Kulturgeschichte des Stinkefingers

"Was Schlimmes, Aggressives, Sexuelles"

Die US-Sängerin Madonna reckt bei einem Auftritt während ihrer "Sticky and Sweet Tour" im Juli 2009 in Madrid beide Mittelfinger in die Höhe.
Die US-Sängerin Madonna bei einem Auftritt während ihrer "Sticky and Sweet Tour" im Juli 2009 in Madrid. © picture alliance / dpa / efe J.j. Guillen
Reinhard Krüger im Gespräch mit Ute Welty · 09.04.2016
Vulgäre Beleidigung, Zeichen von Potenz und Verachtung: Von der Antike bis zu Varoufakis sichert der gereckte Mittelfinger maximale Aufmerksamkeit. Romanistikprofessor Reinhard Krüger hat eine Kulturstudie zur Schmäh-Geste vorgelegt und erklärt, warum sie "automatisch und sofort" wirkt.
Der Romanist und Gestenforscher Reinhard Krüger erklärt die Wirksamkeit der vulgären Schmäh-Geste des gereckten "Stinkefingers" mit ihrer klaren Signalwirkung als sexuelles Symbol. Selbst jene, die in die Bedeutung nicht eingeweiht seien, spürten sofort, auch bei unterschiedlichsten Varianten, "das ist was ziemlich Aggressives, Schlimmes, Sexuelles ", sagte Krüger im Deutschlandradio Kultur über die Wirksamkeit der Geste des gestreckten Mittefingers und dessen Bedeutung als vulgär-obszöne Beleidigung. Deswegen wirke die Geste "automatisch und sofort."

Repräsentation des erigierten Penis

Als Repräsentation des erigierten Penis sei der ausgestreckte Mittelfinger in schriftlichen und bildlichen Quellen der griechisch-römischen Antike nachgewiesen. Das Zeigen des Phallus zur Artikulation von Dominanzverhalten wiederum sei auch aus Darstellungen archaischer Gesellschaften etwa der Bronzezeit nachweisbar und selbst unter nicht-menschlichen Primaten üblich: "Um zu zeigen, wer hat den Größeren und wer beansprucht was", erklärte der Autor des im März erschienenen Buches "Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste."
In der griechischen Antike tauche der der schlimme Finger nachweislich zum ersten Mal schriftlich auf: In Aristophanes' Komödie "Die Wolken" werde sie von einem Bauern in ihrer beleidigenden Funktion genutzt. Weitere Belege fänden sich bei den römischen Dichtern Petronius Arbiter, Catull und Martial. Erste bildliche Darstellungen zeigten einen römischen Gladiator, der zusätzlich zum Schwertangriff auch den Mittelfinger als aggressive Geste gegen seinen Gegner ausstrecke. Vermutlich habe die Bündelung von Aggressivität zum Berufsimage eines Gladiatoren gehört, so Krüger, der an der Universität Stuttgart den Lehrstuhl für Romanische Literaturen innehat und sich bereits seit Jahren mit der Kulturgeschichte von Gesten beschäftigt.

