Kriegserfahrung des NS-Diktators

Rezensiert von Ernst Piper · 30.01.2011
Adolf Hitler hat im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft. Seine Kriegserfahrung als Infanterist spielte während seiner Selbstdarstellung in der Weimarer Republik eine entscheidende Rolle, stellt Thomas Weber in seinem Buch fest.
Es ist wahr, Adolf Hitler hat im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft. Er war Meldegänger im Reserveinfanterieregiment Nummer 16, dem sogenannten List-Regiment. Was er später über seine Rolle als Soldat zum besten gab, hatte allerdings wenig mit der Realität gemein.

Vier Jahre lang habe er in den mörderischen Schlachten des Stellungskriegs an der deutsch-französischen Front Kopf und Kragen riskiert, um das deutsche Vaterland zu verteidigen, während jüdische Drückeberger sich bequeme Posten in der Etappe verschafften. So der Mythos, den zu verbreiten nationalsozialistische Propagandisten nicht müde wurden. Und auch in den zahllosen Hitler-Biografien, die im Lauf der Zeit geschrieben wurden, ist dieses Bild kaum je ernsthaft in Frage gestellt worden.

Doch seit kurzem wissen wir es besser. Thomas Weber, der an der Universität von Aberdeen europäische Geschichte lehrt, hat in jahrelanger Arbeit die Akten des List-Regiments sowie Soldaten-Tagebücher, Feldpostbriefe, Berichte von Feldgeistlichen, Zeitungsartikel und vieles andere durchforscht. Mit großer Akribie zeigt Weber, dass Hitlers Schilderung der damaligen Ereignisse konstruiert ist und in vielen Punkten nicht der Realität entspricht.

Ende Oktober 1914 erlebte Hitler seine Feuertaufe bei der Eroberung des flandrischen Dorfes Gheluvelt. Einem Bekannten berichtete er in einem Feldpostbrief:

"Wir kommen blitzschnell über die Felder vor, und nach stellenweise blutigem Zweikampf werfen wir die Burschen aus einem Graben nach dem anderen heraus. Viele heben die Hände hoch. Was sich nicht ergibt, wird niedergemacht. Graben um Graben räumen wir so."

Thomas Weber bemerkt dazu lakonisch: "Die Realität war weniger heroisch. Die Bayern profitierten davon, dass ihre Gegner nach wochenlangen Kämpfen kaum noch Munition hatten und mit ihren Kräften am Ende waren. Im Nahkampf waren die Männer des List-Regiments den erschöpften, aber kampferprobten britischen Berufssoldaten dennoch nicht gewachsen."

Hitler behauptet denn auch, aus dem Trupp, in dem er gekämpft hatte, habe er als einziger überlebt. Doch auch diese Selbstheroisierung entbehrt jeder realen Grundlage, denn die Verluste hatten sich damals in Grenzen gehalten. Und in jedem Falle hat Hitler nicht durch sein großes Kampfgeschick überlebt. Er war nur flüchtig ausgebildet und körperlich von so schwächlicher Verfassung, dass er in Österreich als untauglich für den Militärdienst eingestuft worden war. Weber findet für diesen Sachverhalt deutliche Worte:

"Man kann davon ausgehen, dass Hitler einfach überleben wollte und sich im richtigen Augenblick wegducken konnte, anstatt sich mit einem schlachterprobten Highlander auf einen Kampf Mann gegen Mann einzulassen."

Der Kampf um Gheluvelt war Hitlers erster Fronteinsatz und zugleich auch schon sein einziger. In "Mein Kampf" schrieb er zwar, dass es nun vier Jahre lang so weiter ging. In Wahrheit wurde er aber schon kurz darauf zum Stab des 16. Reserve-Infanterieregiments versetzt und war dort den ganzen Krieg hindurch als Meldegänger tätig, also hinter der Front, um den Bataillonsstäben Befehle des Regimentsstabes zu überbringen.

