Kriegsspiele auf dem Balkan

Wie der Fußball den Zerfall Jugoslawiens beschleunigte

23:20 Minuten
Bengalische Feuer im Fanblock von Roter Stern Belgrad beim Finale des Europapokals der Landesmeister 1990-1991 in Bari.
Bengalische Feuer im Fanblock von Roter Stern Belgrad beim Finale des Europapokals der Landesmeister am 29. Mai 1991 in Bari. © imago images / WEREK
Von Ronny Blaschke · 10.05.2020
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In serbischen und kroatischen Fußballstadion ist Nationalismus allgegenwärtig. Vor 30 Jahren wurde dies allzu offen sichtbar, als Dinamo Zagreb zuhause gegen Roter Stern Belgrad spielte. Es folgte der Krieg im ehemaligen Jugoslawien.
Der 13. Mai 1990 geht in die Geschichte ein. Und zwar weit über den Fußball hinaus. Im Stadion Maksimir in Zagreb treffen die beiden besten Mannschaften Jugoslawiens aufeinander, Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad. Schon Stunden vor dem Spiel: Hassgesänge und Schlägereien.
Das Foto zeigt die steinerne Gedenktafel, die an das Spiel zwischen Roter Stern Belgrad und Dinamo Zagreb 1990 erinnert.
Direkt am Maksimir-Stadion erinnert eine Tafel an das Spiel zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad. © Ronny Blaschke
Der Vielvölkerstaat Jugoslawien zerfällt. Eine Konfliktlinie verläuft zwischen Kroaten und Serben, auch im Stadion von Zagreb. Die Fangruppen durchbrechen Zäune, werfen Steine, zerstören Sitzschalen. Anhänger stürmen den Rasen, Spieler flüchten in die Kabine, die Partie endet vorzeitig.
Der Publizist Krsto Lazarević hat sich intensiv mit dem Fußball auf dem Balkan beschäftigt, auch mit den Ursachen für die Gewalt:
"In den 80er-Jahren war Jugoslawien noch ein sozialistischer Staat, in dem es offiziell nicht wirklich geduldet war, nationalistische Positionen zu vertreten. Was aber natürlich im Stadion getan wurde. Was in den Achtzigern passiert ist, kann man gut sehen zwischen Titos Tod 1980, wo bei einem Spiel das ganze Publikum aufstand und sagte: 'Genosse Tito, wir verbeugen uns vor dir.' Und elf Jahre später im Maksimir-Stadion beim Spiel Dinamo gegen Roter Stern, das manche als Anfang der Balkankriege mythologisieren. Innerhalb dieser elf Jahre ist aus dem Fußball, der ein sozialistisches Land einen soll, ein Sport geworden, der viele Ethnien in der Region trennt."

Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen

Es ist vor allem der Politiker Slobodan Milošević, der Ende der 80er-Jahre den serbischen Nationalismus schürt. Milošević schimpft über Wirtschaftsprobleme, betont Unterschiede zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken. Er wünscht sich die Vereinigung aller Serben in einem Staat.
Der jugoslawische Geheimdienst bringt in Belgrad auch Fußballfans auf Linie. Die zentrale Figur: Željko Ražnatović, genannt Arkan. Der Fan-Anführer von Roter Stern gründet im Oktober 1990 die Serbische Freiwilligengarde. Eine paramilitärische Truppe, berichtet Lazarević, der über den Balkan einen Blog betreibt.
Nach dem Finale des Europapokals der Landesmeister 1990/1991in Bari präsentiert Robert Prosinecki von Roter Stern Belgrad die Trophäe.
Nach dem Finale des Europapokals der Landesmeister 1990/1991 in Bari präsentiert Robert Prosinecki von Roter Stern Belgrad die Trophäe.© imago images / WEREK
"Wir haben 1991 eine Situation, in der Roter Stern Belgrad Europapokalsieger wird, die beste Mannschaft Europas. Der Fan-Anführer von denen ist jemand, der wenige Monate danach zu einem Kriegsverbrecher wird. Arkan ist eine Person aus der Belgrader Unterwelt, der halt Geld damit gemacht hat, dass er die ganzen Merchandise-Artikel und die Rechte an den Fanartikeln hatte. Der hat dann eben Hunderte Leute aus dem Umkreis der Hooligans von Roter Stern Belgrad rekrutiert und die dann in den Krieg geführt, als Freischärler."Für den Traum eines großserbischen Reiches zieht Ražnatović in den Krieg. Zunächst gegen kroatische, dann gegen bosnische Einheiten.
Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen: Die Hooligans von Roter Stern Belgrad begehen Kriegsverbrechen. Und sie feiern diese später im eigenen Stadion mit gestohlenen Straßenschildern aus Vukovar, einer weitgehend zerstörten Stadt im Osten Kroatiens.
Jugoslawische Soldaten und serbische Paramilitärs, darunter Zeljko "Arkan" Raznatovic, ziehen nach einem dreimonatigen Kampf zwischen den kroatischen Streitkräften und der jugoslawischen Bundesarmee durch Vukovar an bombardierten, von Einschusslöchern durchlöcherten Gebäuden und mit Trümmern gefüllten Straßen vorbei. Die jugoslawische Bundesarmee zerstörte die kroatische Stadt vollständig und tötete Tausende von Zivilisten.
Zerstörte Stadt: Jugoslawische Soldaten und serbische Paramilitärs, darunter Zeljko "Arkan" Raznatovic, legten Vukovar in Trümmern.© Getty Images / Sygma / Antoine Gyori
Lazarević über Arkan:"Um am Beispiel Vukovar zu bleiben: Dort ist er mit seinen Freischärlern in ein Krankenhaus und hat dort 300 Zivilisten entführt und die umbringen lassen. In Bosnien-Herzegowina hat er ähnliche Verbrechen begangen."

Panzer neben dem Stadion

Das Dayton-Abkommen 1995 lässt den Krieg zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien zur Ruhe kommen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien klagt mehr als 160 Personen wegen schwerer Verbrechen an. Die Rede ist aber auch von mehr als 15.000 Unterstützern in Polizei, Militär und Verwaltung. Viele der Täter entziehen sich der Strafverfolgung. Auch Ražnatović, der im Jahr 2000 in einer Hotellobby erschossen wird.
Porträt von Arkan, dem "Chef der serbischen Milizen" in Jugoslawien im April 1999.
Aus dem Stadion ins Kriegsgebiet: Porträt von Arkan, dem "Chef der serbischen Milizen", vom April 1999© Getty Images / Gamma-Rapho / Michel Ponopresses
Wer heute durch die serbische Hauptstadt Belgrad läuft, stößt schnell auf Graffitis und Aufkleber von Fußballfans. Martialische Motive, die vermummte und kampfbereite Männer zeigen. In der Nähe des Stadions von Roter Stern ist eine Gedenktafel den Opfern der Jugoslawienkriege gewidmet. Laut dem ehemaligen Belgrad-Korrespondenten Lazarević gehört die Verharmlosung von Kriegsverbrechen bis heute zur serbischen Fankultur. "Dann haben sie einen Panzer vors Stadion gestellt, der 1991 durch Vukovar gefahren ist.
Spielende Kinder auf einem Panzer vor dem Stadion Marakan in Belgrad.
Panzer vor dem Stadion Marakana in Belgrad.© Ronny Blaschke
Wo innerhalb von drei Monaten diese kroatische Stadt von Truppen der jugoslawischen Volksarmee und serbischen Freischärlern zerstört wurde. Das finden die bis heute gut und stellen das Ding da hin. Also sowas ist nicht normal."

