Krise in Frankreich

"Die radikalen Kräfte wollen Chaos"

Ein Demonstrant der "Gelbwesten" mit einer französischen Flagge inmitten von Tränengas in Paris
Ein Demonstrant der "Gelbwesten" inmitten von Tränengas in Paris © AFP
Hans Stark im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.12.2018
In Frankreich steht die Regierung einer Gelbwesten-Front gegenüber, die Links- wie Rechtspopulisten für ihre Zwecke einzuspannen versucht. Einige ihrer Forderungen könnten Frankreich politisch ernsthaft gefährden, sagt Politikwissenschaftler Hans Stark.
Dieter Kassel: In Paris und auch anderswo in Frankreich wird aufgeräumt nach den Tumulten vom Wochenende. Rein praktisch ist das trotz des enormen Sachschadens durchaus zu machen, das politische Aufräumen aber ist sehr viel schwieriger. Für heute waren eigentlich Gespräche geplant zwischen Vertretern der Bewegung der gelben Westen und der französischen Regierung in Form des Premierministers Philippe vor allem. Es wird sie wohl nicht geben, laut Agenturmeldungen haben die Vertreter der gelben Westen, die eigentlich mit der Regierung sprechen wollten, dieses Treffen abgesagt, weil radikale Kräfte innerhalb der Bewegung sie bedroht hätten. Allerdings ändert das nichts daran, dass sich Fragen stellen über diese Tumulte und über die Gewaltbereitschaft hinaus, über die wirklichen Gründe der Unruhe in Frankreich – und diese Fragen wollen wir stellen: Hans Stark. Der deutsche Politikwissenschaftler lebt seit 1983 in Frankreich, hat dort seine akademische Laufbahn absolviert und ist seit 2012 Professor für zeitgenössische deutsche Landeskunde an der Universität Paris-Sorbonne. Schönen guten Morgen, Professor Stark!
Hans Stark: Guten Morgen!
Kassel: Angesichts dieser Absage und auch der Tumulte vom vergangenen Wochenende entsteht in Deutschland immer mehr das Bild, die Bewegung der gelben Westen sei längst von radikalen Kräften sowohl aus dem rechten als auch aus dem linken Spektrum übernommen worden. Ist das so?
Stark: Nein, das ist nicht so. Also insgesamt, die Bewegung der gelben Westen ist eine wirklich sehr, sehr breite, ich würde schon fast sagen: eine Graswurzelbewegung, in der es selbstverständlich radikale Kräfte gibt und die sich auch durchzusetzen verstehen, die allerdings nicht die Mehrheit sind in dieser Bewegung. Das ist ganz wichtig zu unterstreichen.
Kassel: Was, glaube ich, den meisten inzwischen klar sein dürfte, ist, es geht natürlich nicht allein um die geplante Benzinpreiserhöhung der französischen Regierung. Das war der Anlass, aber nicht der Grund. Was steckt hinter dieser Bewegung und ihrer Kraft?

