Kritik an Religionsamt der Türkei

Moscheen wurden zu spät geschlossen

06:13 Minuten
Ein Mitglied der Stadtverwaltung von Istanbul desinfiziert im März 2020 die Kilic-Ali-Pasa-Moschee, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern.
Die Türkei hat in den letzten Wochen mehrere Maßnahmen gegen das Coronavirus angekündigt. Zu spät, sagen Kritiker. © AFP/ Yasin AKGUL
Von Susanne Güsten · 26.04.2020
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Das Religionsamt der Türkei steht massiv in der Kritik: Die Behörde habe das Coronavirus unterschätzt und fahrlässig gehandelt, sagen Parlamentarier, Prediger und Theologen. Sie habe Pilger weitgehend unkontrolliert zurück ins Land gelassen.
Freitagsgebet in der Moschee des Präsidentenpalastes in Ankara – ein Gebet, um das es noch viel Ärger geben sollte. Nur ein paar geladene Gläubige knieten an jenem letzten Freitag im März in großen Abständen auf dem Teppich. Die Predigt hielt Ali Erbaş, der Direktor des staatlichen Religionsamtes der Türkei, das den Gottesdienst im Livestream übertrug:
"Werte Brüder, wegen der Pandemie können wir das Freitagsgebet leider nicht zusammen in den Moscheen des Landes begehen. Aber um unsere Mitbürger zumindest ein wenig zu trösten, werden wir bis auf Weiteres hier in der Moschee des Präsidentenpalastes mit einigen wenigen Gläubigen das Freitagsgebet begehen."

Generalhoheit über Moscheen, Imame und Pilger

Als Chef des staatlichen Religionsamtes ist Erbaş der oberste Glaubenshüter der Türkei. Er gebietet über eine gewaltige Behörde mit einem Milliardenbudget und mehr als 100.000 Mitarbeitern. Das Amt heuert und feuert die Imame in allen Moscheen des Landes, es schreibt die Predigten, errechnet die Gebetszeiten und kontrolliert durch seinen Hohen Glaubensrat sowohl die Deutungshoheit über den Islam in der Türkei als auch den religiösen Alltag der türkischen Muslime.
Auch für die Pilgerreise nach Mekka, die jeder Muslim einmal im Leben machen sollte, ist das Amt zuständig – sowohl für die große Hadsch als auch für die kleine Pilgerfahrt, die sogenannte Umra, von der kürzlich 25.000 türkische Gläubige zurückkehrten. Von der Verlosung der knappen Kontingentsplätze über die Impfungen bis zur Reiseleitung nimmt das Amt alles in die Hand – und da habe es in der Coronavirus-Pandemie gründlich versagt, kritisierte der Oppositionsabgeordnete Engin Altay das Religionsamt im Parlament.

Rückkehrer aus Mekka kaum kontrolliert

"Von den 25.000 Mitbürgern, die auf der Umra waren, sind 13.000 völlig unkontrolliert ins Land zurückgekehrt, die übrigen 12.000 sind nur teilweise kontrolliert worden", so Altay. "Das ist leider der Grund, dass das Coronavirus sich in unserem Land so schnell und weit verbreiten konnte. Amtlichen Zahlen zufolge handelt es sich etwa in der Provinz Isparta bei 245 von 268 Infizierten um Rückkehrer von der Umra – das sind Zahlen des Gesundheitsministeriums. Ähnlich sieht es in allen 81 Provinzen der Türkei aus. Es ist offenkundig, dass hier das Risiko nicht erkannt wurde, dass keine Vorkehrungen getroffen wurden, dass wir es hier mit Fahrlässigkeit im Amt zu tun haben."
Und mehr noch, legte Altay nach: "Als die Gesundheitskontrollen auf den Flughäfen begonnen haben, da haben die Beamten des Religionsamtes den zurückkehrenden Pilgern vor der Landung fiebersenkende Mittel verabreicht, damit sie die Thermalkameras ungehindert passieren konnten. Das ist einfach eine Schande."
Ein schwerer Vorwurf, den das Religionsamt kategorisch zurückwies: Seine Mitarbeiter hätten niemals fiebersenkende Mittel verteilt. Weitgehend unbestritten ist aber, dass die unkontrollierte Rückkehr der Pilger ein Fiasko war.

Moscheen zu spät geschlossen

Und das sei nicht der einzige Fehler des Religionsamtes in der Krise gewesen, meinen Kritiker. Erst viel zu spät habe sich das Amt im März durchgerungen, die 80.000 Moscheen im Land zu schließen, sagte der populäre Fernsehprediger Ahmet Mahmut Ünlü in einem Fernsehinterview:
"Die Moscheen hätten mindestens eine Woche früher geschlossen werden müssen, denn an jenem Freitag waren alle Pilger in den Moscheen. Die waren gerade aus Mekka zurück, wo die Kaaba wegen Seuchengefahr geschlossen wurde. Wenn jemand von der Pilgerfahrt zurückkommt nach Anatolien, dann empfängt er erst einmal massenhaft Besucher, so ist es Brauch. Und obendrein ist es Brauch, dass die Pilger ihren Besuchern den Segen erteilen, indem sie ihnen mit der Hand über das Gesicht streichen – da freut sich das Virus."
Erst drei Tage nach jenem Freitag, dem 13., entschied das Religionsamt, die Freitagsgebete bis auf weiteres auszusetzen. Die Moscheen blieben zwar zunächst offen, doch auch das ging schief: Wütende Gemeindemitglieder griffen Imame an, die das Gebet nicht mehr leiten durften. Seither rufen die Muezzine von den Minaretten zum Gebet zuhause auf.

Freitagsgebet für alle oder keinen

Das Religionsamt verfiel unterdessen auf die Idee mit dem Freitagsgebet im Präsidentenpalast, das stellvertretend für alle Gläubigen im Land stattfinden sollte. Auch das ein Fehler, meinte der Reformtheologe İhsan Eliaçık im Internet-Fernsehprogramm Medyascope:
"Solch ein Freitagsgebet darf es im Islam nicht geben. Das Freitagsgebet muss allen Gläubigen offenstehen, daran muss jeder Gläubige teilnehmen können, der gerade des Weges kommt. An einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Ort mit ausgesuchten Teilnehmern zu beten, das geht nicht."
Das sahen viele Gläubige ähnlich: Als die Bilder vom Gebet in der Palast-Moschee durch die Medien gingen, gab es in der Türkei einen öffentlichen Aufschrei der Empörung. Weniger getröstet als vielmehr verhöhnt fühlten sich viele Muslime vom Anblick des obersten Glaubenshüters, der ihnen das Freitagsgebet verwehrte und sich selbst von dem Verbot ausnahm.
Das Religionsamt hat es kein zweites Mal versucht. Selbst im Ramadan bleiben jetzt alle Moscheen im Land geschlossen – auch die im Präsidentenpalast.
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