Jubel für die Völkermörder

Ein anderes Beispiel: Der bosnisch-serbische General Ratko Mladić ist 1995 verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, für den Tod von mehr als 8000 bosnischen Männern und Jugendlichen. Mladić wird 2017 wegen Völkermord zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Serben sehen in Mladić jedoch einen Verteidiger ihrer Kultur.
Bei einem Spiel zwischen Partizan und Roter Stern Belgrad im März 2019 ist ein Transparent mit dem Konterfei des ehemaligen bosnisch-serbischen Kriegskommandanten Ratko Mladic und ein Totenkopf zu sehen.
Fans bei einem Spiel zwischen Partizan und Roter Stern Belgrad im März 2019 zeigen ein Transparent mit dem Konterfei von Ratko Mladic.© imago images / Aleksandar Djorovic
Nach seiner Verurteilung feiern Ultras von Roter Stern Belgrad im Stadion Ratko Mladić. Fans des Rivalen Partizan Belgrad bedanken sich bei seiner Mutter. Spieler aus der nordserbischen Stadt Novi Sad tragen sogar T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić. Ähnliche Motive gehören auch zum Fußball der serbisch geprägten Gebiete Bosniens, erzählt der Investigativjournalist Semir Mujkić aus Sarajevo.
"Wir haben über paramilitärische Trainings für junge Männer berichtet. Es gibt prorussische Organisationen, die in serbischen Gebieten auf der Suche nach Söldnern sind. Oft finden sie diese im Hooligan-Milieu. Das sind stramme Neonazis, zu allem bereit. Und diese Söldner kämpfen dann für russische Interessen, zum Beispiel im Osten der Ukraine oder in Syrien."
Vor dem Heimspiel von Roter Stern Belgrad 2011 gegen Zenit Sankt Petersburg wird die russische Hymne gespielt. Folkloregruppen in serbischen und russischen Trachten treten auf, Ehrengast Wladimir Putin wird bejubelt. Während der Meisterfeier von Roter Stern 2014 zeigen Fans eine Fahne der selbsternannten Volksrepublik Donezk. Die ostukrainische Stadt war von prorussischen Separatisten besetzt worden.

Szenen wie aus einem Bürgerkrieg

Filip Vulović hat für diese Art von Fußball nichts übrig, trotzdem muss er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren von "Belgrade Pride", einer Veranstaltungsreihe der LGBT-Gemeinde mit Workshops, Konzerten und einem Straßenumzug, jedes Jahr im September.
Vulović führt durch das Infozentrum der Gruppe, in der Nähe der Belgrader Fußgängerzone. Zwischen Broschüren und Plakaten informieren Zeittafeln über die Geschichte ihrer Bewegung. Vulović zeigt auf das Foto eines blutüberströmten Mannes. Es stammt von der "Belgrade Pride" aus dem Jahr 2010.
Das Foto zeigt serbische Bereitschaftspolizisten bei bei der Festnahme eines schwulenfeindlichen Demonstranten während der Gay-Pride-Parade in Belgrad 2010.
Festnahme nach Krawallen: Am Rand der Gay-Pride-Parade in Belgrad 2010 kam es zu Ausschreitungen.© picture alliance / dpa / EPA / Srdjan Suki
"Die Stadt sah aus wie ein Kriegsgebiet. Auf der einen Seite Tausende Polizisten, Wasserwerfer und Hubschrauber. Auf der anderen Seite rund 6.000 Hooligans, die aus dem ganzen Land nach Belgrad gekommen waren. Die Hooligans wollten unsere Aktionen zum Abbruch bringen. Sie verletzten Polizisten, zerstörten Läden und setzten sogar einen Bus in Brand. Der Schaden ging in die Millionenhöhe. Es war wie Bürgerkrieg." In den Wochen zuvor hatten Hooligans, rechtsextreme Politiker und Vertreter der serbisch-orthodoxen Kirche zum Protest gegen "Belgrade Pride" aufgerufen.
Der Patriarch Irinej, das Oberhaupt der Kirche, verglich Homosexuelle mit "Kinderschändern". Die Polizei wirkt dann beim Schutz des Straßenumzuges überfordert. Sie bringt viele Schwule und Lesben in entlegene Stadteile, setzt einige sogar in Vororten ab. "Die Medien haben tagelang darüber berichtet", sagt Vulović. "Es gab nur noch dieses eine Thema. Viele Leute haben negativ über Homosexualität gesprochen.
Bei einer Anti-Schwulen-Demonstration am 09. Oktober 2010 in Belgrad, halten Menschen serbische Flaggen und anti-schwule Transparente in der Hand.
Demonstration in Belgrad gegen Homosexuelle am 9. Oktober 2010.© picture alliance / dpa / EPA / Srdjan Suki
Ich war damals in der Pubertät und fand allmählich heraus, dass ich auf Männer stehe. Die Bilder der Hooligans haben mich verstört. Sie haben unsere Bewegung zurückgeworfen. Bis 2014 durfte Belgrade Pride dann nicht mehr stattfinden, angeblich zum Schutz unserer Teilnehmer."