Schwere wirtschaftliche Krise

Stark: Es gibt mehrere Gründe, um noch mal zurückzukommen auch auf Ihre Frage, warum jetzt nicht gesprochen wird. Gäbe es Gespräche, hätten wir eine erste Entspannung. Es gibt, obwohl es nur eine Minderheit ist in dieser Bewegung der gelben Westen, in der Tat sehr starke radikale Kräfte, die wollen Chaos in Frankreich, und Chaos heißt auch nicht nur Tumulte, wie wir am Samstag gesehen haben, sondern auch absolut keine Gesprächsbereitschaft gegenüber dem, was die AfD hier in Deutschland jetzt ein politisches System nennen würde, und das macht die Sache so schwierig.
Die gelben Westen sind politisch nicht repräsentiert. Die haben im Grunde genommen auch keine Sprecher. Sobald ein Sprecher hervorkommt und sich praktisch sein Outcome macht als Repräsentant einer Bewegung, wird er auch schon wieder zur Seite geschoben, weil in dieser Bewegung will man einfach wirklich keine politischen Gespräche führen, von der radikalen Seite jedenfalls, mit der Regierung.
Dahinter stecken natürlich zwei Sachen: Das eine, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat, das waren die Benzinerhöhungen, die es für einen Teil der Franzosen sehr, sehr schwierig macht, jetzt inzwischen über den Monat zu kommen, und zwar die Franzosen, die aufgrund der hohen Immobilienpreise aus den Städten herausgedrängt wurden und jetzt 40 bis 50 Kilometer, sagen wir ungefähr, auf dem flachen Land in kleinen Städten wohnen und jeden Tag pendeln müssen und für die es keine Pendlerpauschale gibt wie in Deutschland. Für die sind natürlich die Benzinerhöhungen eine wirkliche Katastrophe. Insgesamt ebnet sich schon diese ganze Bewegung ein in einen langfristigen Prozess.
Wir haben eine wirtschaftliche Krise hier in Frankreich seit 2008, die ist in Deutschland viel schneller überwunden worden. In Frankreich hält sie an, und die Mittelschicht leidet besonders unter dieser Krise, und wenn wir jetzt von der Krise mal absehen von 2008, also die Immobilienkrise von den Lehman Brother angefangen bis zur Eurokrise, insgesamt ist Frankreich im Grunde genommen seit den letzten 30 Jahren, also seit dem Ende des französischen Wirtschaftswunders in den 80er-Jahren, in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit einer hohen Arbeitslosenrate, insbesondere bei der Jugend. All diese Probleme fließen jetzt ein in diese Bewegung.

Keine Akteure, die regional Dampf ablassen

Kassel: Nun hat Frankreich ein traditionell sehr zentralistisches politisches System. Die Departements und die Regionen, trotz einiger Reformen, haben ja relativ wenig eigene Zuständigkeiten. Ist das, was wir jetzt erleben, auch so eine Art von Kampf zwischen Paris und dem kompletten Rest des Landes?
Stark: Natürlich. Das ist ein anderes Problem: Wir haben keine föderalen Strukturen hier in Frankreich. Wir haben also auch keine politischen Akteure, die auf lokaler und regionaler Ebene, sagen wir mal, ein bisschen Dampf ablassen können. Alles drängt auf die Regierung, und on the top sozusagen ist das Elysee, und die Zielscheibe heute der Proteste ist jetzt schon seit Langem Emmanuel Macron. Das ist natürlich insgesamt dem politischen System in Frankreich geschuldet, dieser pyramidalen Struktur, die wir in diesem Land haben.
Kassel: Aber was kann Macron im Moment überhaupt tun? Ich meine, es sieht zwar nicht danach aus, aber selbst wenn er erst mal diese Benzinpreiserhöhung zurücknehmen würde, wäre dann schlagartig wieder Frieden?
Ein Verhältniswahlrecht würde Frankreich nicht guttun
Stark: Frieden mit Sicherheit nicht. Es würde der Spannung sicherlich etwas nehmen, aber die Forderungen gehen inzwischen weit darüber hinaus. Die gelben Westen – also insofern sie überhaupt über einen politischen Konsens verfügen, was ja, wie gesagt, schon infrage zu stellen ist –, die gelben Westen wollen insgesamt eine Erhöhung der Kaufkraft der Franzosen, vor allen Dingen der Kaufkraft der unteren Mittelschicht. Das bedeutet zum Beispiel ein Anheben also der unteren Grenze für die Gehälter, also des französischen SMICs, des Mindestgehaltes, das ist die allererste Forderung.
Die geht noch weiter, und da wird es jetzt politisch brisant: Die gelben Westen fordern die Einführung des Verhältniswahlrechts in Frankreich. Wir haben ja hier ein Mehrheitswahlrecht. Ein Verhältniswahlrecht würde bei Neuwahlen in Frankreich zu italienischen Verhältnissen führen, alldieweil die extreme Linke, also die La France insoumise, die französische Linke sozusagen, und der Front National, der jetzt heute Rassemblement National heißt, also die extreme Rechte, zusammen in den Umfragen bei knapp 50 Prozent liegt zusammen. Also ein Verhältniswahlrecht in Frankreich würde hier die politische Instabilität noch bei Weitem erhöhen.
Kassel: Hans Stark, Professor für zeitgenössische deutsche Landeskunde an der Universität Paris-Sorbonne, über das, was gerade in Frankreich passiert und vor allen Dingen die Hintergründe. Herr Stark, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Stark: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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