Kritik und Empfindlichkeit

Zurück zur Grundfunktion der denkenden Vernunft

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Illustration: Mann und Frau diskutieren auf stützenden Händen stehend
Ehrliche Kritik ist die Basis für Weiterentwicklung, meint die Autorin Kerstin Hensel. © imago / Ikon Images /Gary Waters
Ein Kommentar von Kerstin Hensel · 27.09.2021
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Heutzutage wird Kritik oft nur noch weichgespült formuliert und wattiert überreicht. Damit schwindet die Fähigkeit zur Resilienz, also zu innerem Wachstum, meint die Autorin Kerstin Hensel.
Mit 16 glaubte ich, Romane verfassen und diese unbesehen einer geneigten Leserschaft als Buch präsentieren zu können. Meine erste Offerte scheiterte an der Feststellung eines Lektors, ich würde das Handwerk des Schreibens noch nicht beherrschen. Textseite für Textseite wies er nach, wo bei mir der Hase im Pfeffer liegt. Dabei nahm er, wie man so sagt, kein Blatt vor den Mund. Es war ein immenser, von Kompetenz getragener und somit begründeter Verriss.
Der Lektor meinte, es gäbe es für mich zwei Wege zum Erfolg. Der eine: Das Schreiben fürderhin zu lassen. Der andere: Es mit Hilfe Sachkundiger zu erlernen. Nachdem ich die kalte Dusche der Absage abgeschüttelt hatte, entschloss ich mich für den zweiten Weg.
Es war die kunstgerechte Kritik, die mich damals ans Ziel gebracht hat. Sie kam ehrlich, mitunter heftig daher. Hätte ich mich für unfehlbar gehalten, wäre ich womöglich lebenslang verletzt gewesen. Ob lobend oder monierend: Auf sachlichen Prinzipien beruhende Kritik schulte meinen Verstand, erweckte Lust und Neugier.

Kritik bedeutet, Maßstäbe anzulegen

Manchmal ärgerte ich mich über den eigenen Bockmist, aber oft brachte Kritik mich auch zum Lachen. Zuspitzung, Sarkasmus und Ironie standen gegen den erhobenen Zeigefinger. Diese kreative Methode habe ich mir selbst angeeignet und sie später im eigenen Lehramt sowie im alltäglichen Miteinander angewendet. Das irritierte einige Kritisierte zunächst, endete jedoch meistens in der Bereitschaft, Mängel zu erkennen und deren Ursachen auf den Grund zu gehen.
Philosophen aller Zeiten haben vielerlei existierende Arten von Kritik ausgeleuchtet. Kurz gesagt heißt Kritik, dass man einen Gegenstand oder eine Handlung anhand von Maßstäben beurteilt. Kritik ist eine Grundfunktion der denkenden Vernunft, eine wichtige menschliche Eigenschaft für Lernprozesse in diversen gesellschaftlichen Bereichen. Allerdings stellt Kritik in der westlichen Welt für viele ein Problem dar. Sie wird ungern empfangen und inzwischen auch ungern erteilt.
Aktuell ist eine nachlassende Fähigkeit zu bemerken, sachliche Kritik zu erfahren, anzunehmen, zu äußern und sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen. Mir scheint, als sei die Vermeidung von aktiver wie passiver Kritik der neue Wegweiser zu Wohlbehagen und Eintracht.

Ein Fehler ist ein Fehler

Ein Mathelehrer sagte mir kürzlich, man fordere von ihm, eine empfindsame Schülerseele nicht mit brutalen Hinweisen wie "Dein Ergebnis ist falsch" zu zerstören, sondern den Fehler mit ermunternden Worten zu umschreiben: "Sieh mal, in deinem Lösungsvorschlag ist noch eine Lernchance versteckt."
Und wehe, wer darüber lacht!

Pöbeleien statt offener Gespräche

Inzwischen haben viele Angst, jemanden durch Kritik zu verletzen. Ich kenne Lehrende, die aufgegeben haben, sich ernsthaft mit Arbeiten ihrer Schüler oder Studenten zu beschäftigen, denn bei der kleinsten Beanstandung sind die Bemängelten beleidigt, gestresst, fühlen sich in ihrer vermeintlichen Perfektion herabgestuft. Mediale und mentale Strömungen vermindern gegenwärtig das, was man Resilienz nennt: die Fähigkeit, mit Problemen umgehen zu können, ohne gleich beim Psychiater zu landen.
Denn es ist leider so: Gefühle watschen den Verstand ab, Unterstellungen triumphieren über Beweise, statt offener Gespräche gibt es anonyme Pöbelei. Kritisierende werden vors Moralgericht gestellt und absurde Reaktionen von Schuld und Sühne in Gang gesetzt: Am Ende tun sie Abbitte, üben (wie im Stalinismus) hasenfüßige Selbstkritik, hängen an ihre geäußerte Meinung einen Rattenschwanz von Relativierung und sprechen künftig mit einem Blatt vorm Mund. Oder gar nicht mehr.
Ein Sprichwort lautet: "Die meisten Menschen wollen lieber durch Lob ruiniert als durch Kritik gerettet werden." Ich finde, wer Kritik austeilt und annimmt, muss kompetent sein, das heißt: konfliktfähig, konstruktiv, selbstbewusst und humorvoll.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre Novelle "Regenbeins Farben".

© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
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