Hooligans steigen zu Unternehmern auf

Die Ausschreitungen 2010 lassen die damalige serbische Regierung schlecht dastehen. Schnell machen Vermutungen die Runde, dass die Opposition die Hooligans unterstützt habe. Wie sonst hätten Tausende von ihnen aus entlegenen Landesteilen in Bussen nach Belgrad gelangen können?
Einer der damaligen Kritiker ist seit 2017 Staatspräsident: Aleksandar Vučić. Immer wieder erinnert Vučić an seine Vergangenheit in der Fanszene von Roter Stern Belgrad, erzählt der Journalist Slobodan Georgijev von dem investigativen Netzwerk Birn. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Hooliganszene.
Aleksandar Vucic beim Qualifikationsspiel zur Europa League zwischen Roter Stern Belgrad und Stade Rennes 2011. Er steht an einer Stadion-Brüstung, an der Fan-Schal gebunden ist.
Aleksandar Vucic 2011 bei dem Qualifikationsspiel von Roter Stern Belgrad zur Europa League gegen Stade Rennes.© imago images / Camera 4
"Das ist wie eine Armee, es gibt Anführer und Soldaten. Unter der Woche arbeiten viele Hooligans als Drogendealer, Zuhälter oder Türsteher. Das sind meist rechtsradikale Leute, die schnell Tausende Männer für die Straße mobilisieren können. Einige Parteien beauftragen Hooligans als Sicherheitskräfte. In der Amtszeit von Präsident Vučić sind einige sogar zu erfolgreichen Unternehmern aufgestiegen."
Es ist ein offenes Geheimnis in Belgrad, dass der serbische Geheimdienst Kontaktleute in den großen Fanszenen hat, auch um Proteste gegen die Regierung zu verhindern. Der Reporter Georgijev listet auf, wer bei Roter Stern Belgrad ein und aus gehe: Polizisten, Anwälte, Beamte. Der Fußball sei ein Symptom für Korruption und Machtmissbrauch in der serbischen Politik.
"Es ist gefährlich, sich als Journalist mit den Hooligans zu beschäftigen", erklärt Georgijev. "Selbst wenn wir Strafraten von ihnen aufdecken, hat das selten juristische Konsequenzen. Die Behörden schauen weg. In großen Teilen der Bevölkerung gelten Hooligans als Wächter der nationalen Interessen. Sie verteidigen Serbien gegen Bosnien und gegen Kroatien, so ist das Narrativ auch in Gesängen in Stadien. Als der Kosovo sich 2008 von Serbien unabhängig erklärte, zogen die Hooligans wütend auf die Straße. Bis heute wollen sie die Unabhängigkeit nicht akzeptieren. Ich jedenfalls gehe nicht mehr ins Stadion. Ich fühle mich dort nicht sicher."

Spannungen seit Jahrhunderten

Serben und Kroaten: Dieses Spannungsverhältnis ist Jahrhunderte alt und prägt gerade im zwanzigsten Jahrhundert unterschiedliche politische Systeme. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg genießen Serben etliche Privilegien im Königreich Jugoslawien. Unter den rund 650 Ministern der kurzlebigen Regierungen sind mehr als zwei Drittel serbischer Herkunft. Das erste Fußballnationalteam Jugoslawiens wird dagegen 1919 in Zagreb gegründet, die meisten Spieler haben kroatische Wurzeln, berichtet der britische Historiker Richard Mills:
"Der Fußball verdeutlicht damals einen politischen Grundsatzstreit. Einige Funktionäre fordern eine Zentralisierung in Belgrad, andere wollen mehr Autonomie für die Regionen. Bei einer Versammlung gibt es Handgemenge, die Polizei muss einschreiten. 1929 wird der Fußballverband nach Belgrad verlegt. Daraufhin boykottieren kroatische Spieler das jugoslawische Nationalteam. So kommen bei der ersten WM 1930 in Uruguay fast ausschließlich Serben zum Einsatz."
Nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert der Partisanenkämpfer Josip Broz, genannt Tito, einen kommunistischen Einparteienstaat. Jeder Mensch ist Bürger Jugoslawiens und einer Teilrepublik. Tito lässt Kritiker aus dem Weg räumen, aber er ist dabei nicht so brutal wie Josef Stalin.
"Brüderlichkeit und Einheit." Dieser Leitspruch Titos prägt über Jahrzehnte das Alltagsleben: Kulturvereine, Lesegesellschaften, Musikgruppen. Und auch den Fußball, sagt Mills, Autor des Buches "The Politics of Football in Yugoslavia":
"In vielen Fällen ist die politische Einmischung sehr direkt. Landeswert werden Klubs mit kommunistischer Symbolik gegründet: Roter Stern, Partizan oder Proletar.
Viele Vereine mit eindeutigen ethnischen und nationalistischen Hintergründen werden verboten. So wollen die Kommunisten Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen früh unterbinden."

