Kulturgeschichte der Frisur

Imagegewinn dank Corona-Mähne

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Ein junger Mann vor einem rosa Hintergrund greift sich an den Kopf, der halbrasiert ist und auf der anderen Seite noch sehr lange Haare hat.
Die Frisur sitzt nicht richtig? Das muss kein Nachteil sein, findet Christian Janecke. © unsplash / Karina Carvalho
Christian Janecke im Gespräch mit Ute Welty · 23.04.2020
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Die Friseurläden zu, die Haare sprießen: Das kann man auch positiv nutzen, meint der Kunsthistoriker Christian Janecke. Früher habe man mit schlechter Frisur signalisiert: Ich bin ganz bei der Sache. In der Videokonferenz hat die Sache aber einen Haken.
Ute Welty: Frühestens Anfang Mai werden die Friseurgeschäfte wieder öffnen. Bis dahin dürfte mancher Kurzhaarschnitt in eine Art Mittel-Hippie-Variante übergegangen sein – zu beobachten derzeit bei den Ministerpräsidenten Söder und Kretschmann, sowohl christsozial als auch grün sieht etwas struppig aus. Christian Janecke ist Kunsthistoriker und Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, und er hat auch publiziert zur Geschichte der Frisur und zur Gestaltung des Haares. Guten Morgen!
Christian Janecke: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Sie sind ja auch eher so der Kurzhaartyp, was macht Corona mit Ihrem Kopf?
Janecke: Na ja, es macht nicht viel damit. Das kurze Haar ist ja davon betroffen, dass es sich in einer bestimmten Zeitspanne relativ schneller verändert als das längere Haar, insofern ruft es geradezu nach Gestaltung. Aber ich kann das selbst, ich gehöre zu den DIY-Typen.

Authentisch wirken mit schlecht frisierten Haaren

Welty: Okay. Die undefinierte Frisur, die kann ja auch ein Statement sein. Wie stark ist das Signal denn schon? Im Musical "Hair" hat es geheißen: "Alles schöne Haar war schulterlang und länger".
Janecke: Ja, aber beim Musical "Hair" gab es ja sozusagen den Zwang zur Transgression, zur Überschreitung, zur Haarlänge. Das war nicht das, was heute Typen wie Söder oder Kretschmann erleiden oder wovon sie profitieren, würde ich sagen, denn es bestand schon immer die Möglichkeit, spätestens mit der Verbürgerlichung vor ungefähr 200 Jahren, durch verstruwweltes Haar zu zeigen, dass man ganz bei der Sache ist, dass man nicht sozusagen dem "schnöden Äußeren" opfert oder huldigt, sondern ganz authentisch ist.
Die Möglichkeit, sich authentisch zu zeigen, in dem Fall als Männer der Tat, Männer der Sache und vor allen Dingen Männer, die an etwas glauben, diese Möglichkeit besteht seither, und diese Authentifizierungsgewinne kann man auch mit schlecht sitzender Frisur einstreichen.
Der englische Komiker Eric Sykes (1923 - 2012, links) lässt in einer nicht ausgestrahlten Pilotsendung für eine geplante Fernsehserie namens "Brainwaves" am 28. Oktober 1960 die "Massenrasiermaschine" wieder aufleben, eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert, mit der ein Dutzend Männer gleichzeitig rasiert werden können. 
Der Friseurbesuch ist nicht unbedingt notwendig und auch nicht immer entspannt.© Getty Images / Hulton Archive/ Ken Howard
Welty: Politisches Statement ist einst die kunstvoll frisierte Perücke gewesen, die dichte, lockige Mähne als ein Zeichen von Macht und Status. Was ist davon eigentlich übrig geblieben?
Janecke: Na ja, einerseits hat das ganze Ancien Régime abgedankt und mit ihm auch diese Fassade der Allongeperücke und so weiter. Auf der anderen Seite ist es natürlich wiedergekehrt. Grant McCracken hat vor 30, 40 Jahren ein wunderbares Buch über "Big Hair" geschrieben. Margaret Thatcher und viele andere Frauen haben seither Big Hair getragen, seltener auch Männer. Das ist natürlich eine Form, in der das große, voluminös und gut frisierte Haar als Machtsymbol wiedergekehrt ist, aber es hat nie mehr die Bedeutung erlangt, die es einmal hatte.

Die Frisur allein ist kein Distinktionsmerkmal

Welty: Eine gut sitzende Frisur kostet Geld. Was bedeutet der Haarschnitt für den sozialen Unterschied?
Janecke: Nun, ich würde sagen, alle modischen Merkmale – die Kleidung an erster Stelle, aber natürlich auch das frisierte Kopfhaar – sind solche Distinktionsmerkmale seit jeher, sie sind es geblieben, aber die Haare sind es in geringerem Ausmaße. Selbst eine Frisur bei Vidal Sassoon wäre sozusagen für Menschen mit kleinem Geldbeutel noch machbar, wenn sie ein bisschen zusammenlegen.
Im Übrigen ist es so – das ist ein anderer Aspekt –, dass man oftmals, ich sag mal, an der Kasse von Aldi oder Lidl, ohne jetzt sozial arrogant zu wirken, die am teuersten oder am akkuratesten frisierten Frauen, mitunter auch Männer, sieht, während, was weiß ich, vielleicht meine Kolleginnen oder Kollegen oder in anderen höheren kulturellen Kreisen, Kulturdezernentinnen vielleicht, weniger akkurat oder adrett frisiert auftauchen. Da muss man also aufpassen.