Renaissance ab den 1950er-Jahren

Unterschiedliche Varianten der Geste führt der Romanist auf die bis heute wirkende griechisch-römisch-germanische Kulturgrenze zurück. So werde bei der griechisch-römischen Variante nicht nur der Mittelfinger ausgestreckt, sondern die beiden danebenliegenden Finger "so geformt, als würden sie die Hoden repräsentieren." Nördlich der Alpen werde der Rest der Finger zur Faust geballt.
Eine Renaissance nach fast tausendjähriger Abwesenheit lasse sich ab den 1950er-Jahren nachweisen: Vor allem Schauspieler und Größen der Rock- und Popmusik nutzten den Mittelfinger. Hollywood-Diva Elisabeth Taylor habe den Finger als Geste aggressiver Verachtung mit Vorliebe allen gezeigt, die sie fotografieren wollten. Madonna habe mit dem provokativen Einsatz des Mittelfingers im Mund der Öffentlichkeit letztlich auch wieder klargemacht "was dieser Mittelfinger eigentlich ist," sagte Krüger.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Ob Rockstar, Fußballprofi oder Politiker – wer den Stinkefinger zeigt, der muss mit Ärger rechnen, denn den Mittelfinger zu erheben in der Absicht, Verachtung auszudrücken, erfüllt den Tatbestand der Beleidigung, und das kann bis zu 4.000 Euro teuer werden. Insofern ist es ein kostbares Buch, das Reinhard Krüger jetzt veröffentlicht hat. Reinhard Krüger ist nämlich Romanist, Universalist und Gestenforscher in Stuttgart, und auf 176 Seiten hat er sich mit dem Stinkefinger beschäftigt. "Eine kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste". Guten Morgen, Herr Krüger!
Reinhard Krüger: Schönen guten Morgen!
Brink: Auf den 176 Seiten findet sich, wie sollte es bei dem Thema anders sein, zahlreiche Abbildungen – ist Ihr Buch also eher ein Bilder-, denn ein Lesebuch?
Krüger: Es ist beides. Es ist natürlich einmal auch ein Bilderbuch mit teilweise bekannten, also gerade zu Emblemen dieser Geste gewordenen Fotos, und auf der anderen Seite natürlich der Versuch, die Verschiedenartigkeit der Konstellationen, in denen diese Geste artikuliert worden ist, aber auch die verschiedenen Formen dieser Geste jeweils aus einem sowohl aktuellen wie auch einem historischen Kontext zu rekonstruieren und zu erläutern.

Griechisch-römisch-antike Variante

Brink: Welche verschiedenen Formen haben Sie denn feststellen können, denn über die Bekannten müssen wir, glaube ich, wenig reden, weil die sind ja bekannt?
Krüger: Ja, also wir haben einmal – das ist dann vielleicht doch nicht so geläufig – eine eher griechisch-römisch-antike Variante, in der dieser Mittelfinger ausgestreckt wird, sondern auch noch die beiden daneben liegenden Finger so geformt werden, als würden sie die Hoden repräsentieren, während also die eher nördlich der Alpen geübte Variante doch ausschließlich der Mittelfinger ausstreckt und den Rest der Finger zur Faust ballt. Das ist so diese griechisch-römisch-germanische Kulturgrenze, die tatsächlich bis auf den heutigen Tag sowohl in Europa, aber vor allen Dingen auch unter Einwanderern verschiedener Herkunft in den USA zu beobachten ist. Die andere Variante ist eine mittelamerikanische, die in Konkurrenz zu dem ausgestreckten Mittelfinger nicht den Handrücken in Richtung des zu Beleidigenden reicht oder weist, sondern mit der Handinnenfläche in Richtung der angesprochenen und angestikulierten Person …
Brink: Also so, als ob man jemanden wegschubsen wollte.
Krüger: Ja, nahezu, ja.
Brink: Das wirkt ja erst mal sehr harmlos.
Krüger: Ja, auf den ersten Blick harmlos, aber da diese Geste so funktioniert, dass praktisch jeder, selbst der nicht initiiert ist in die Bedeutung dieser Geste, sofort spürt, das ist was ziemlich Aggressives, Schlimmes, Sexuelles, wirkt diese Geste automatisch und sofort.
Brink: Sie sagen selbst, der Stinkefinger ist eine kleine, aber wirksame Geste. Was macht diese Geste so wirksam? Ist das die Nähe des erigierten Penis?

Aristophanes, Petronius Arbiter, Catull, Martial

Krüger: Ja, das ist historisch eindeutig belegbar seit der griechischen Antike. Es gibt sowohl Bilder als auch vor allen Dingen Texte, in denen griechische Dichter, immerhin Aristophanes, und römische wie Petronius Arbiter oder Catull oder Martial, ganz eindeutig den ausgestreckten Mittelfinger nicht nur mit dem Penis assoziieren, sondern sagen, das ist die Repräsentation des erigierten Penis. Das heißt also, es ist seit Aufkommen der ersten schriftlichen Belege für diese Geste klar. Es ist eine eindeutige sexuelle und, wenn man sich den historischen Kontext von noch älteren Darstellungen anschaut, eine Geste, die immer unter Menschen in archaischen Gesellschaften – ich rede jetzt von der Bronzezeit und noch älteren Zeiten –, aber auch unter nichtmenschlichen Primaten üblich ist. Man zeigt den Phallus, man zeigt den erigierten Penis, um zu zeigen, wer hat den Größeren und wer beansprucht was.
Brink: Lässt sich so etwas wie der erste Stinkefinger der Menschheit ausmachen? Herr Krüger?
Krüger: Ja, pardon?
Brink: Lässt sich so etwas wie der erste Stinkefinger der Menschheitsgeschichte ausmachen, also weiß man, wann diese Geste zum ersten Mal eingesetzt worden ist?

