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Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums
Auf der Flucht vor den Roten Khmer

Vaddey Ratner war fünf Jahre alt, als die Roten Khmer in Pnom Penh einfielen und die Bewohner aufs Land trieben. Sie konnte entkommen - nicht aber, ohne ihre Schwester und ihren Vater, einen Prinzen, zu verlieren. In ihrem Buch "Im Schatten des Banyanbaums" erinnert sie sich an die Flucht - ein bewegendes document humain.

Von Martin Ebel | 29.07.2015
    Die Gräuel der Zeitgeschichte geraten schnell in Vergessenheit, weil sie in unserem Bewusstsein von immer neuen verdrängt werden. Gerade fliehen die Menschen vor dem Morden in Syrien, vielleicht morgen schon vor neuen Massakern im Irak? Die von Ruanda liegen schon eine Weile zurück, noch länger das grausige Großexperiment von Kambodscha: ein ganzes Volk "umzuerziehen", das heißt Städte zu entvölkern, Familien zu zerreißen, Gebildete zu ermorden, Büroarbeiter zu Reisbauern zu machen. Der Steinzeitkommunismus von Pol Pot & Co. kostete von 1975 bis 1979 etwa zwei Millionen Menschen das Leben, einem Drittel der Bevölkerung; das Land ist bis heute traumatisiert, auch weil kaum einer der Täter wurde zur Verantwortung gezogen wurde. Die wenigen Prozesse wurden gegen alte Männer geführt, die sich an das, was sie einst waren und taten, kaum mehr zu erinnern schienen. Und vergessen ist übrigens auch, dass es in Deutschland seinerzeit ideologisch vernagelte Studenten gab, die die Parolen einer "Demokratischen Republik Kamputschea" verbreiteten, dem Paradies auf Erden.
    In dieses "Paradies" kehrt Vaddey Ratner mit ihrem Erinnerungsbuch "Im Schatten des Banyanbaums" zurück. Ihr voller Name ist Neak Ang Mechas Ksatrey Sisowath Ratner Ayuravann Vaddey, einer Kombination von ehrerbietigen Formeln und Namensbestandteilen. Sie gehört zum kambodschanischen Königshaus, ihr Vater war ein Prinz aus einer jüngeren Linie. Dieser Vater war die prägende Gestalt ihrer Kindheit, er ist die Lichtgestalt des Buches und bis heute das Zentralgestirn im Leben der Autorin, sicher auch, weil es ein erloschenes Gestirn ist: In den Schreckensjahren ist er umgekommen, ohne dass seine Tochter bis heute erfahren konnte, wann, wo und wie.
    Die Protagonistin verstummt
    Vaddey Ratner war fünf, als die Roten Khmer Pnom Penh eroberten und die Bewohner aufs Land trieben; sie war neun, als die vietnamesischen Truppen dem Horror ein Ende machten; mit ihrer Mutter, der einzigen Überlebenden der Familie, kam sie nach Thailand und später in die USA, wo sie heute lebt. In immer neuen Anläufen hat sie versucht, die Erlebnisse ihrer Kindheit aufzuschreiben, das jetzt als Roman vorliegende Ergebnis ist leicht fiktionalisiert; die Heldin Raami ist zwei Jahre älter, wohl um manche Erinnerungen und Reflexionen glaubhafter zu machen.
    "Im Schatten des Banyanbaums" ist - ganz unabhängig von seinem süßlich-exotisierenden Titel - kein Buch, das man wegen seines literarischen Wertes lesen muss. Aber es ist ein bewegendes document humain, aus dieser Zeit und dieser Weltgegend überdies mit Seltenheitswert. Es zeichnet nach, wie ein Kind aus einer privilegierten Welt herausgerissen wird und nach und nach alles verliert: Privilegien und Sicherheit, alle Habe, den Vater, den Onkel, die kleine Schwester, die an Malaria stirbt; vor Hunger und Überanstrengung fast das Leben und schließlich, weil es für das Erlebte keine Worte gibt, auch die Sprache: Als Raami gerettet wird, ist sie verstummt.
    Der rasanten Abwärtsentwicklung entspricht eine Beschleunigung und Verknappung im Erzählfluss. Ausführlich schildert sie noch, wie der erste Rote Khmer ins elterliche Anwesen eindringt, wie die Familie am Exodus teilnimmt, erst noch in einem Wochenendhaus Station macht, dann immer weiter getrieben wird, auf Lastwagen und Ochsenkarren, in Booten, zu Fuß. Die Familie schrumpft zusammen, durch gewaltsame Trennungen und durch Tod. Die Identität des Vaters, im Buch nicht nur ein Prinz, sondern auch ein weithin verehrter Dichter, wird entdeckt; was einst Privileg war, ist jetzt das Todesurteil. Ausgerechnet die Tochter gibt seine Identität preis - die Schuld begleitet das Mädchen fortan, obwohl sie ihr - und der Entscheidung, die zu ihr führte, noch gar nicht gewachsen ist.
    Aus der Kinderperspektive
    Eine Zeit lang verbringen sie bei einem alten Bauernpaar, dem sie zugeteilt werden und das sie gewissermaßen adoptiert, bis den Roten Khmer diese menschliche Bindung auch wieder zu eng wird. Die bescheidenen Versuche, sich im Elend einzurichten, ein bisschen Würde zu bewahren, einen Rest von Ordnung im Chaos, scheitern immer wieder, es geht schließlich nur noch ums Überleben. Immer ist zu wenig Essen da, rohe Reiskörner vom Feld, Schnecken und Insekten müssen aushelfen; das Arbeitssoll ist immer zu hoch, und immer sind da die misstrauischen Augen der Funktionäre, die das "Bessere" dieser Neubauern spüren.
    Die Autorin hält die Kinderperspektive, erklärt nichts, weil es in dieser monumentalen Sinnlosigkeit, dieser Orgie der Zerstörung von Zivilisation und Menschlichkeit, auch nichts zu erklären gibt. Sie ist aber eine gute Beobachterin. Und so fällt ihr das Funktionieren von Drohung und Verschleierung in der revolutionären Rhetorik auf, sie merkt sich Parolen wie "Dich zu behalten ist kein Gewinn / dich zu töten kein Verlust" und kontrastiert sie mit den Gedichten des Vaters. Auch mit einem anderen Kontrast arbeitet Vaddey Ratner: Hier das unbeschreibliche Elend, die Willkürherrschaft der halbwüchsigen Soldaten und der Politkommissare, die fast schmerzhaft empfundene Schönheit der kambodschanischen Natur. Der Vater hat sie gelehrt, überall etwas Schönes zu sehen; diese Fähigkeit geht dem Mädchen nach und nach verloren, und so wird das Buch immer nüchterner, schneller, wortkarger. Wie im Zeitraffer verläuft die letzte Phase der Schreckensherrschaft, als Raami und ihre Mutter mit bloßen Händen an einem Staudamm mitbauen müssen, als die Bewacher schließlich fliehen und die vietnamesischen Truppen eintreffen. Und dann kommt auch schon der Hubschrauber und fliegt das stumme Mädchen aus. Wie es seine Sprache wiedergefunden hat, über das Englische, eine neue, unbelastete Sprache: Dafür steht auch dieses Buch.
    Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums. Roman.
    Aus dem Englischen von Stephanie von Harrach.
    Unionsverlag, Zürich 2014. 380 Seiten, 21,95 Euro