Fans müssen ins Gefängnis

Doch es gibt Ausnahmen wie Hajduk Split, gegründet 1911. Die südkroatische Hafenstadt Split wird 1941 von italienischen Truppen besetzt. Hajduk weigert sich, in der italienischen Liga zu spielen, und schließt sich als Armeeteam den jugoslawischen Partisanen an.
Nach dem Krieg wollen die Kommunisten Hajduk als Vorzeigeklub nach Belgrad versetzen, doch der Verein lehnt ab. Mills erläutert:
Spieler von Hadjuk Split bei der Siegerehrnug mit dem Marschall-Tito-Cup, den sie im Finale gegen Buducnost in Belgrad am 24. Mai 1977 gewannen.
24. Mai 1977: Spieler von Hadjuk Split mit dem Marschall-Tito-Cup, den sie im Finale gegen FK Buducnost aus Titograd in Belgrad gewannen.© Getty Images / Keystone / Hulton Archive
"1950 gründen Studenten in Split die Fangruppe Torcida. Hajduk steht kurz vor dem Gewinn der jugoslawischen Meisterschaft, der Gegner im entscheidenden Spiel ist Roter Stern Belgrad. Anhänger von Torcida tauchen vor dem Hotel auf und stören die Nachtruhe der Belgrader Spieler. Die Partei nimmt Hajduk und seine Fans unter die Lupe, aus Sorge vor kroatischem Nationalismus. Einige Anhänger müssen für kurze Zeit ins Gefängnis."
In den 50er- und 60er-Jahren erlebt die jugoslawische Wirtschaft ihre Blüte. Das multiethnische Fußball-Nationalteam gehört zu den besten der Welt. Ab den 70er-Jahren wachsen Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und soziale Ungleichheit. Immer mehr Menschen lehnen den Vielvölkerstaat ab und pflegen regionale Traditionen. Mit Trachten, Denkmälern und mit Fußball, sagt Mills von der University of East Anglia im englischen Norwich:
"Roter Stern Belgrad ist ein gutes Beispiel. Auf der einen Seite verdeutlicht die Mannschaft Anfang der 90er-Jahre den sportlichen Höhepunkt des jugoslawischen Vereinsfußballs, mit den besten Spielern aus fast allen Teilrepubliken. Auf der anderen Seite wird Roter Stern zunehmend als Symbol für Nationalismus genutzt. Fans schwenken zum Beispiel nicht mehr die jugoslawische, sondern die serbische Fahne."