Früheste schriftliche Zeugnisse und Darstellungen

Krüger: Das weiß man nicht. Wir haben natürlich als Historiker immer nur historische Belege, und der älteste historische Beleg, den wir haben, ist die Komödie "Die Wolken" von Aristophanes, in der ein als ungebildet vorgeführter Bauer dem Redelehrer Sophokles seinen Mittelfinger zeigt und wenn es darum geht, wie die Rede zu formen ist, und der Sophokles sagt, "Kennst du denn den Versrhythmus des Daktylus", ihm den Mittelfinger zeigt und damit natürlich, so wie es in der Komödie von Aristophanes gedacht war, auch entsprechend beleidigt. Das ist das allerfrühste schriftliche Zeugnis dafür. Die ersten bildlichen Darstellungen finden wir auf der Vase, auf der Urne eines römischen Gladiators, in der er gleichzeitig mit dem Schwerthieb, den er gegen jemand anderes austeilt, auch den Mittelfinger rausstreckt.
Brink: Auf einer Urne. Da hat aber jemand Humor bewiesen, oder?
Krüger: Ich vermute mal, dies ist die Bündelung von aggressivem Handeln plus aggressiver Gestik, die möglicherweise zum Berufsimage eines Gladiators gehörte.

Auch Frauen nutzen die Geste

Brink: Gehe ich recht in der Annahme, dass der Mittelfinger unter Männern eher verbreitet ist als unter Frauen?
Krüger: Es sieht zunächst so aus, und das wird in der Geschichte wohl auch so gewesen sein. Wir kennen nur eine einzige Stelle aus der Antike oder ich kenne nur eine einzige Stelle aus der Antike, wo nämlich eine Zauberin, Hexe, Medizinfrau einem Mann mit dem Mittelfinger eine Salbe aufträgt, damit er wieder in Liebesdingen funktionstüchtiger wird und er das eigentlich gar nicht so toll findet – also nicht die Funktionstüchtigkeit, sondern dass sie den Mittelfinger verwendet.
Brink: Er hätte lieber die ganze Hand.
Krüger: Dann lieber die ganze Hand oder anderes. In jedem Fall haben wir dann wirklich fast tausend Jahre gar nichts, und dann gibt es die allerersten Aufkommen im Kontext von Schauspielerei. Wir haben eine Schauspielpartnerin von Clark Gable zu Beginn der 50er-Jahre, die bei einem scherzhaft gemeinten Gruppenfototermin auch den Mittelfinger ausstreckt, aber nicht unbeholfen, sondern ihn durchaus artikulieren kann. Das ist nicht so, dass sie den offensichtlich nicht kann. Dann gibt es eine Hollywooddiva, Elizabeth Taylor, die den wirklich mit Vorliebe jedem gezeigt hat, der sie fotografieren wollte, und zwar mit einem dazu noch lachenden Gesicht. Dann gibt es noch mal eine kleine Pause, und zum Schluss haben wir doch etliche Größen der Rock- und Popmusik, also weibliche Größen der Rock- und Popmusik, die vor allen Dingen eins mit Vorliebe tun, den Mittelfinger sich in den Mund stecken, wie Madonna beispielsweise in ihrem erotischen Fotoband "Eros", und damit eigentlich der Öffentlichkeit wieder klarmachen, was dieser Mittelfinger eigentlich ist.
Brink: Reinhard Krüger war das, Autor des Buches "Der Stinkefinger: Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste". Ich danke sehr für dieses Gespräch hier in "Studio 9" verbunden mit dem Hinweis, dass das Buch bei Galiani erschienen ist und knappe 17 Euro kostet. Ob es sich aber um ein ideales Geschenk handelt, möchte ich an dieser Stelle dahingestellt lassen. Nochmals danke, Herr Krüger!
Krüger: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema