Kriegsbuch ohne Helden

Rezensiert von Maike Albath · 13.02.2006
Zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint jetzt das Buch "Der Mann, der aufrecht blieb" (1926). In dem autobiographisch grundierten Werk über den Fronteinsatz eines englischen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg schildert Ford Madox Ford den Krieg als individuelles Erlebnis, aber eben auch als Massenerfahrung und bewahrt trotz der Innenschau einen distanzierten Blick.
Am Anfang ist alles sehr undurchsichtig: die junge Lehrerin Valentine Wannop bekommt einen Anruf, und zwar während der Dienstzeit. Sie versteht kaum, wer am Apparat ist, geschweige denn, was diese obskure Person überhaupt von ihr will. Denn während sie sich darum bemüht, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, werden um sie herum Kanonenschüsse gezündet, Fabriksirenen heulen auf, ihre Schülerinnen sind außer Rand und Band.

Schließlich ist es der 11. November 1918, und die Geschosse künden vom Ende des Ersten Weltkrieges. Ihr wird abwechselnd heiß und kalt, als sie der Anruferin auf die Spur kommt. Es handelt sich um eine gewisse Lady Macmaster, eine Dame der besseren Gesellschaft, die von einem Mann zu sprechen beginnt, den Valentine Wannop seit zwei Jahren zu vergessen versucht. Beinahe hätte sich Valentine nämlich um alles gebracht, was die viktorianische Gesellschaft von einer jungen Frau verlangt: ehrwürdiges Verhalten, Anstand, Sittlichkeit.

Sie hatte mit Christopher Tietjens, einem (unglücklich) verheirateten Mann, eine nächtliche Kutschfahrt unternommen und wäre ihm fast erlegen. Unvorstellbar. Aber jetzt scheint der Krieg die starren Regeln über Nacht hinweg gefegt zu haben. Alles ist offen.

Wir werden direkt hineinkatapultiert in die wirren Gedankenströme von Valentine Wannop. Kaum haben wir uns ein Bild von ihrem inneren Zustand gemacht, gibt es einen abrupten Szenenwechsel: die Kriegsfront vier Monate zuvor ist der nächste Handlungsort. Hier wird Christopher Tietjens Zeuge des zermürbenden Stellungskrieges, erlebt Tag für Tag das Elend des Sterbens und muss unsinnige Befehle seiner Vorgesetzten ausführen.

Tietjens, ein aufrechter Vertreter der upper class, war wegen seiner vertrackten Ehe in den Krieg gezogen und hatte gehofft, den Heldentod zu finden. An heroischen Taten scheint kein Bedarf zu sein. Während sich der gebildete Mann früher mit lateinischen Metren und englischer Literatur beschäftigte, muss er sich jetzt mit Versorgungsengpässen, schlechter Witterung, Gasangriffen und der Derbheit militärischer Gepflogenheiten herum schlagen.

Die englische Armee ist strikt hierarchisch gegliedert – die britische Angriffslinie darf nur geschlossen vorrücken, für Einzelaktionen der Offiziere oder Reaktionen auf unerwartete Feldzüge des Gegners gibt es keine Möglichkeit, und Tietjens erlebt täglich die Sinnlosigkeit des Krieges, was ihn verrückt zu machen droht. Obwohl er glänzende Leistungen vorweisen kann und an dem Ehrverständnis des Gentlemans festhält, schiebt man ihn auf einen unwichtigen Posten ab. Schließlich wird er verletzt. Geistig zerrüttet, kehrt er zurück nach England.

Ford Madox Ford (1873–1939) hieß eigentlich Ford Hermann Hueffer und wurde als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin geboren. Er hatte bereits eine ganze Reihe von Romanen veröffentlicht, als er sich 1915 mit 41 Jahren freiwillig zur Armee meldete. Ähnlich wie sein Protagonist litt auch er unter Liebeskummer: er wollte der quälenden Affäre mit der Schriftstellerin Violet Hunt ein Ende setzen, außerdem hatte er große finanzielle Sorgen.

Schon während des Krieges spürte er das schillernde literarische Potenzial der Geschehnisse. Ford nutzte die fortwährende Warterei, die er in seinem Roman als Teil des Kriegsalltags beschreibt, für Lektüren und beschäftigte sich vor allem mit Flaubert, Maupassant, Turgenjew und Henry James.

Nachdem er von einer Detonationswelle durch die Luft geschleudert wurde, sein Gedächtnis verlor und schwer erkrankte, schrieb man ihn 1917 untauglich. 1926 veröffentlichte Ford sein autobiographisch grundiertes Buch Der Mann, der aufrecht blieb, das jetzt zum ersten Mal – von Joachim Utz phantastisch übersetzt - in deutscher Sprache erscheint.

Der Mann, der aufrecht blieb ist Teil der Tietjens-Tetralogie, die außerdem aus Manche tun es nicht (1924), Keine Paraden mehr (1925), und Zapfenstreich (1928) besteht. Ford schildert den Krieg gleichermaßen als individuelles Erlebnis wie auch als Massenerfahrung und bewahrt trotz der Innenschau einen distanzierten Blick. Im Unterschied zu zahlreichen Kriegsromanen verzichtet Ford Madox Ford auf eine Heroisierung seines Helden.

Auch eine Ästhetisierung des Kampfes, wie sie bei Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) zu bemerken ist, findet nicht statt. Statt dessen bedient sich Ford mit erfinderischer Virtuosität der avanciertesten Erzählformen, verwendet innere Monologe, löst eine gliedernde Perspektive auf, arbeitet mit Zeitsprüngen und spiegelt den dauernden Erregungszustand während der Kriegshandlungen in einem zersplitterten Bewusstsein. Gleichzeitig erzählt Ford Madox Ford vom Niedergang einer Gesellschaftsklasse: der Ehrenkodex des Großbürgertums hat ausgedient, und der aufrechte Tietjens mit seiner moralischen Integrität zieht immer den Kürzeren.

Ford Madox Ford, Der Mann, der aufrecht blieb
Aus dem Englischen von Joachim Utz
Eichborn Berlin 2006,
310 Seiten, 22,90 Euro