Kritik an Film "Ein ganzes halbes Jahr"

Gefühlvolles Drama oder "Disability Death Porn"?

Ein Rollstuhl auf einer Wiese
"Ein ganzes halbes Jahr" erzählt von einer Liebe, die mit dem Suizid des behinderten Helden endet © imago stock&people
Rebecca Maskos im Gespräch mit Timo Grampes · 22.06.2016
Bestsellerautorin Jojo Moyes war von der Kritik an der Verfilmung ihres Buchs "Ein ganzes halbes Jahr" angeblich überrascht. Dabei bedient die Story um einen querschnittsgelähmten Millionär, der Erlösung in der Sterbehilfe findet, ein bekanntes Narrativ.
Timo Grampes: Will ist ein junger Mann im Rollstuhl, vom Hals abwärts gelähmt. Luisa ist die junge Frau, die ihn pflegt, und Luisa plus Will, das ist Liebe. Bis zum Schluss jedenfalls - Vorsicht Spoiler! -, an dem Will sich zum Selbstmord in die Schweiz verabschiedet. Soweit der grobe Rahmen des Kinofilms, der so heißt, wie der Bestseller, auf dem er basiert: "Ein ganzes halbes Jahr" startet morgen und wird schon jetzt stark kritisiert von Behindertenverbänden. Rebecca Maskos ist Journalistin und Mitinitiatorin des Portals Leidmedien.de, Leidmedien mit "d" und sie lebt mit der Glasknochenkrankheit, Tag Frau Maskos.
Rebecca Maskos: Hallo.
Grampes: Was genau kritisieren denn Behindertenverbände an dem Film "Ein ganzes halbes Jahr"?
Maskos: Ja, also das ist in erster Linie das Ende, von dem Sie schon eingangs sprachen. Wir erleben einen Menschen, der hat Geld, der sieht gut aus, der ist frisch verliebt. Er braucht ganz viel Assistenz, weil er einen Unfall hatte und sich nicht mehr alleine bewegen kann, und er entscheidet sich am Ende für den Selbstmord, und das ist etwas, was viele Menschen mit Behinderung, auch hoch querschnittsgelähmte Menschen nicht verstehen. Der Film sendet eine Botschaft aus. Er sagt: Behinderung ist eigentlich schlimmer als der Tod. Wenn man behindert ist und so eine schwere Behinderung hat, wo man ganz viel Pflege und Assistenz braucht, dann ist es ja total verständlich, wenn der Mensch lieber sterben will.

Film zeigt verquere Sicht auf Behinderung

Und das ist eigentlich ein bisschen konträr zu der Lebensrealität vieler behinderter Menschen, auch denen, die auf ganz viel Hilfe und Assistenz angewiesen sind, die sagen, wir leben gerne, wir mögen unser Leben. Wir tun alles oder vieles von dem, was nicht-behinderte Menschen auch tun. Wir haben auch Sex, das ist auch etwas, was in dem Film so dargestellt wird, als wenn das nicht möglich ist mit Behinderung, und der Film zeigt also eigentlich eine ganz verquere Sicht auf Behinderung, und ist auch eine, die immer wieder dargestellt wird, deswegen sprechen ja manche Aktivisten, auch, der Protest ist ja im Moment vor allem in den USA, in Großbritannien und die sprechen da auch von "Disability Death Porn", also sozusagen eine Fetischisierung des Sterbens behinderter Menschen. Also das man im Kino immer wieder sehen muss, wie behinderte Menschen sterben, das sehen wir ja einfach sehr oft im Kino – und jetzt schon wieder so ein Aufguss von so einem Narrativ, das ärgert einfach viele Leute.
Grampes: Jetzt hat Jojo Moyes, die Schriftstellerin, auf deren Roman der Film basiert, bei uns im Programm zu der Kritik folgendes gesagt:
Ja, das hat mich wirklich überrascht, das Buch ist in England seit über viereinhalb Jahren auf dem Markt, die Reaktionen, die ich von der Behinderten-Community bekam, waren positiv. Sie waren froh, dass überhaupt jemand über ihr Leben und ihre Schwierigkeiten schrieb.
Grampes: Was meinen Sie dazu, Frau Maskos, froh sein, als Behinderter überhaupt in Fiktion vorkommen zu dürfen, das muss reichen?
Maskos: Nein, also das ist in zweierlei Hinsicht fragwürdig, was sie da sagt. Also nachweislich haben Aktivisten mit Behinderung wie zum Beispiel Dominic Evans, ein Blogger, mit ihr über die Kritik an diesem Film und diesem Narrativ und auch ihrem Buch gesprochen, schon vor langer Zeit; und sie kennt die Kritik von behinderten Menschen und sie hat zugesagt, dass sie für die kommenden Projekte und in die Art, wie sie über Behinderung schreibt, miteinbeziehen will. Und jetzt zu sagen, sie kennt das gar nicht, hat da noch nie was von gehört, das stimmt einfach nicht, und das enttäuscht auch viele Leute mit Behinderung.

