Kritisches Heimatbild von ungewöhnlicher Dichte

17.09.2013
Der Autor Dragan Aleksic wurde in Banat geboren, einer multiethnischen Region, die sich heute über Rumänien, Serbien und Ungarn verteilt. In seinem Roman "Zwischen Nera und Karasch" macht er die Leser mit der wechselhaften Geschichte seiner Heimat vertraut.
Eine Szene durchgeistert das ganze Buch: Der Erzähler liegt unter einem Bett im Haus seiner Schwiegereltern. Einsam und volltrunken ergibt er sich dort seinen Hirngespinsten aus Angst und Wut. Als er Stimmen hört, greift er zur Pistole und ballert los. Ob jemand der Attacke zum Opfer fällt, wird erst am Ende klar - im Epilog dieses Romans, der in einer kleinen Stadt im Osten Serbiens nahe der rumänischen Grenze spielt, ungefähr dort, wo die Flüsse Nera und Karasch in die Donau münden.

"Zwischen Nera und Karasch" lautet der Titel des zweiten Buchs des Serben Dragan Aleksić, das der Verlag Matthes & Seitz auf Deutsch veröffentlicht hat. "Vorvorgestern. Geschichten, die vom Glück handeln" hieß der 2011 erschienene Erstling. "Zwischen Nera und Karasch" handelt von der Existenz eines kleinen namenlosen Angestellten im städtischen Katasteramt. Bevor er sich am Ast eines Kastanienbaums erhängt, erzählt er aus seinem Leben, das vermutlich von den 30er- bis zu den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts reicht - und macht die Leser auch mit der in der Habsburger Zeit wurzelnden Geschichte seiner Heimatstadt vertraut.

Erschüttert vom Schrecken der Zeit
Dieser namenlose Ich-Erzähler, einziges Kind eines Stadtbeamten, wächst wohlbehütet auf. Ein bisschen zu weich sei er, zu empfindlich, den Fantasien, Büchern der Vergangenheit zugewandt, sorgt sich früh und wohl zu Recht der Arzt Kon, ein Freund der Familie, der als Jude die deutsche Besatzung überlebt und später nach Israel auswandert. Der Erzähler wird in früher Jugend durch die tödliche Krankheit einer von ihm vergötterten Popentochter traumatisiert. Abgesehen davon erschüttern ihn die Schrecken der Zeit.

1941 erlebt er die Deportation der Juden aus der Stadt, später wird er Zeuge einer Massenerschießung, inszeniert von den deutschen Besatzern als Strafaktion gegen die Partisanenarmee. Nach dem Krieg sieht er mit an, wie die Deutschen, oft Nachbarn oder Freunde der Familie, von den kommunistischen Machthabern vertrieben werden. Die Deutschen bildeten seit Jahrhunderten einen großen Teil der Bürgerschaft, nur einige hatten mit den Nazis kollaboriert. Schließlich wirft der Konflikt zwischen Tito und Stalin 1948 seine Schatten auf das Leben des Erzählers. Während Tito jetzt seine Gegner als Stalinisten niedermacht und in Lager sperrt, flieht ein sowjetbegeisterter Jugendfreund nach Rumänien.

Der Erzähler bleibt unpolitisch
Bei allem, was passiert, bleibt der Erzähler unpolitisch, sieht sich, wenn überhaupt, den christlichen Werten seiner serbisch-orthodoxen Kirche verhaftet. Sein labiler Charakter zerbricht endgültig an den Seitensprüngen seiner attraktiven Ehefrau Ljubica während und außerhalb ihrer Dienste in einer Augenambulanz der Stadt. Vor dem Abgrund kann ihn nicht einmal die geliebte kleine Tochter Gina bewahren.

Dragan Aleksić wurde 1958 in Bela Crkva geboren, im traditionell multiethnischen serbischen Banat. Bela Crkva gleicht dem fiktiven Romanort in vieler Hinsicht. Aleksić lebt seit einigen Jahren in den USA. "Zwischen Nera und Karasch" offenbart das Leben eines unglücklichen und unglückseligen Menschen vor dem Hintergrund der Vielvölkergeschichte seiner Heimat. Dragan Aleksić ist ein kritisches Heimatbild von ungewöhnlicher Dichte geglückt. Der Erzählstrom dieses liebeskranken Amokläufers nimmt den Leser gefangen und reißt ihn mit: Ein spannender, ein lesenswerter Roman.

Besprochen von Martin Sander

Dragan Aleksić: Zwischen Nera und Karasch
Roman, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013
225 Seiten, 19,90 Euro
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