Ein Tritt als nationalistischer Mythos

In Serbien erinnert man eher selten an das Jahrhundertspiel vom 13. Mai 1990. Das ist in Kroatien anders. Das liegt auch an Zvonimir Boban. Während im Stadion Maksimir Fans und Spieler aufeinander losgehen, tritt der damals 21-jährige Spieler von Dinamo Zagreb einen Polizisten.
Eine große Wandmalerei in Zagreb zeigt den Tritt des Fupballers Zvonimir Boban.
Eine große Wandmalerei in Zagreb verherrlicht den Tritt von Zvonimir Boban.© Ronny Blaschke
Für viele Kroaten: Eine Rebellion gegen jugoslawische Institutionen, die von Serben dominiert sind, erzählt der kroatische Journalist und Blogger Juraj Vrdoljak. "Jedes Jahr im Mai werden die alten Heldengeschichten erzählt: Dass der Krieg im Maksimir begonnen habe, aber das ist nicht wahr. Direkt am Stadion erinnert eine Tafel an das Spiel. Ein paar Kilometer weiter zeigt eine große Wandmalerei den Tritt von Zvonimir Boban. Schon ab den 80er-Jahren haben Fans von Dinamo Zagreb den kroatischen Nationalismus in die Stadien getragen. Einige Politiker sagen heute, sie seien dabei gewesen. 1990 stand Kroatien dann kurz vor der Unabhängigkeit von Jugoslawien. So entwickelte sich das Spiel im Nachhinein zu einem nationalistischen Mythos."
Viele Fans von Dinamo Zagreb unterstützen damals Franjo Tuđman, den ersten frei gewählten Präsidenten Kroatiens. Am 3. Juni 1990 bestreitet das jugoslawische Nationalteam in Zagreb ein Testspiel gegen die Niederlande. Die kroatischen Zuschauer pfeifen die jugoslawische Hymne aus. Bei Ligaspielen werden jugoslawische Fahnen angezündet. Im Juni 1991 erklärt Kroatien seine Unabhängigkeit. Die jugoslawische Volksarmee geht dagegen vor, es folgen vier Jahre Krieg. Eine Zeit, in der Tuđman auch im Fußball für ein "aufrechtes Kroatentum" wirbt, so der Reporter Vrdoljak.
"1993 ließ Tuđman den Namen des wichtigsten Vereins ändern, von Dinamo in Croatia Zagreb. Das wäre so, als würde man den FC Bayern in Deutschland München umbenennen. Für Tuđman war Dinamo ein Symbol des Kommunismus, diese Vergangenheit wollte er ausradieren.Viele Fans protestierten dagegen, auch mit Gesängen gegen Tuđman. Auf einer Rede schlug er zurück und verglich die Ultras mit Geheimagenten aus Belgrad. Erst nach Tuđmans Tod wurde die Vereinsumbenennung rückgängig gemacht."

Verharmlosung des Faschismus

Tuđman verharmlost in den 90er-Jahren die Ustascha. Diese faschistische Bewegung war in Kroatien zwischen 1941 und 1945 an der Macht, unter Duldung der Nationalsozialisten. Die Ustascha verbot serbische Vereine, löste gemischte Ehen auf, verdrängte das serbisch-kyrillische Alphabet aus dem öffentlichen Leben. Sie ermordeten eine halbe Million Serben, Juden und Roma.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Anhänger der Ustascha unterdrückt. Aus dem Exil heraus arbeiteten sie gegen das kommunistische Jugoslawien. Und später in den 90er-Jahren, im Widerstand gegen die Serben, beriefen sich viele kroatische Nationalisten auf die Ustascha. Auch mit Unterstützung von prominenten Fußballern wie Davor Šuker, erinnert der Reporter Juraj Vrdoljak.
"Šuker spielte für Real Madrid. 1996 besuchte er dort das Grab von Ante Pavelić, dem früheren Anführer der Ustascha. Das konnte dem Ruf von Davor Šuker allerdings wenig anhaben. Denn er gehörte zum kroatischen Nationalteam, das 1998 bei der WM Frankreich den dritten Platz belegte. In vielen Augen stärkte der Sport die Identifikation mit dem jungen Staat Kroatien.
Davor Suker hält während der Nationalhyme bei der EM 1996 die Hand auf das Wappen seines Trikots.
Davor Suker bei der EM 1996.© imago imagas / WEREK
Das rotweiße Schachbrettmuster der Trikots wurde weltberühmt. Und Franjo Tuđman ließ sich mit Spielern in der Umkleidekabine fotografieren. Er nutzte den Fußball für seinen autokratischen Regierungsstil."

