Kultfiguren statt Täter

Rezensiert von Josef Schmid · 16.05.2010
In seinem Buch über die Geschichte der Roten Armee Fraktion kommt Michael Sontheimer zum Schluss, dass die RAF weiter in der kollektiven Erinnerung herumspukt, solange die Wahrheit über wichtige Anschläge im Dunklen bleibt.
Michael Sontheimer lässt in seiner "kurzen Geschichte" der RAF die Ereignisse und Taten sprechen und widersteht dem Ehrgeiz, sich mit Eigeninterpretationen in eine Ereignisfolge einzumischen. Wie nüchtern chronologisch der Autor die Vorkommnisse beschreibt, so gekonnt komponiert er die verschiedenen Schauplätze zu einem einheitlichen Geschehen: die konspirativen Wohnungen in Westdeutschland, die nahöstlichen Truppenübungsplätze, Flugrouten und Stationen mit gekapertem Flugzeug und schließlich der Ruheraum hinterm Eisernen Vorhang, genannt DDR. Sontheimer macht den Leser zum teilnehmenden Beobachter.

Mit dem Kapitel "Sieben Tage im Herbst" durchlebt man förmlich die Irrfahrt der gekaperten Maschine "Landshut" und ihre Schrecken wie die Ermordung des Kapitäns und die Befreiung in Mogadischu. Doch dem Autor gelingt noch mehr: Er vermittelt deutlich das völlige Unverständnis der deutschen Spanienurlauber gegenüber dem weltrevolutionären Gebrüll und der Schießwut der Entführer – und was für das Land symptomatisch ist: die totale Abwesenheit alles dessen, was man im Kreis der Weltenbrand-Philosophen eine revolutionäre Situation nennt.

"Es gibt nach wie vor keinen Konsens darüber, warum 25 Jahre nach dem Untergang Nazideutschlands eine Gruppe gebildeter junger Menschen den demokratischen Staat zum faschistischen Monstrum erklärte und ihn mit Gewalt zu beseitigen versuchte."

Das hat die Frage wieder aufgerührt: Wer neigt zur Revolte und wann? Der große Soziologe Norbert Elias, so zitiert ihn der Autor, war überzeugt, dass Menschengruppen revoltieren, wenn die Unterdrückung nachlässt. Sie wird empfunden, unabhängig von objektiven Kriterien. Die RAF war also ein Luxusphänomen.

Sontheimer kann drei Generationen in ihrer Entwicklung ausmachen. Die dritte Generation operiert wie keine zuvor aus einer Dunkelkammer heraus. Man weiß von ihr das Wenigste, doch ihre Mordtaten haben klar gemacht, dass es sich um Profis handelt und nicht mehr um abgehobene Traumtänzer. Selbst ihr oberster Gegner kann ihnen ein Kompliment nicht versagen:

"Autos wurden höchstens für Anschläge gemietet, gewöhnlich bewegten sich die Terroristen - ökologisch korrekt - mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sogar Generalbundesanwalt Kurt Rebmann räumte ein, dass er die handwerklichen Fähigkeiten der RAF-Kader bewundere: 'Das sind die Deutschen, die sind super, diese geschliffene Kriminalität ist in Europa einmalig.'"

An dieser Stelle ist man versucht, in den unerschöpflichen Brunnen des Teutonischen hinab zu steigen. Der alte Spruch, deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun, erfährt eine makabre Bestätigung:

"So wie ihre Väter auch in hoffnungsloser Lage nicht aufgegeben hatten, kam Kapitulation nicht infrage. Und man kämpfte schon deshalb weiter, um die Niederlage nicht einzugestehen. Man wähnte sich auf der richtigen Seite der Geschichte und kämpfte für den Endsieg. Birgit Hogefeld sollte nach ihrer Verhaftung feststellen: 'Das Sture, das Dogmatische, die Tatsache, dass wir bis in die 90er-Jahre unseren eingeengten Horizont verteidigt haben. Das war sehr deutsch.'"

Doch die Zeit verflog und die ideologischen Einbildungen und fanatischen Glaubenssätze hinter den jeweiligen Taten näherten sich ihrem geschichtlichen Verfallsdatum. Mit der Verhaftung von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar blieben die Anschläge aus, sodass es für zwei Jahre an Stoff für Schlagzeilen fehlte. Die Ermordung von Herrhausen und Rohwedder, mit kühler Präzision geplant und ausgeführt, waren, weil zeitgleich mit dem Ende des Kommunismus, schon Mordtaten nach Ladenschluss. Sontheimer berichtet in einem Schlusskapitel von den "Mühen der Aufarbeitung" im Zuge der Wende:

"Spätestens seit dem Fall der Mauer hatte Deutschland wesentlich wichtigere Probleme als die RAF. Die Rolle des Feindes im Inneren hatten die Konservativen nun an die Kommunisten in der einstigen DDR weitergegeben. Die RAF wurde zu einem Relikt des Kalten Krieges aus der alten Bundesrepublik."

Hastig betriebene Begnadigungen, Versöhnungsangebote, gesperrte Akten und die Einbestellung von Christian Klar beim Bundespräsidenten, um ihm auf den Zahn zu fühlen, ob ein Entlassungszeugnis zu rechfertigen sei, sind verblüffende Vorgänge. Sie wären sang- und klanglos vonstatten gegangen, hätten sich nicht Kinder und Angehörige der Opfer zu einem Störmanöver entschlossen: Wenn man schon "Lebenslängliche" begnadigt und vorzeitig entlässt, dann doch nicht, ohne den Hergang der Taten geklärt zu haben. Der Professor der Chemie Michael Buback hätte gerne gewusst, wer eigentlich seinen Vater erschossen hat. Das größte Staatsverbrechen Nachkriegsdeutschlands sollte samt groben Wissenslücken, nämlich ohne in jedem Fall zu wissen, welcher Mord auf wessen Konto geht, entsorgt werden. Sontheimer zeigt sich ungehalten über dieses Großreinemachen und schließt resignierend:

"Schweigen ist der Feind der Aufklärung. Der Krieg der RAF ist ein abgeschlossener Abschnitt der Geschichte. Doch solange die Wahrheit über wichtige Anschläge im Dunklen bleibt, wird die RAF weiter in der kollektiven Erinnerung herumspuken. (…) 40 Jahre nach den ersten Schüssen der RAF herrscht ein Schwebezustand. Die Rote Armee Fraktion existiert nicht mehr, aber sie ist noch da."

Der beklemmende Schluss dieser empfehlenswerten Studie wird laufend bestätigt. Intellekt und Kunstgewerbe lassen nichts unversucht, die RAF-Täter in den Rang von Kultfiguren zu heben.

Michael Sontheimer: Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion
Deutsche Verlagsanstalt, München und SPIEGEL-Verlag, Hamburg 2010
Cover: "Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“
Cover: "Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“© Deutsche Verlagsanstalt