblick 2014

"Wir sind eine Multi-Fruchtgesellschaft"

Obst und Gemüse auf einem Wochenmarkt
Einige Obstsorten hier haben ganz klar einen Migrationshintergrund. Die deutsche Leitkochkultur schwört lieber auf Kartoffel (hinten) und Himbeere (links). © dpa / picture alliance / Hinrich Bäsemann
27.12.2014
Kennen auch Sie Leute, die Gemüse essen? Sieben Millionen Menschen ernähren sich inzwischen ohne Fleisch. Damit leben in Deutschland genauso viele Vegetarier wie Ausländer. Im satirischen Jahresrückblick fragen wir: Droht uns die Überfruchtung? Dazu ein Zwischenruf von Anton Hofreiter.
Der kulturSchock für das Jahr 2014 klärt auf. Mit freundlicher Ehrlichkeit steuern wir in die Knautschzonen der Gesellschaft und bietet allen Hörern die Chance auf ein exklusives Meet & Greet mit dem Berlinale-Schal von Dieter Kosslick. Er hat viel zu erzählen über 13 Jahre Regen und Kälte.
Einschalten lohnt sich. Auch für gewaltbereite Musiker. Wir debattieren die Möglichkeiten, sie stärker im Deutschlandradio Kultur einzubinden, damit Gema-Einnahmen und Selbstwertgefühl steigen, und sie weniger Gründe haben, im Irak für irgendwas kämpfen zu müssen.

Anton Hofreiter nimmt Stellung zu den jüngsten Anti-Frucht-Protesten in Deutschland. Hierzulande leben inzwischen genauso viele viele Vegetarier wie Ausländer. Droht uns nun die Überfruchtung? Der Fraktionsvorsitzende der Grünen mit einem Zwischenruf.
Anton Hofreiter, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
Anton Hofreiter, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen© dpa / picture alliance / Soeren Stache
Es ist ein grauer Wintermontag. Im verregneten Dresden demonstrieren erneut tausende besorgte Bürger. Viele fühlen sich in ihrer eigenen Küche nicht mehr sicher. Sie haben Angst vor der Überfruchtung Deutschlands. Sie nennen sich BEGEVA: Besorgte Essensschützer gegen die Vegetarisierung des Abendbrotes.
BEGEVA fürchtet sich vor dem Verfall der deutschen Tischsitten und fordert: Fleischzwang für straffällig gewordene Vegetarier, Gleichberechtigung für Antibiotika-Fleisch und ein Ende des absurden Gemüse-Mainstreamings.
Am meisten Angst haben die BEGEVA-Anhänger vor den sogenannten Salatisten – radikale Veganer, die sich ausschließlich von Blattgemüse ernähren.
Auf der Demo marschieren bullige Männer mit rasierten Schädeln, so glatt wie Schweinehintern, demonstrieren neben gesetzten Herren mit Mett-Igeln an der Leine. Sie alle sehnen sich nach einer deutschen Leitkochkultur, wo das Schnitzel als Keimzelle unserer Gesellschaft wieder im Mittelpunkt eines jeden Gerichtes steht, wo eine Parallel-Esskultur nicht geduldet wird.
Kochbüchern vertrauen diese Wurst-Bürger schon lange nicht mehr. Die seien alle gesteuert vom geheimen Vegetarier-Bund oder, noch schlimmer, den veganen Freimauern. Lieber schauen sie Rouladen-Today, einen Sender, der zeigt, was alle denken: So blutig geht es in Schlachthöfen gar nicht zu. Alles nur vegane Propaganda.
Ein älterer Mann schimpft am Rande der Demo: "Ich habe ja nichts gegen diese Früchtchen. Ich kenne auch Leute, die Gemüse essen. Aber in einer Stadt voller Gemüseläden und Vegetarier-Restaurants fühle ich mich einfach nicht mehr zu Hause. Ich vermisse den guten alten Wienerwald. Da habe ich meine Frau kennengelernt."
Die AfD nennt die Forderungen der besorgten Fleischesser gut und richtig. AfD-Chef Bernd Lucke sagt: "Die Obstschale ist voll. Wir sind nicht die Biotonne der Welt. Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen." Aber die Wahrheit ist: Die AfD ist nur eine Pflaume, selbst der Speckmantel fehlt.
Die anderen Parteien streiten heftig über den richtigen Umgang mit BEGEVA. Innenminister de Maizière fordert eine Vegetarierdatenspeicherung. Die CSU kämpft mit der vegetarierfeindlichen AfD um die Lufthoheit an den verbliebenen Fleischtheken. Ihr Angebot: die Herd-Prämie für Fleischgerichte. Zusätzlich fordert Verkehrsminister Alexander Dobrindt eine Sonder-Maut nur für Obsttransporter. Und CSU-Generalsekretär Scheuer will, dass zu Hause nur noch deutsch gegessen wird.
Nach Protesten rudert die Partei der Schweinshaxn wieder zurück. Denn schließlich kommt die Kartoffel aus Südamerika und die Kastanienbäume in den Biergärten aus Kleinasien – also aus der Türkei! Ja, kruzifix, kommt denn gar nix mehr von hier!
Frieden stiftet Alfons Schuhbeck, der feststellt, dass wir eine Multi-Fruchtgesellschaft sind. Auch Banane, Orange oder Mango gehören zu uns. Und nicht nur das gescheite Schnitzel.

