Künstlerin und Erfinderin Helen Leigh

Lötkolben, Lippenstift und Papp-Einhörner zum Verlieben

07:17 Minuten
Nahaufnahme einer Platine auf einem Tisch, daneben ist ein Lötkolben zu sehen.
Eine Platine und ein Lötkolben: Besonders begeistern kann sich Helen Leigh allerdings für nähbare Schaltkreise. © imago images / PhotoAlto / Eric Audras
Von Anna Loll · 04.01.2020
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Auf dem Chaos Computer Club-Kongress gab es viele schillernde Persönlichkeiten. Eine von ihnen ist die Hardware-Hackerin Helen Leigh. Die Waliserin, die in Berlin lebt, mischt mit ihrer Arbeit das traditionelle Verständnis von Technologie auf.
Auf Einkaufstour in Berlin-Kreuzberg mit Helen Leigh: Künstlerin, Erfinderin und vor allem eins, Hardware-Hackerin.
"Wir sind hier in einem meiner Lieblingsläden in Berlin", sagt sie. "Hier kann man verschiedene Bastelmaterialien kaufen, von Spezialpapier über Laserschneidematerialien bis hin zu 3D-Druckfilamenten und fantastischer Stickerei und Kunst - einfach alles, außer Elektronik."
Elektronik kauft die 36-jährige Britin mit dem wilden Lockenkopf woanders. Doch bevor es um Kabel und Schaltkreise geht, sucht Helen nach Inspiration im Material. Gerade arbeitet sie an einer Serie von Musikinstrumenten. Besonders hoch im Kurs steht bei ihr alles, was Gold glitzert.

Auf der Suche nach geeignetem Material

Im Bastelladen bleibt Helen an einem Regal mit dicken, kupferbeschichteten Folien stehen: "Schau dir diese schönen Folien an! Es ist dickes Papier, aber es ist leitfähig, man kann etwas wirklich Interessantes daraus erschaffen. Sogar Origami kann man mit so einem Stück Kupferfolie falten. Das ist schon toll, oder?"
Dann geht es zu den Metallstäben, wegen derer Helen eigentlich hier ist. Die Erfinderin zieht lange silber- und goldfarbene Stangen aus den Regalboxen. Sie testet sie, indem sie sie leicht beugt.
"Sieh dir das an, oh mein Gott, die ist riesig! Und kostet 26 Euro! Damit könnte man definitiv jemanden verletzen. Aber das macht kein 'Boing'. Und ich will, dass es 'Boing' macht!"

Ein Musikinstrument wie ein außerirdischer Igel

Ihre Musikinstrumente nennt Helen "Creatures", "Geschöpfe", oder, etwas technischer: "capacitative touch circuit sculptures", "kapazitative Berührungsschaltskulpturen". In ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln stellt sie eine davon vor.
Das Instrument mutet etwas an wie ein außerirdischer Igel. Helen spielt es, indem sie die goldschimmernden Stachel, offengelegte Schaltkreise, an unterschiedlichen Stellen berührt.
Ursprünglich kommt Helen aus Wales. Nach Berlin zog sie vor einem Jahr. Teure Mieten machten in London ihrem Lieblings-"Maker-Space" den Garaus - frei übersetzt ins Deutsche ein "Hardware-Bastel-Atelier".
Die Maker-Szene ist mit der Hacker-Community eng verbunden. Der Unterschied zwischen ihnen liegt vor allem darin, dass Maker den Fokus auf das Erfinden mit Hardware legen. Hacker hingegen können meist zwar auch mit Hardware umgehen, konzentrieren sich jedoch auf das Spiel mit Software.
Helen nun mischt die verschwisterten Szenen als eine Art moderne Mary Poppins mit ihren Erfindungen, Visionen und einer ausgeprägten Begeisterung für Lippenstift wie für Lötkolben gutgelaunt auf. Mit ihrer Arbeit versucht sie mit traditionellen Grenzen und Rollenklischees zu brechen. Ihr Ziel: Spaß und Verständnis von Technologie für alle.

