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50. Deutscher Historikertag
Konfliktreiche Kapitel der Weltgeschichte

Der Schwerpunkt ist durch die Macht der Jahrestage geprägt: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren, und die neuentflammte Diskussion, wer daran schuld sei, bestimmen den 50. Historikertag. Waren die militärischen Sieger auch die politisch-moralischen Gewinner, zu der sich im Versailler Vertrag selbst erklärten?

Von Peter Leusch | 25.09.2014
    Nachdem am 1. August 1914 durch Kaiser Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung verkündet worden ist, ziehen deutsche Soldaten in den Krieg.
    Nachdem am 1. August 1914 durch Kaiser Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung verkündet worden ist, ziehen deutsche Soldaten in den Krieg. (dpa picture alliance)
    Der Schwerpunkt ist durch die Macht der Jahrestage geprägt: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, und die neuentflammte Diskussion, wer daran schuld sei, bestimmen den 50. Historikertag, der unter dem Motto "Gewinner und Verlierer" steht. Waren die militärischen Sieger auch die politisch-moralischen Gewinner, zu der sich im Versailler Vertrag selbst erklärten?
    "Im Juli 1914, als es darauf ankam, nach dem Attentat von Sarajevo, wollten alle Länder, alle Staatsmänner, dass aus diesem Attentat kein Weltkrieg hervorgeht, - die Deutschen wollten es auch - aber die Deutschen wollten vor allem eins: Sie wollten wissen, was ist mit den Russen, und was ist mit den Franzosen und mit den Engländern.
    Sie hatten seit Jahren das Gefühl, sie werden eingekreist, die andern machen da Verträge, also die Deutschen hatten schon Grund misstrauisch zu sein. Dann haben sie überlegt im Juli 1914, als dann das Attentat passiert war, das ist eine prima Möglichkeit zu testen, ob die Russen wirklich Krieg wollen. Und wenn die Russen wirklich Krieg wollen, dann lieber jetzt als später."
    "Wir bekämpfen uns immer sehr freundlich"
    Gerd Krumeich, der emeritierte Düsseldorfer Historiker und Experte für den Ersten Weltkrieg hat seine These von der Hauptschuld der Deutschen und Österreicher in seiner jüngsten Veröffentlichung mit dem Titel "Juli 1914. Eine Bilanz" bekräftigt und mit angefügten Schlüsseldokumenten untermauert.
    Ziemlich unerwartet ist im Laufe des Gedenkjahres eine neue Debatte über die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges entbrannt. Die prominenteste Gegenstimme zu Krumeich gehört dem australischen Historiker Christopher Clark mit seinem aktuellen wissenschaftlichen Bestseller "Die Schlafwandler". Bei Clark gibt es im komplexen Geflecht der Großmächte und der Dynamik der Ereignisse keinen Hauptschuldigen mehr – bei dieser Sicht jedoch, so Krumeichs Kritik, kämen die Deutschen zu gut weg.
    "Das ist der Unterschied zwischen Christopher Clark und mir. Wir bekämpfen uns immer sehr freundlich: Er liebt die Deutschen von damals zu sehr, das ist meine Hauptkritik. Und da er die Deutschen im Juli 1914 quasi aus dem Gefecht nimmt, die ganzen alten Thesen wieder hochbringt von den russischen und den französischen Kriegstreibereien, womit wir uns in Deutschland in den 20er- und 30er- und 50er-Jahren genähert haben, das finde ich nicht so gut.
    Er darf nicht hingehen und sagen, dass das österreichische Ultimatum an Serbien doch in Wirklichkeit gar nicht so schlimm war, das ist eine Gefälligkeitslüge, das kann er nicht machen. Die Österreicher haben das Ultimatum so gemacht, damit die Serben es nicht annehmen können. Da gibt es einen Ministerratsbeschluss zu, den habe ich auch in meinem Buch zitiert."
    In der Tat hatte Österreich-Ungarn nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand vom souveränen Staat Serbien weitreichende Einmischungsrechte verlangt, um bei Ablehnung eine Handhabe für militärisches Eingreifen zu bekommen. Und Berlin hatte dieses Vorgehen mit einem Blankoscheck gedeckt.