143 aufgestellte Baumstämme in der oberen Glashalle der Neuen Nationalgalerie in Berlin - die Installation "Sticks and Stones" des britischen Architekten David Chipperfield.
143 aufgestellte Baumstämme in der oberen Glashalle der Neuen Nationalgalerie in Berlin - die Installation "Sticks and Stones" des britischen Architekten David Chipperfield.© dpa / picture alliance / Stephanie Pilick

Die Neue Nationalgalerie macht ab Januar für fünf Jahre dicht und wird generalsaniert. Bis dahin bespielt David Chipperfield den wichtigsten Ort für zeitgenössische Kunst in der Hauptstadt. Er hat in den Hallen für seine Ausstellung "Sticks and Stones" mehr als hundert Baumstämme aufstellen lassen. Wie Daniel Sprenger berichtet, ist das Konzept offenbar gestohlen.

Bäume in Reihe, Stämme in loser Folge, Kronen als verbindendes Element: Das Niendorfer Gehege im Norden Hamburgs ist eine Installation mit gigantischen Ausmaßen. Auf mehr als 140 Hektar breitet sich hier das Werk mit dem simplen Titel "Wald" aus. Sven Wurster ist einer der Ausstellungsmacher dieses Mammutprojektes:
"Wir haben im Wald von winzig kleinen Pflänzchen bis hin zu einem großen richtig alten Baum alles. Die Natur ist da wirklich sehr kreativ."
Millionen Einzelobjekte in scheinbar wahlloser Anordnung – letztlich ein Abbild der Menschheit in einer immer schnelllebigeren Zeit. Der Einzelne verliert sich in der Masse, Aufmerksamkeit nur noch für die Extreme.
So wie bei der 1750 gepflanzten Buche. Ihr strebsamer Drang nach Größe beeindruckt. Ihre Standhaftigkeit schürt Sympathie. Man will ihn umfassen, man will ihn spüren, diesen Methusalem des Waldes, diesen Abraham des Arboretums. Dabei lässt die Empfindung der harten Schale auf einen weichen, warmen Kern schließen:
"Fassen Sie diese Buche an, und wenn Sie ganz sensitiv sind, spüren Sie auch, dass dieser Baum Körpertemperatur hat. Das wurde natürlich gemessen, dass der Baum 0,5 bis ein Grad höhere Temperatur hat als die Umgebung. Wir können also sagen, der Baum hat eine Körpertemperatur."
Von der Hitze des Holzes bis zum Wogen der Wipfel: Das Gewaltige, Monumentale kommt im Niendorfer Gehege auf zurückhaltendem Wege daher, nicht übertrieben gewollt, sondern ganz natürlich gewachsen:
"Es gibt solche Buchen, die eine solche Dimension haben und eine Stärke haben, dass sie um das Blätterdach dichtmachen. Dann spricht auch der Förster tatsächlich von einem Hallenbestand, weil auch die Intention, die dahintersteckt, ist: Ich mach das Licht oben so dicht, dass ich keine Konkurrenz unter mir dulde."
Keine Konkurrenz. Die stärksten Bäume sind sich selbst genug. Teile und herrsche. Die in Holz gehauene Inkarnation von Darwins "Survival of the Fittest". Doch nicht nur das potentiell Gewalttätige liegt hier verborgen. Auch der Keim des Göttlichen ist quasi inhärent:
"Das Licht scheint dann teilweise durch. Manchmal erinnert das natürlich auch an Kathedralen, die das dann versucht haben, mit ihren Glaskonstruktionen da so dieses Licht aufzufangen, das finden Sie als Vorbild tatsächlich in so einem wunderschönen Buchenwald. Wenn da morgens die Sonne aufgeht, die Sonne strahlt herein, da sehen Sie dieses... man nennt es ja auch Gotteslicht."
An diesem grau-düsteren Wintertag mit leichtem Regen und feucht-matschigem Untergrund bleibt dieses ungeheure Potenzial jedoch im Ungefähren. Die Ausstellungsmacher um Sven Wurster haben bewusst wechselnde saisonale Akzente gesetzt. Besucher sollen schließlich ganzjährig kommen. Erst im Frühling bietet die Werkschau beleuchtete Objekte:
"Dann sind die Blätter so ganz giftgrün, so hellgrün, durchsichtig grün, und dann nehmen wir so einen Ast, nehmen die Blätter und essen einfach mal eine Buche. Kann man einfach in den Mund stopfen, kann man aber auch richtig sammeln und einen kleinen Salat machen. Schmeckt hervorragend!"
Ein überraschendes und zugleich befremdliches Element, diese lukullische Komponente von "Wald". Doch befremdlich auch nur für den, der nicht bereit ist, sich diesem Werk mit allen Sinnen hinzugeben.

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