Klischeehafte Darstellung von Menschen mit Behinderung

Zum anderen: Es ist ja nicht so, dass Behinderung im Kino, in Büchern und im Theater nicht vorkommt. Behinderung taucht sehr oft auf, taucht sehr oft in einer klischeehaften Art und Weise auf, aber es gibt mittlerweile auch andere Darstellungen, also wir kennen zum Beispiel "Ziemlich beste Freunde", das ist ein ganz ähnliches Setting. Da haben wir einen querschnittsgelähmten Mann und auch seinen Assistenten, und die finden am Ende nach viel frustrierenden Erlebnissen aber einen guten Ausgang und das ist ja auch etwas, was dieser Film nicht transportiert, also wir sehen ja einen Will Traynor, das ist der Hauptdarsteller von "Ein ganzes halbes Jahr", der depressiv ist, der sozusagen verbittert ist, auch eine sehr klischeehafte Darstellung von Menschen mit Behinderung.
Es wird aber nie geguckt, was sind eigentlich die Ursachen seiner "Verbitterung". Dass Menschen nach nem Unfall depressiv sind, dass sie sich nicht gut finden, dass sie traurig sind, dass sie Fähigkeiten verloren haben, das ist ganz normal, das ist eine Phase, die Menschen zwangsläufig durchleben und wenn sie darin stecken bleiben und dann nicht sozusagen die Akzeptanz kommt, dann würde man eigentlich sagen, der Mensch braucht Unterstützung, der Mensch braucht vielleicht eine Therapie, wir müssen auch mal gucken, wie sind die Lebensumstände. Wie ist denn die Assistenz, gibt es überhaupt Selbstbestimmung im Leben? All das wird in "Ein ganzes halbes Jahr" überhaupt nicht gemacht, und es wird einfach irgendwann gesagt, naja gut, er will sich umbringen, dann ist das wohl so, müssen wir hinnehmen. Das würde im Fall von anderen, nicht-behinderten Charakteren niemand so machen .
Grampes: Also ist das ein destruktives Beispiel. Als positives Beispiel, filmisches Beispiel haben Sie "Ziemlich beste Freunde" erwähnt. Mir fiele vielleicht noch "Mein linker Fuß" ein, Daniel Day Lewis, ist das auch ein seriöses Beispiel und was zeichnet denn einen seriösen Umgang mit Behinderung im Film letztlich aus?

Projektionen nicht-behinderter Menschen

Maskos: Ja, also "Mein linker Fuß" ist insofern vielleicht ein gutes Beispiel, das basiert ja auf einer Autobiografie – bei "Ein ganzes halbes Jahr" ist es ja eine Fiktion, das schrieb eine nicht-Behinderte Autorin, es gibt eine nicht-behinderte Regisseurin und es gibt nicht-behinderte Schauspieler. Das heißt, was wir sehen, sind Projektionen nicht-behinderter Menschen auf das Leben mit Behinderung. Also wir sehen das, was sich die nicht-behinderte Welt vorstellt, wie es eben sein muss, mit Behinderung zu leben Jojo Moyes hat auch selber gesagt, dass sie gar keinen Menschen mit hoher Querschnittslähmung kennt, sie hat noch nie mit einem gesprochen vorher.
Das ist bei "Mein linker Fuß" natürlich anders gewesen, Daniel Day Lewis spielt einen Mensch mit Spastik, und er hat sich auch mit Menschen mit Spastik getroffen, er hat die kennengelernt. Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn man selbst behinderte Schauspieler gesucht hätte , das passiert aber auch ziemlich selten. Also da wurden Menschen mit Behinderung einbezogen. Zum einen in die Plot-Entstehung, aber auch in die Film-Entstehung, das sind Dinge, die leider oft noch fehlen. Gerade in Hollywood. Wir sehen einfach, wenn man so will ein nicht-behindertes Klischee über Behinderung und das ist ziemlich fatal, weil diese Filme werden millionenfach geschaut und viele Menschen haben keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung, und das ist dann die Botschaft, die sie bekommen: Ein Leben mit Behinderung ist nicht lebenswert, das Leben ist dann vorbei und das ist einfach in der Realität nicht so.
Grampes: Rebecca Maskos, besten Dank für das Gespräch!
Maskos: Bitteschön.
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