Mit Pfefferspray und Schlagstöcken

Und wie ist das gesellschaftliche Klima in Kroatien mehr als 20 Jahre später? Ein Vorort von Zagreb. Zwischen Einfamilienhäusern liegt ein holpriger Fußballplatz. Zu Gast ist der selbst verwaltete Amateurklub NK Zagreb 041. Dessen Mitglieder hatten sich im Umfeld des Profiklubs NK Zagreb kennengelernt. In ihrer Ultra-Gruppe "White Angels" positionierten sie sich lautstark gegen Diskriminierung. Sie wurden angefeindet, standen im Konflikt mit Funktionären und rechten Fangruppen. 2014 gründeten sie ihren eigenen Verein. Eine der treibenden Kräfte unter den 150 Mitgliedern ist Filip.
"Wir haben viel Ablehnung erlebt, meistens blieb es bei Provokationen und Drohungen. Einmal wurden wir bei einem Spiel von Hooligans angegriffen, sie kamen aus dem Umfeld von Dinamo Zagreb. Sie trugen Masken und waren mit Pfefferspray und Schlagstöcken bewaffnet. Wir haben uns – so gut es ging – verteidigt. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt. Als alles vorbei war, haben wir auf dem Rasen sogar ein Messer gefunden."
Filip hat Sympathien für Hajduk Split, dem Klub seiner Heimatregion. Auf seinem Handy hat er Videos von Torcida gespeichert, der größten Fangruppe von Hajduk. Im August 2019 stellt Torcida in einer Stadionchoreografie die Zerstörung eines serbischen Panzers dar, begleitet von Rauchschwaden und tobendem Applaus.
Auch andere kroatische Gruppen präsentieren in ihren Kurven Wappen und Fahnen von Milizen, die im Krieg gegen Serben gekämpft haben. Filip und seine Mitstreiter von NK Zagreb 041 wollten dem etwas entgegensetzen:
"Wir haben Banner zur Unterstützung der LGBT-Gemeinde aufgehängt. Wir veranstalten Turniere und Konzerte für Geflüchtete. Aber damit stehen wir im kroatischen Fußball ziemlich allein. In Zagreb sind viele Gebäude mit Symbolen der Ustascha beschmiert, sogar meine alte Schule. Seit dem Angriff der Hooligans kommen meine Frau und mein Kind nur noch selten zu den Spielen. Wir achten genau auf Leute, die wir nicht kennen."

Rechtsrocker im WM-Taumel

In Kroatien werden die Verbrechen der Ustascha selten hinterfragt. Im Gegenteil. Nach der Qualifikation des kroatischen Nationalteams für die WM 2014 ruft der Spieler Josip Šimunić in Zagreb den alten Gruß der Ustascha. "Za dom spremni", für die Heimat bereit. Viele Fans sind begeistert.
Fans mit kroatischen Flaggen und Fußballtrikots bei einem Konzert von Marko Perkovic Thompson 2016.
Kroatische Nationalisten bei einem Konzert von Marko Perkovic Thompson im Jahr 2016.© picture alliance / PIXSELL / Dusko Jaramaz
Bei der WM 2018 scheitert die kroatische Auswahl erst im Finale. Bei der Willkommensfeier in Zagreb ist im Mannschaftsbus auch Marko Perković dabei, Gründer von Thompson. Die umstrittene Rechtsrockband ist seit Jahren bei vielen Fans und Spielern beliebt.
Der Sänger Marko Perkovic Thompson bei einem Live-Auftritt während der kroatischen Show "Sieg für die Helden", die als Höhepunkt der Sieges- und Heimatdanksagungsfeierlichkeiten stattfand. Unmittelbar nach dem Verlassen der Bühne nach dem Konzert erstattete die Polizei Anzeige wegem dem Verstoß "Za dom spremni ( For Home Ready)" laut zu skandieren. Während seiner Karriere wurde er beschuldigt, extremen Nationalismus zu fördern und den faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien zu verherrlichen, weshalb ihm 2009 Auftrittsverbot in der Schweiz erteilt wurde.
Marko Perkovic Thompson wurde während seiner Karriere mehrfach beschuldigt, extremen Nationalismus zu befördern und den faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien zu verherrlichen. © picture alliance / PIXSELL / Dusko Jaramaz
Serbien und Kroatien: Am 13. Mai 1990 im Stadion Maksimir wurde der Nationalismus im Fußball so deutlich wie selten zuvor. Es hat sich vieles geändert seitdem, allerdings nicht alles zum Besseren.
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