Im Sommer August 1918 wurde Adolf Hitler das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen. Aber diese Auszeichnung war gerade kein Ausweis besonderer Tapferkeit, auch wenn Hitler in "Mein Kampf" schreibt, er habe täglich dem Tod ins Auge geschaut. Tatsächlich gingen die wenigen Eisernen Kreuze I. Klasse, die gemeine Soldaten erhielten, in der Regel nicht an Frontsoldaten, sondern an Mitglieder der Regimentsstäbe, die durch den engen Kontakt zu den Vorgesetzten im Hauptquartier die Chance hatten, sich dort einzuschmeicheln.

Eine weitere Geschichtsklitterung ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Hitler erhielt den hohen Orden ausgerechnet auf Initiative des Regimentsadjutanten Hugo Gutmann, der der ranghöchste jüdische Offizier in seinem Regiment war. Adolf Hitler, der nach dem Krieg als Politiker vor allem durch völlig maßlose antisemitische Hetztiraden von sich Reden machte, verschwieg in "Mein Kampf" die Rolle, die Gutmann bei seiner Auszeichnung gespielt hatte, und behauptete stattdessen, der jüdische Offizier sei im ganzen Regiment verhasst gewesen, was frei erfunden war und in keiner Weise der Wahrheit entsprach.

Im Dritten Reich mussten die Schulkinder im Unterricht eine Geschichte lernen, die besagte, Hitler habe ganz alleine, nur mit einer Pistole bewaffnet, zwölf französische Soldaten gefangen genommen. Dazu bemerkt Thomas Weber:

"Diese Geschichte wurde bisher für nationalsozialistische Propaganda gehalten. Sie hat sich aber tatsächlich ereignet. Nur war der Held der Geschichte nicht Adolf Hitler, sondern Hugo Gutmann."

Schritt für Schritt dekonstruiert Weber den ganzen Legendenwald, den die NS-Propaganda um Hitlers Kriegseinsatz hat wuchern lassen. Einen besonderen Stellenwert in dessen Selbstdarstellung hatte der Gasangriff, in den er kurz vor Kriegsende geraten war. Nach dem kläglich gescheiterten Putschversuch vom November 1923 erklärte Hitler dem Gericht, drei seiner Kameraden seien damals nach dem Gasangriff sofort gestorben, andere für immer erblindet.

Das alles war frei erfunden. Die Gruppe war mit Senfgas in Berührung gekommen, das das Sehvermögen erst nach Stunden beeinträchtigt. Hitler selbst hatte nur eine geringe Dosis abbekommen. Genug, damit er nicht mehr an die Front musste, aber zu wenig, um seine Gesundheit dauerhaft zu schädigen.

Während Millionen von Soldaten sich noch immer an den Fronten verbluteten, fuhr Hitler mit dem Sanitätszug in das Reservelazarett Pasewalk in Pommern. Dort kam er nicht in die Augenabteilung, sondern in die Psychiatrie. Seine vorübergehende Blindheit war nicht körperlich, sondern psychosomatisch bedingt. Behandelt wurde er nicht auf Grund des Senfgasangriffs, sondern wegen "Kriegshysterie".

Thomas Weber rekonstruiert im ersten Teil seines bemerkenswerten Buches mit großer Sorgfalt die vier Kriegsjahre des Gefreiten Adolf Hitler und zeigt dann im zweiten Teil, wie die Nationalsozialisten mit großer Energie eine Propagandalegende schufen, die mit der Realität nur noch marginal zu tun hatte und doch bis heute fortgewirkt hat.

Diese Studie wirft neues Licht auf die frühen Jahre, in denen sich das Weltbild des späteren Diktators zu formen begann. "Hitler’s First War" gehört von nun an zur unverzichtbaren Lektüre für jeden, der sich ernsthaft mit der Person und dem Leben von Adolf Hitler auseinandersetzen will.

Thomas Weber: Hitler’s First War. Adolf Hitler, The Men of the List Regiment, and the First World War
Oxford University Press, Oxford 2010, 450 Seiten, 34,95 $
Cover: "Thomas Weber: Hitlers erster Krieg"
Cover: "Thomas Weber: Hitlers erster Krieg"© Propyläen Verlag