"Die Videokonferenz macht aus uns allen Talking Heads"

Welty: Es ist ja auch die Videokonferenz, die das Haar in den Fokus rückt, eben weil der Ausschnitt kleiner ist, und ich platze geradezu, wenn ich auf zwölf Zoll reduziert wäre, ich bestehe da nur aus Haaren. Wie bringe ich das denn schnellstmöglich in Ordnung?
Janecke: Das ist ganz wichtig, Sie sagen es, die Videokonferenz macht aus uns allen ja Talking Heads oder lebende oder sprechende Porträtbüsten. Und das Haar umrahmt nun mal unser Gesicht, das sozusagen der Hauptkommunikator ist, auch in dieser Bildkommunikation, der wir dann ausgeliefert sind und der wir andere ausliefern.
Ein Mann mit Mundschutz bekommt die Haare mit einer Heckenschere geschnitten.
Haare selber schneiden – das sollte gut überlegt sein.© picture alliance / Hans Ringhofer / picturedesk.com
Folglich ist es wichtig. Aber wir verfügen ja alle, auch wenn die Friseure jetzt ganz tapfer sein müssen, über die Möglichkeit, uns relativ schnell selbst zu expertisieren. Wir können frisieren, wir können mit Wasser arbeiten, das hat man immer schon getan, wir haben Gels, wir haben sogar Gels seit ungefähr 20 Jahren, die unser Haar durcheinanderbringen sollen, statt es zu bändigen. Auch das hat schon Tradition.
Welty: Der sogenannte Bad Hair Look.
Janecke: Auch den gibt es, richtig. Aber der ist vielleicht für die Videokonferenz nicht angeraten.

Friseure bieten mehr als Waschen, Schneiden, Legen

Welty: Könnte es denn sogar sein, dass in absehbarer Zukunft der Friseurbesuch vielleicht weniger wichtig wird?
Janecke: Gut, ich bin ja Historiker, daher tue ich mich schwer damit, in die Zukunft zu blicken, aber das könnte natürlich sein. Ich würde es den Friseuren und Friseurinnen hierzulande nicht wünschen, aber die Menschen können eine ganze Menge selbst machen.
Es gibt aber auch andere Aspekte des Friseurberufs oder des Friseurbesuches, nämlich eine bestimmte Emphase auch der Selbstberührung, wie Kollege Tilman Allert das einmal sehr treffend genannt hat. Das ist für viele, zumal auch ältere Menschen eine wichtige kommunikative Möglichkeit. Vielleicht ist der Friseur oder die Friseurin der Einzige, der sie berührt in diesem Monat.
Abgeschnittene Haare liegen auf einem grünen Kachelboden.
Selbstisolation bedeutet selber schneiden.© unsplash / Andrii Leonov
Welty: Männer müssen schneiden, Frauen vor allem färben. Sind die Frauen da etwas im Vorteil, weil selber färben im Zweifel leichter ist als selber schneiden?
Janecke: Na ja, die Frauen sind etwas im Vorteil, sie haben auch das längere Haar, das sich vergleichsweise weniger verändert in einer bestimmten Zeitspanne. Sie sind durch die Farbe freier, denn tatsächlich - ich hatte es gesagt -, mit der Verbürgerlichung entsteht sozusagen nicht nur eine Authentifizierungs- oder Authentizitätsmöglichkeit, sondern auch Authentizitätszwang. Das heißt, wenn Männer sich färben, müssen sie es immer deutlich kennzeichnen, sonst gelten sie vielleicht als effeminiert, andererseits könnte man sagen, das ist in unserer Kultur auch kein Problem mehr.
Und dass Frauen tatsächlich sich vielleicht immer noch adretter zum Beispiel zu einer Videokonferenz hermachen müssen oder herrichten müssen als Männer, das liegt einfach vielleicht daran, dass Frauen immer noch benachteiligt sind. Davon kann man nur hoffen, dass sich das ändert, dass sich das ausgleicht.

Kunst am Kopf soll natürlich wirken

Welty: Könnte es nicht doch sein, dass die Perücke ein Revival erlebt?
Janecke: Tja, die Perücke könnte ein Revival erleben, wir tragen ja schon alle Masken. Die Perücke ist ja sozusagen eine Maske für die Haare. Zunächst hat sie abgedankt mit dem Ausgang vom Barock oder vom Spätbarock und hat eben anderen Möglichkeiten eines ehrlich sich bekundenden, aufrichtig sich bekundenden Haares und einer ebensolchen Frisur Platz gemacht.
Andererseits ist bislang immer noch die Idee in Geltung, dass die Eingriffe, die wir an uns vollziehen – sei es Schminken, sei es durch die Frisur –, dass sie dezent sein müssen und dass sie eigentlich wie Natur wirken müssen. Sie sind sozusagen eine "Kunst, die Natur zu sein scheint", in den Worten Kants, und das gelingt der Perücke nicht. Wenn man nur an einer einzigen Stelle sieht, dass das nicht echt ist, dann kippt das Ganze, und viele empfinden es immer noch als gruselig.
Obwohl manche Menschen ja gezwungen sind, die Perücke vielleicht zu tragen, weil sie eine Krebsoperation hatten und temporären Haarverlust erlitten hatten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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