    Wie das alles zu beurteilen ist, und warum der Erste Weltkrieg ausbrach, darüber kommt es am morgigen Freitag auf dem Historikertag zu einer Podiumsdiskussion mit den beiden Kontrahenten. Während die Wissenschaftler seit 100 Jahren streiten, waren sich die Politiker der Siegermächte bereits 1918 in dieser Frage einig: Die militärischen Gewinner Frankreich, Großbritannien und die USA erklärten sich selber auch zu den politisch-moralischen Siegern, indem sie die deutsche Regierung im Versailler Friedensvertrag nötigten, eine alleinige Kriegsschuld Deutschlands anzuerkennen.
    Allerdings hatte der Kriegsschuldparagraf auch einen besonderen juristischen Sinn, so Martin Schulze Wessel, der osteuropäische Geschichte an der Münchener Universität lehrt. Schulze Wessel ist Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen.
    "Diese Kriegsschuld im Versailler Vertrag ist eine juristische Konstruktion gewesen, um Reparationen, die Deutschland zu zahlen hatte, zu ermöglichen. Der Krieg ist in der Tat fast ausschließlich außerhalb des deutschen Staatsgebietes geführt worden, wenn man von Ostpreußen absieht, und Reparationen mussten auf irgendeiner Grundlage gezahlt werden."
    Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, niemand ahnte vorher, wie viele Millionen Tote, welche Verwüstungen, welch grauenhaftes Unheil die technisch hochgerüsteten Kriegsmaschinerien der Großmächte anrichten würden. Ausnahmen wie der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus mit seinem hellsichtigen Buch von 1912 "Das Menschenschlachthaus" wurden ausgelacht.
    Eine Niederlage als Chance
    Ganz Europa war der Verlierer, das politische Machtzentrum verlagerte sich nach dem Krieg in die USA. Die Habsburger Monarchie, ein Vielvölkerstaat, zerfiel, um neuen Nationalstaaten Platz zu machen. Auch das Deutsche Reich verlor große Gebiete und musste Reparationen zahlen. Allerdings waren die Deutschen mit dem reaktionären Kaiser auch den wilhelminischen Obrigkeitsstaat losgeworden, sie erkämpften sich eine Republik und die fortschrittlichste Verfassung in Europa. Aus der Niederlage erwuchsen Chancen, der Neuanfang war auch ein Gewinn an Demokratie, Freiheit und politischer Partizipation.
    "Die neue Kraft der Gewerkschaften, die Anerkennung der Einheitsgewerkschaft ab 1917, das war vorher alles nicht vorstellbar. Und dann der Parlamentarismus,Wahlrecht für Frauen, da waren wir in Deutschland wirklich führend, das haben die Franzosen erst 1949 geschafft nach dem Zweiten Weltkrieg, also aktives Wahlrecht für Frauen. Frauen als Abgeordnete, das ging alles nur zögerlich, aber da waren viele Dinge, die wirklich neu und sehr gut waren. Aber auch hier gibt es einen Gegenpol, in gewisser Weise haben wir auch vom Ersten Weltkrieg den Hitler geerbt."
    Krumeich vertritt die These, dass die unverstandene Niederlage im Ersten Weltkriegs, der hartnäckig festgehaltene Glaube, Deutschland habe sich in einem Verteidigungskrieg befunden, Hitlers Aufstieg begünstigt habe. Manche Historiker sprechen von einem Dreißigjährigen Krieg im 20. Jahrhundert, indem sie die Fehler des Versailler Friedensvertrages und die unbewältigte Kriegsniederlage in Deutschland zu den ersten Ursachen des nächsten, des Zweiten Weltkriegs zählen.
    Ein anderer Blick auf die Vergangenheit
    Wie kann aus einem solchen revanchistischen Teufelskreis herauskommen, wo alte Sünden neues Unheil säen? In den 20er-Jahren erklärte der britische Premierminister Lloyd George, niemand habe den Krieg gewollt, die europäischen Nationen seien einfach hineingeschlittert. Das war auch als Versöhnungsformel gegenüber dem alten Gegner, Deutschland gedacht. Aber diese Auffassung hat eine fatalistische Schlagseite.