Spezialistin für nähbare Schaltkreise

Eines ihrer Mittel sind Nähworkshops der besonderen Art. Hier ein Beispiel vom vergangenen Sommer, vom Zelt-Camp des Chaos Computer Clubs in Brandenburg.
"Können mal alle, die hier beim Schaltkreis-Nähworkshop mitmachen wollen, ihre Hand heben, damit ich weiß, wo ihr hier im Raum verteilt seid", sagt sie. "Oh, ihr seid ganz schön viele! Hallo! Dann lass uns anfangen. Mein Name ist Helen. Ich unterrichte Elektronik, Wearables und habe mich spezialisiert auf Musiktechnologie und nähbare Schaltkreise."
In der Hardware-Area drängen sich Frauen und Männer um etwa 30 Tische mit Kabeln, Scheren, Schnüren und Schweißgeräten. In der Mitte steht Helen im schwarzen Ballkleid. Aus dem tiefen Ausschnitt blitzt ein Lederbustier hervor – natürlich in Gold. Der rote Lippenstift fehlt ebenfalls nicht.
"Die Sache, die ich besonders an nähbaren Schaltkreisen mag, ist, dass es einen wirklich anders über Schalkreise denken lässt", erklärt sie. "Ich unterrichte viel damit. Hebt mal eure Hände: Wer hier glaubt, dass er oder sie schon sehr gut mit Elektronik umgehen kann? Okay, also hier haben wir also schon ein paar Elektro-Nerds. Wer hier fühlt sich mit einem Lötkolben wohl? Alles klar! Und wie viele von euch sind gut im Nähen? Ihr werdet die Besten in diesem Workshop sein! Der Workshop ist etwas ungewöhnlich."

Technologie in den "weiblichen Raum" bringen

Eine von Helens Missionen ist es, Technologie in den "weiblichen Raum" bringen. Gezielt verbindet sie dafür traditionell feminin verortete Fähigkeiten wie Stickerei und Nähen mit Elektronik. Denn die männliche Dominanz in der IT, im Hacking und der Maker-Welt, so ist die Waliserin überzeugt, hat viel mit der Art und Weise zu tun wie Technik unterrichtet wird.
Das will Helen ändern: "Ich habe da diesen großen Näh-Workshop in London gemacht. Ein paar Jungs kamen rein, mit überbordendem Selbstbewusstsein, sie dachten offenbar, sie würden sich als herausragend hervortun. Tatsächlich konnten sie kaum einen Knoten binden. Doch dann war da dieses kleine Kopftuch tragende 9-jährige Mädchen. Es war sehr ruhig und sehr bescheiden und übertraf alle! Ihre Arbeit war unglaublich."
Dieser Anspruch, Strukturen aufzubrechen und neu zu denken, ist typisch für die Hacker- und die Maker-Szene. Helen hält die informelle Lernumgebung dort für radikal – im positiven Sinne. Das projektbezogene Lernen auf Augenhöhe sollte ein Vorbild für jeden Technikunterricht sein – ist es jedoch selten.
"Ich hatte da ein riesiges Projekt für ein großes chinesisches Unternehmen" erzählt Helen Leigh, "wo ich einen Lehrplan und einen Haufen Code für Roboter geschrieben habe - halt das, was ich tue, um Geld zu verdienen. Doch am Ende war ich von der Roboter-Serie enttäuscht. Alles, was der Roboter tat, war, einer Linie zu folgen oder ein Hindernis zu erkennen. Ich sah ihn mir an und fühlte mich einfach nur kalt. Das Ganze wurde noch schlimmer dadurch, dass es ihn in zwei Farben gab: Rosa und Blau. Rosa war natürlich für Mädchen, und Blau war für Jungs. Da dachte ich mir: Das können wir so viel besser!"

Unvollkommenes macht Mut

Also erfand Helen eine Herde unzuverlässige Papp-Einhörner: "Sie waren ziemlich unzuverlässig. Aber die Tatsache, dass sie ihre eigenen Wege gingen und die Tatsache, dass manchmal Teile von ihnen abfielen, führte dazu, dass ganze Gruppen von Menschen sich in sie verliebten und beschlossen, ihre eigenen zu bauen."
Während Perfektion abschreckt, macht Unvollkommenes eben Mut, Dinge auszuprobieren. Doch diese spielerische und gleichzeitig technologiekritische Perspektive vermisst Helen, wenn es darum geht gerade Kinder für Technologie zu begeistern – ein weiteres Thema, das ihr besonders wichtig ist.
"Also was mich wirklich interessiert, ist, für wen Technik gemacht wird und wie sie unterrichtet wird", sagt sie. "Da gibt es viel zu tun, um den Zugang zu Technologie demokratischer und sozialer zu machen, und, ja, einfach Freude und Licht und Kunst in das Thema zu bringen. Am Ende des Tages ist die Technologie keine abstrakte kalte Mathematik. Es ist ein Werkzeug, das man für alles Mögliche benutzen kann, so wie Stift und Papier."
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