Kulturpresseschau

Menschliches und Digitales

Die Rentnerin Hildegard Weide, Jahrgang 1912, und andere Bewohnerinnen des "Cyber-Hauses 2.0" der Wohnungsbaugenossenschaft "Otto von Guericke" in Magdeburg testet einen Tablet-Computer.
"Der Weg ins Licht führt nur über die totale Hingabe des Selbst an das Digitale", schrieb Thomas Hüetlin im Spiegel, um für Dave Eggers' Roman "Der Circle" zu werben. © picture alliance / dpa
Von Tobias Wenzel · 09.08.2014
Viel Stoff zum Aufregen boten die Feuilletons ihren Lesern in der vergangenen Woche: menschliche Geburten in freier Wildbahn, eine Art "Mein Kampf"-Rezension und seitenweise Lobeshymnen auf Dave Eggers neuen Roman "Der Circle".
"Mir war stets beigebracht worden, Koketterie habe als Vergehen zu gelten; in Italien erfuhr ich das genaue Gegenteil."
Die Feuilleton-Woche versprach, so unschuldig wie dieser Satz zu beginnen, der am Montag in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zu lesen war. Ein Satz aus den nun wieder auf Deutsch vorliegenden "Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover". Hans Pleschinski zitierte vergnügt aus dem Buch und Sophies feinen Charakterstudien:
"Der gute Mann wollte immer etwas Außergewöhnliches sagen, um an der Konversation teilzuhaben, und so äußerte er eines Tages einmal, wenn er nur wolle, könne er sogar an nichts denken. Er schloss die Augen und sagte: Jetzt denke ich an nichts."
Einfach mal das Nichts genießen, das Hirn ins Sommerloch plumpsen lassen – das wäre schön gewesen. Aber dann das: Sieben Tage Feuilleton voller scheinbarer und tatsächlicher Zumutungen, für die ich mich schon jetzt bei Ihnen entschuldigen möchte.
Wilde Wehen und Schlangekotze
Melanie Mühl warnte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vor den Gefahren einer menschlichen Geburt in freier Wildnis. Schwer zu sagen, was da bedrohlicher wirkte: dass der Fernsehsender "American Life" eine Realityshow namens "Born in the Wild" plant oder dass ausgerechnet Melanie Mühl, die nach eigenen Angaben froh ist, keine lästigen Kinder zu haben, nun die besorgte Hebamme des deutschen Feuilletons gibt.
Jens Balzer berichtete für die BERLINER ZEITUNG von einem Hardcore-Punk-Festival im Berghain. Da spielten Bands mit Namen wie Perfect Pussy und Piss. Letztere gaben Lieder zum Besten, die übersetzt "Ruhe im Urin" und "Schlangenkotze" heißen.
Helmuth Kiesel erzählte in der FAZ von seiner Ferienlektüre:
"So legte ich [...] zu den Büchern, die mich in den Urlaub nach Sardinien begleiten sollten, jenes Exemplar von 'Mein Kampf', das meine Schwiegereltern zu ihrer Hochzeit am 20. März 1942 erhalten und als historisches Dokument aufbewahrt hatten [...].“
Literaturwissenschaftler: "Hitler kein Stümper"
Kiesel ist allerdings kein Nazi, sondern ein ehrbarer Literaturwissenschaftler aus Heidelberg, der nur wissen wollte, ob "Mein Kampf" wirklich so schlecht geschrieben ist, wie Lion Feuchtwanger, Karl Krauss und andere behaupteten, und ob von dem Buch, dessen kommentierte Ausgabe das Land Bayern nun wohl doch verhindern will, überhaupt noch eine Gefahr ausgeht.
