Kriegsgefangener Alexandr Afanasjew besucht Deutschland

Er hat sie alle überlebt

Alexandr Afanasjew, sowjetischer Soldat, überlebte Kriegsgefangenschaft und Konzentrationslager. 94-jährig kam er das erste Mal nach Kriegsende wieder nach Deutschland, hier bei seinem Besuch im nordhessischen Bad Arolsen
Alexandr Afanasjew, sowjetischer Soldat, überlebte Kriegsgefangenschaft und Konzentrationslager. 94-jährig kam er das erste Mal nach Kriegsende wieder nach Deutschland, hier bei seinem Besuch im nordhessischen Bad Arolsen © Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Von Ludger Fittkau  · 08.05.2017
Alexandr Afanasjew war Sowjet-Soldat und geriet im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft. Nach einem Fluchtversuch steckten ihn die Deutschen ins KZ. Er überlebte, ging zurück nach Russland - und kam nun, 72 Jahre nach Kriegsende, zum ersten Mal zurück nach Deutschland.
"So viele Leute. Das ist sehr interessant."
Die Journalistengruppe ist überrascht, als sie von Alexandr Afanasjew in deutscher Sprache begrüßt wird. Begleitet von Tochter und Enkelin betritt er den Raum. Der 94 Jahre alte, schlanke Mann trägt Hemd und Sakko, lächelt in die Runde. Die Fernseh- und Fotokameras, die auf ihn gerichtet sind, bringen ihn nicht aus der Ruhe.
"Ich habe alles gesehen. Den ganzen Krieg. Und sogar den Blitzkrieg."
Nach dreieinhalb Jahren im 2. Weltkrieg gerät der sowjetische Soldat Alexandr Afanasjew in deutsche Gefangenschaft. Er ist 22 Jahre alt, als er zur Zwangsarbeit ins Ruhrgebiet geschickt wird. Vor dem Gestapo-Gefängnis in Hagen erlebt er nach vier Tagen ohne Nahrung eine Szene, die er bis heute nicht vergessen hat: Aus dem oberen Stockwerk eines Hauses wirft ihm eine Frau zwei Butterbrote zu.
"Bis jetzt bin ich dieser Frau dankbar - verstehen Sie? Vier Tage und Nächte habe ich nichts gegessen und jetzt habe ich zwei Brotstücke bekommen."

Ein System größtmöglicher Qual

Vom Ruhrgebiet aus beginnt für Alexandr Afanasjew später eine Odyssee durch Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager der Nazis: Mittelbau-Dora, Mauthausen, Buchenwald, Bergen-Belsen. Das Grauen der KZs beschreibt er anhand einer Szene in Buchenwald. Afanasjew steht in einer Häftlingskolonne hinter einem italienischen Professor:
"Und ich sehe, dass er auf dem Fuß wund ist – bis zum Knochen. Und ich sehe diese weißen Knochen. Mit den Holzschuhen hat er sich wund gerieben. Und als wir stehengeblieben sind, frage ich ihn: Weißt Du von dieser Wunde? Er hat mir geantwortet: Ich weiß das, aber ich habe keine Schmerzen. Damals habe ich gedacht: Er hat sich auf den Tod vorbereitet. Er fühlt nichts. Sogar seine weißen Knochen nicht."
Alexandr Afanasjew beschreibt die Konzentrationslager als ein System, das darauf angelegt war, den Häftlingen größtmögliche Qual zu bereiten. Anders sei das in den Kriegsgefangenenlagern und einzelnen Fabriken gewesen, in denen er zuvor leben und arbeiten musste. In einem Industriebetrieb habe er geradezu Freundschaft mit einem deutschen Arbeiter geschlossen, erzählt der hochbetagte Russe:
"Er hat mir sehr oft Brotkanten gebracht. Sein Vater hatte schlechte Zähne. Er hat das Brot gesammelt und mir gebracht. Verstehen Sie? Das ist etwas für einen Kriegsgefangenen. Ein Deutscher bringt etwas, was mit helfen kann."
Auch deshalb empfinde er keinen Hass auf die Deutschen. Er habe damals dem Arbeiter sogar einen Brief geschrieben, als er gemeinsam mit anderen russischen Kriegsgefangenen einen Fluchtversuch unternahm. Einfach, um ihm zu erklären, warum er nicht mehr zur gemeinsamen Arbeit kommt:
"Wir haben aus dem Fenster unserer Baracke immer die Züge gesehen. Die einen fuhren nach rechts - nach Russland. Nach links, nach Italien. Eine Front und die andere Front. Das hieß: Wenn wir gelaufen sind und wenn wir können dorthin und uns in einem Wagen verstecken, können wir in zwei oder drei Tagen in Russland sein. Weil während des Krieges die Züge schnell fahren."

Das Kriegsende in Bergen-Belsen erlebt

Die Flucht im Ruhrgebiet scheitert. Am 25. August 1944 wird Alexandr Afanasjew durch die Dortmunder Gestapo in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Dies ist den Dokumenten im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen zu entnehmen, das der ehemalige Kriegsgefangene heute besucht. Auch, um sich dafür zu bedanken, dass man ihm dort anhand von noch vorhandenen Nazi-Dokumenten dabei geholfen hat, eine Entschädigungszahlung bei der Bundesregierung zu beantragen. 2500 Euro wird Alexandr Afanasjew demnächst bekommen.
Als er 1944 am Lagertor in Buchenwald ankommt, tauscht er noch seine Taschenuhr gegen Brot ein, das ihm ein jugendlicher Straßenhändler noch vor dem Tor anbietet:
"Als wir ins KZ Buchenwald gekommen sind, dort ist geschrieben 'Jedem das Seine' und so weiter – bleiben wir neben dem Tor stehen. Warten. Warten auf irgendwas. Und da ist ein kleiner Zigeuner, er läuft da mit dem Brot. Ich habe das bemerkt, er will das umtauschen. Und ich habe gedacht: KZ, das ist was Gefährliches. Vielleicht werde ich keine andere Möglichkeit haben, die Uhr gegen dieses Brot zu tauschen."
Seine Sprachkenntnisse, er beherrscht auch Französisch, helfen Alexandr Afanasjew, auch Buchenwald zu überleben. Oder auch der liebe Gott, an den der ehemalige Sowjetsoldat bis heute fest glaubt. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 erlebt er im Konzentrationslager Bergen-Belsen nördlich von Hannover.
"Man hat uns dort hingeschickt, auf die Seite der Engländer und die Amerikaner. Auf der anderen Seite kam die sowjetische Armee. Dort waren auch die russischen Offiziere – in Bergen-Belsen. Und mit ihnen hat man uns auf unsere Seite, der Sowjetunion geschickt. Das ist alles."
An diesem Tag in Bad Arolsen ist das nicht alles. Nachdem er den Journalisten seine Geschichte erzählt hat, besichtigt Alexandr Afanasjew noch das Archiv, in dem Millionen der Karteikarten aufbewahrt werden, die die SS und andere NS-Institutionen über ihre Opfern angelegt hatten. Wie durch ein Wunder hat er die meisten Täter überlebt:
"Ich bin 94 Jahre alt, das ist das Wichtigste."
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