    Muss man den Lauf der Geschichte einfach hinnehmen? Oder kann man sich der Geschichte auch anders nähern? Das ist nicht nur ein Thema für Fachhistoriker, sondern auch eine Frage der historischen Bildung, besonders im Geschichtsunterricht. Frank Schweppenstette, der in Köln in der Lehrerausbildung tätig ist, hat für den Historikertag untersucht, wie der Erste Weltkrieg in deutschen und in italienischen Schulbüchern dargestellt wird. Zum Beispiel in einem italienischen Geschichtsbuch für die Oberstufe.
    "Dort hat man zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht die übliche Zeichnung, auf der gezeigt wird, wie Franz Ferdinand und seine Frau Sofia erschossen werden von Gavrilo Princip, sondern ein anderes Foto hat man genommen, und zwar das Foto, wie Franz Ferdinand und seine Gattin noch aus den Stadtpalast kommen in Sarajevo und zu ihrem Auto gehen. Das ist ein ganz anderes Foto und keiner ahnt, was ihnen in den nächsten Minuten passieren wird, auch die Menschen drum herum ahnen nicht, was gleich passieren wird - also das ist so eine Art historischer Moment, den man im Unterricht auch fruchtbar machen kann."
    Es ist eine Gelegenheit, so Schweppenstette, Fragen an die Geschichte zu stellen. Denn Geschichte geschieht nicht zwangsläufig, auch damals nicht, es gab Handlungsoptionen, Chancen, die vergeben wurden; ausgelassene Möglichkeiten, um einen Ausweg aus der drohenden Katastrophe zu finden.
    "Das ist im Grunde genommen - auch jetzt mit der neuen geopolitischen Situation in Europa - vielleicht auch weltweit zu sehen, dass der Erste Weltkrieg auf einmal zu einem Lernfeld für uns heute wird, indem wir Handlungsoptionen ausloten, die wir auch heute haben. Insofern würde ich - in Bezug auf das Thema des Historikertages Gewinner und Verlierer - etwas zugespitzt sagen, sind die Schülerinnen und Schüler die Gewinner, indem sie sich mit dem Thema beschäftigen."
    Blick in ein Frankfurter Kaufhaus am 3.12.1963, Schwarz-Weiß-Aufnahme, Menschen stehen an Kassen und Verkaufsständen
    Wirtschaftswunder: Blick in ein Frankfurter Kaufhaus am 3.12.1963 (dpa/picture alliance/Roland Witschel)
    Gewinner und Verlierer - das ist ein Gegensatzpaar, das in der langen Friedensperiode der Bundesrepublik nun stärker in anderen Bereichen verwendet wird, vor allem in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Auch diese Bereiche thematisiert der Historikertag in mehreren Sektionen. Zum Beispiel haben sich Sozialhistoriker der Universität Trier mit der Zeit nach dem Wirtschaftswunder und ihren Veränderungen in der Arbeitswelt auseinandergesetzt.
    Die Wissenschaftler konstatieren eine Übergangsphase, die mit Ereignissen wie dem Ölschock zu Beginn der 70er-Jahre einsetzt und bis in die 90er-Jahre reicht. In dieser Zeit haben sich bedeutsame Veränderungen in ganz Westeuropa vollzogen, erklärt der Historiker Lutz Raphael von der Universität Trier:
    "Nach dem Boom ist vor allem das passiert, was uns heute deutlich vor Augen tritt: Wir sind von der sogenannten Industriegesellschaft in die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft gewechselt. Insofern gehört die Deindustrialisierung für Westeuropa ganz sicher zu dieser Phase, das gilt mit Zeitverzögerung auch für die frühere DDR, aber dort in den osteuropäischen Ländern war das im Sozialismus keineswegs derselbe Prozess.Für die westeuropäischen Industrienationen bedeutet das: Abschied vom Malocher - der Begriff ist auch klassisch – da denkt man sich gleich, da hat man einen Verlierer. Denn wenn man jemanden verabschiedet, dann verschwindet er und wird an den Rand geschoben."
    Lutz Raphael erkennt hier allerdings sehr unterschiedliche Verläufe beim Vergleich von England, Frankreich und der Bundesrepublik. Besonders abrupt wird der sogenannte Malocher, Paradebeispiel ist der Bergmann, in Großbritannien verabschiedet. Nur etwa ein Viertel der Bergleute, so Raphael, habe Anfang der 80er - zehn Jahre nach Beginn der Entlassungswelle – eine andere feste Beschäftigung gefunden.
    "Der Großteil verschwindet in Situationen, die wir auch in Deutschland kennen: Er wird frühzeitig verrentet oder er wird krank, - statistisch ist das interessant , es sind in diesen Regionen sehr viele Leute dauerhaft krank, was meint das? Natürlich die Folgen der harten Arbeit unter Tage – das ist aber nicht alles - Krankschreiben wird zu einer Form, nicht mehr in den Arbeitsmarkt überführbare Bergleute aus der Statistik herauszunehmen und einigermaßen sozial abzusichern, indem sie dadurch natürlich auch eine Versorgung bekommen - kurz: ein Großteil derer, die aus der industriellen Welt verabschiedet werden, finden einen Zwischenplatz vor der klassischen Verrentung in den sozialen Sicherungssystemen, meistens sehr prekär."
    Weniger drastisch als in Großbritannien und mit zeitlicher Verzögerung formieren sich diese Verlierergruppen auch in Frankreich und in Deutschland, aber es ist ein relativer Abstieg. Anders als die politische Linke beklagte, gab es keine Verelendung oder absolute Armut, das verhinderte der Sozialstaat und die bis zur Jahrtausendwende immer noch ansteigenden Reallöhne. Allerdings nahm die soziale Ungleichheit zu, und ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit wurde die Gesellschaft nicht mehr los. Doch neben den Verlierern der neuen Dienstleistungsgesellschaft gab es auch neue Gewinner, erläutert der Trierer Sozialhistoriker Morten Reitmayer:
    "Qualifizierte Beschäftigte, deren Unternehmen oder deren Arbeitgeber nicht verschwinden, sondern weiter arbeiten, bekommen in dieser Zeit auch häufig mehr Verantwortung über ihren Arbeitsplatz und gewinnen demzufolge mehr Autonomie über ihren Arbeitsplatz. In dieser Sprache sind sie schon einmal Gewinner, und sie bekommen auch eine Anerkennung für die Entscheidungskompetenzen, die ihnen jetzt zugewiesen werden, und darauf sind sie auch stolz. Das heißt auf individueller und auf Gruppenebene gibt es neue Formen von Gewinnern, die man nicht im Blick hat, wenn man immer nur schaut, wie stark die Arbeitslosigkeit steigt, das tut sie auch in diesem ganzen Zeitraum in diesen Phasen und Etappen, sind nimmt lange Zeit zu in fast allen westeuropäischen Ländern, es gibt aber ebenso gut Beschäftigte, die vom Wandel in den Unternehmen deutlich profitieren."
    Die neuen Gewinner
    Zu den neuen Gewinnern zählen vor allem Techniker, aber auch Facharbeiter mit gefragten Qualifikationen. Die Entwicklung verlief nicht eindimensional. Problemen auf dem Arbeitsmarkt und Einkommenseinbußen mancher Gruppen standen Zugewinne auf anderen gesellschaftlichen Ebenen gegenüber, erklärt der Trierer Sozial- und Wirtschaftshistoriker Christian Marx.
    "Mit den neuen sozialen Bewegungen gab es mehr politische Partizipation, aber wenn man den Blick über Deutschland hinaus wirft, wenn man auf Westeuropa und auf den Zeitraum nach dem Boom sieht, dann hat man mit Staaten wie Spanien, Portugal und Griechenland und der Hinwendung dieser Staaten zur Demokratie schon deutlich mehr politische Partizipationsrechte dieser Bevölkerung."
    Der Verlust der sozialen Anerkennung
    Und ein absoluter Gewinn war die Freiheit, die sich die Menschen in der früheren DDR und in Osteuropa friedlich erkämpften: Reisefreiheit, Wahlfreiheit, politische Selbstbestimmung. Aber zum Freisein von Gängelung und äußeren Zwängen, gehören auch die Bürde der Selbstverantwortung und der Druck, sich dieser anderen Arbeitswelt anzupassen und in ihr zu behaupten.