Im Urlaub schlug Kiesel "Mein Kampf" "in das schwarz-goldene Hochglanzpapier eines Luxusuhrenmagazins" ein, so unwohl war ihm bei dem Gedanken, damit am Strand ertappt zu werden. Kiesels Fazit: Hitler sei zwar ein Hetzer und Lügner gewesen, aber literarisch "kein Stümper“. Vielmehr habe er "über ein breites Register an rhetorischen und stilistischen Mitteln" verfügt, mit dem er "Bewunderung" bei seinen Lesern hervorgerufen habe. Der Wirkungskraft von "Mein Kampf" könne man heute nur offensiv begegnen: mit "Aufklärung und Entlarvung" und einer kommentierten Ausgabe.
Von der Mitschuld der Antisemiten am Leid der Palästinenser
"Keiner gebrauchte den Elativ so souverän wie unser Adi" –
wie beruhigend wäre es gewesen, wenn das jüngst in Berlin skandiert worden wäre und nicht: "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!"
"Ich bin Jude", schrieb in der FAZ Jason Stanley, dessen Familie einst in Berlin diskriminiert, aus Deutschland vertrieben wurde. "Ihren Rufen, herauszukommen, um mit Ihnen zu kämpfen, werde ich nicht nachkommen."
Von seinem Vater habe er gelernt, Israels Politik kritisch zu hinterfragen und sich in die Lage der Palästinenser hineinzuversetzen. Schließlich wendete sich Stanley noch einmal direkt an die antisemitischen Demonstranten:
"Wenn Sie auf den Straßen der Hauptstadt Hitlers stehen [...] und den Juden drohen, so stärken Sie nur jene Kräfte, die keine Gnade walten lassen wollen. So machen Sie sich letztlich mitschuldig an den Bomben, die in Schulen und in Krankenhäusern landen."
Alles redet über Dave Eggers' "Der Circle"
"Der Weg ins Licht führt nur über die totale Hingabe des Selbst an das Digitale“,
schrieb Thomas Hüetlin im SPIEGEL. Da konnte man sich schon fragen: Welche Sekte hat dem denn das Hirn gewaschen? Aber Hüetlin wollte mit seinen Worten nur dem Leser die Welt des Buchs "Der Circle" von Dave Eggers näher bringen.
„Eggers liefert den Roman für den internetkritischen Diskurs, satirisch, lakonisch, bisweilen brillant“,
fand Hüetlin. Die Hauptfigur ist Mae, eine Frau, die für einen "totalitären Superkonzern" arbeitet, der "Ähnlichkeiten mit Google, Facebook und Amazon" aufweise. Mae und ihre Kollegen geben ihre Privatsphäre auf, lassen sich von Kameras, die sie sich um den Hals hängen, von aller Welt über das Internet beobachten. "Geheimnisse sind Lügen, alles Private ist Diebstahl" sei die Losung des Superkonzerns.
Die WELT veröffentlichte ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen des Romans. Und die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG hat gleich das gesamte Feuilleton freigeräumt: für zehn Artikel über das Buch und ein Interview mit Eggers.
TAZ über Eggers' Roman: Unglaublich schlecht
Dirk Knipphals fühlte sich angesichts der hymnischen Besprechungen des Romans an das "Märchen um des Kaisers neue Kleider" erinnert. Auch er hätte sich einen "tiefgreifenden analytischen Roman über die Gefahren der digitalen Welt" gewünscht, schrieb Knipphals in der TAZ, aber der sei das Buch von Dave Eggers ganz sicher nicht:
„Denn nicht nur sind die Figuren zu flach. Der Roman ist auch unglaublich schlecht und klischeehaft geschrieben.“
Ein historischer Tiefpunkt sei die darin geschilderte Sexszene:
"'Mae', sagte er, als sie ihn so tief aufnahm, dass sie seine geschwollene Spitze irgendwo nah ihrem Herzen spüren konnte."
So beschämend und schamlos sollte man nicht enden. Drum zum Schluss noch ein jugendfreier Satz aus den Memoiren der sittsamen wie scharfsinnigen Kurfürstin Sophie von Hannover:
"Meine Heiterkeit wurde nur manchmal durch größere Anfälle von Frömmigkeit gestört."
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