Kriegsverbrechen in Italien

Der Atlas des Grauens

Der deutsche Diktator Adolf Hitler (l) und der italienische Diktator Benito Mussolini (rechts dahinter) inspizieren eine italienische Truppe am Brenner Pass an der deutsch-italienischen Grenze kurz vor ihrer Konferenz über die militärischen und politischen Kampagnen für den kommenden Winter. Aufnahme vom Oktober 1940. Es war das erste Treffen der Diktatoren nach dem 18. Juni 1940 in München. Foto: UPI |
Adolf Hitler und Benito Mussolini inspizieren eine italienische Truppe am Brennerpass. © picture alliance
Von Thomas Migge · 14.08.2017
Das Massaker von Sant’Anna 1944 ist eines der brutalsten, das die Wehrmacht in Italien beging. Eines von Hunderten, wie der jetzt erschienene "Atlas nationalsozialistischer und faschistischer Kriegsverbrechen 1943 bis 1945" nachweist. Viele waren bisher unbekannt.
"Aus den Viehställen wurden die Tiere gezerrt. Dann drängte man die Menschen hinein. Auf 20 Quadratmetern waren das sicherlich 50 Personen. Ganz eng war es. Die Deutschen warfen Handgranaten in den Stall. Wer sich nach den Explosionen noch bewegte, wurde erschossen. Um auf Nummer sicher zu gehen benutzten sie dann noch Flammenwerfer."
Ennio Mancini war noch ein Kind, als deutsche Soldaten am 12. August 1944, als Antwort auf einen antifaschistischen Partisanenangriff, im toskanischen Sant’Anna di Stazzema 560 Einwohner, darunter 130 Kinder, brutal ermordeten.
Ein Massaker von vielen. Von hunderten, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission nach vierjähriger Arbeit 2012 in einem Forschungsbericht nachwies. Die deutsche Wehrmacht, die zwischen 1943 und 45 weite Teile des ehemaligen Achsenpartners besetzt hielt, tötete massenhaft. Das Massaker von Sant’Anna ist eines der bekanntesten deutschen Kriegsverbrechen in Italien.

Den Opfern einen Namen geben

Auch das italienische Heer ging gegen die eigene Bevölkerung vor. Nach dem Sturz von Diktator Mussolini im Juli 1943 und der Schaffung eines faschistischen Teilstaats in Norditalien wurden alle Antifaschisten brutal verfolgt - durch Deutsche und auch durch Italiener, wie der jetzt im Wissenschaftsverlag "Il Mulino" erschienene, zu deutsch, "Atlas nationalsozialistischer und faschistischer Kriegsverbrechen 1943 bis 1945" minutiös nachweist.
Die Historikern Chiara Dogliotti war an der Sisyphosarbeit der Zusammenstellung aller Kriegsverbrechen mitbeteiligt: "In allen Regionen waren Historiker in den vergangenen Jahren am Werke, um sämtliche verfügbare Daten zusammenzutragen. Wir beschränkten uns dabei nicht nur auf Massaker, denen viele Menschen zum Opfer fielen, sondern auch auf nationalsozialistische und faschistische Delikte gegen Einzelpersonen. Uns ging es darum, auch diesen Opfern einen Namen zu geben, denn über die schlimmsten Massaker gibt es ja bereits genug historische Literatur."
Bei fast 6000 Übergriffen durch faschistische und nationalsozialistische Soldaten zwischen 1943 und 1945 starben circa 24.000 Italiener. Chiara Dogliotti: "Wir haben die unterschiedlichsten Quellen genutzt: Private und staatliche, regionale und städtische Archive sowie Aussagen Überlebender. Nur so gelang es uns, ein sehr engmaschiges Opfernetz zu erstellen."

Konzentration auf Mussolinis so genannte Sozialrepublik

Bei der Lektüre des Buches fällt eine erschreckende Konzentration von Morden an Zivilisten in Regionen auf, die heute zu den von Deutschen am meisten besuchten Feriengebieten gehören: die Toskana, der Gardasee und Ligurien. Damals bildeten sie das Herzstück von Mussolinis so genannter Sozialrepublik.
Sämtliche Kriegsverbrechen italienischer Faschisten und der nationalsozialistische Besetzer Italiens sind auch online konsultierbar, auf einer Website zum Buch - darunter auch die einzelnen Karteikarten der an dem Projekt beteiligten Historiker, mit Verweisen auf Täter, Opfer und die Umstände der Kriegsverbrechen. Ein Horrorkatalog, in dem auch zahllose Vergewaltigungen, Verschleppungen, Folterungen verzeichnet sind. Nicht wenige der in dem Atlas genannten Ermordungen waren bisher der Geschichtswissenschaft unbekannt. Die Autoren entreißen diese bisher von der Forschung unbeachteten Opfer der Vergessenheit.
Neben dem Historiker Gianluca Fulvetti ist Paolo Pezzino einer der beiden Herausgeber des Buches: "Erst seit rund 20 Jahren beschäftigt sich die italienische Geschichtswissenschaft mit dem Faschismus. Spät, denn bis auf einige Fälle, wie den des in Italien verurteilten deutschen Kriegsverbrechers Erich Priebke, wurde dieses Thema bei uns klein gehalten, um, und das betrifft einen Gutteil der Nachkriegszeit, die bilateralen Beziehungen zu Deutschland nicht zu belasten. Bei uns in Italien war man viel zu lange viel zu wenig an diesen Kriegsverbrechen, bei denen Deutsche und Italiener oft zusammenarbeiteten, interessiert."

Ein Standardwerk des Grauens

Der "Atlas der Kriegsverbrechen" verdeutlicht, wie gefürchtet die Antifaschisten zwischen 1943 und 1945 waren. Es herrschte eine, so Historiker Gianluca Fulvetti, "wahre Partisanenpsychose" vor. Sie war es, davon sind die Autoren überzeugt, die einen guten Teil der unmenschlichen Gewaltausbrüche gegen italienische Antifaschisten erklärt. Deutlich wird auch der unterschiedliche Umgang der deutschen Besatzer mit italienischen Antifaschisten: während Hitlers Botschafter in Mussolinis faschistischem Nachfolgestaat am Gardasee, Rudolf Rahn, versuchte, Massaker in Grenzen zu halten, ging Feldmarschall Albert Kesselring mit äußerster und fast schon fanatischer Gewalt vor.
Der Atlas nazionalsozialistischer und faschistischer Kriegsverbrechen in Italien ist ein Standardwerk, unerläßlich zum Verständnis jener Jahre des Grauens.
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