    "Es ist etwas dazu gekommen, was auch in den Diskussionen eine Rolle gespielt hat, nämlich zu einem Verlust von sozialer Anerkennung. Und das ist etwas, was den Systemwechsel geschuldet war, die Form der sozialen Anerkennung, die in sozialistischen Betrieben funktionierte, und das war ein kompliziertes System sozialer Anerkennung jenseits der Lippenbekenntnisse zur Industriearbeiterschaft, es waren Betriebsgemeinschaften, in denen die verschiedenen Gruppen ihre Anerkennung und ihren Platz hatten, vor allem einen festen Platz hatten, diese Festigkeit und die abgestufte Anerkennung ist gewissermaßen weggebrochen und an die Stelle ist in bestimmten Bereichen gar nichts getreten."
    Früher war die Putzfrau beim Unternehmen selbst beschäftigt, sie gehörte zur Mitarbeiterschaft, worauf sie auch bei mäßiger Bezahlung stolz sein konnte, heute ist sie outgesourct, nur noch Rädchen einer unsichtbaren Reinigungskolonne, die heute hier und morgen dort zum Einsatz kommt.
    Die Sozialhistoriker der Universität Trier analysieren die Veränderungen der Arbeitswelt in einer Übergangsphase, die in den 90er-Jahren endet. Denn dort beginnt unsere Gegenwart im engeren Sinne mit der rasanten Zunahme von Leiharbeit, geringfügiger Beschäftigung und befristeten Arbeitsverhältnissen.
    Ein höheres Maß an Kommunikation
    Generell gilt für Historiker, die sich mit dem zurückliegenden 20. Jahrhundert beschäftigen, dass sie auf der einen Seite eine Flut von Quellen berücksichtigen müssen, die sich zudem diversifiziert haben: neben Texte sind Töne, Fotos und Filme getreten, neben das Papier elektronische Formate. Das ruft auf der anderen Seite auch nach neuen wissenschaftlichen Arbeits- und Publikationsformen, die sich vor allem auf das Internet stützen. Auch das ist Thema auf dem Historikertag. Die Historikerin Gudrun Gersmann von der Universität Köln berichtet von einem Projekt, das nächstes Jahr an den Start geht.
    "Das ist ein Projekt mit einer besonderen Ausrichtung: Wir bauen eine Online-Open-Access-Plattform, also eine Plattform mit freiem Zugang auch für hervorragende Doktorarbeiten aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, die aus den beiden geisteswissenschaftlichen Fakultäten an der LMU München und an der Universität zu Köln hervorgegangen sind."
    Gudrun Gersmann weiß, dass ein solches Projekt vom wissenschaftlichen Nachwuchs begrüßt wird, weil es manchem Doktoranden, der im stillen Kämmerlein über seinem Thema brütet und womöglich irgendwann resigniert aufgibt, helfen kann.
    "Im Unterschied zu meiner eigenen Studentenzeit oder meiner Zeit als Assistentin gibt es inzwischen ein sehr viel höheres Maß an Kommunikation und auch an Publikationen schon in einem frühen Stadium des Studiums und der wissenschaftlichen Ausbildung. Gerade auch die Doktoranden bloggen, viele von denen haben bloggs, die twittern, sind über die sozialen Netzwerke unterwegs, also da findet viel mehr Austausch statt, als das in meiner Zeit gewesen ist, es gibt viel mehr Konferenzen auch für Nachwuchswissenschaftler, da ist vielmehr Bewegung im Spiel, als es noch vor zehn oder vor zwanzig Jahren der Fall gewesen ist."
    Geschichtliche Analysen, wie sie der Historikertag in ausgewählten Kapiteln quer durch die Weltgeschichte zum Thema "Gewinner und Verlierer" ausbreitet, bieten Hintergrundwissen an. Sie geben der Diskussion aktueller Probleme die notwendige Tiefenschärfe. Deshalb ist die Geschichtswissenschaft von Nutzen für die Gegenwart, aber sie dürfe dabei ihre Forschungsfreiheit nicht einem politischen Aktualismus opfern, betont Martin Schulze Wessel:
    "Geschichte darf sich keinem Relevanzzwang unterwerfen. Was relevant ist und was nicht - diese Frage stellt sich immer wieder neu, insofern muss Geschichtswissenschaft immer auch an Fragen arbeiten können, die nicht aktuell erscheinen, die im Moment auch gar nicht relevant erscheinen, weil sich diese Relevanz später sehr wohl ergeben kann: Wer hätte gedacht, dass die Geschichte der Ukraine so eine fundamentale Bedeutung für die Analyse der Gegenwart bekommt, wie das im Moment der Fall ist."