Kriegsdienstverweigerung

„Wenn der Russe vor der Tür steht“

Historische schwarz-weiß-Aufnahme von einem Fackelmarsch gegen die Pruefung zur Kriegsdienstverweigerung in Bonn im Dezember 1977. Auf einem Transparent steht "Weg mit dem Prüfungsverfahren".
Mit einem Fackelmarsch am 21.12.1977 in Bonn wehrten sich Gegner des Verfahrens gegen Kriegsdienstverweigerung. © imago / Klaus Rose
Ein Kommentar von Frank Keil · 30.03.2022
Junge Männer, die in der alten Bundesrepublik den Dienst an der Waffe verweigerten, mussten sich einer „Gewissensprüfung“ unterziehen. Der Journalist und damalige Kriegsdienstverweigerer Frank Keil erlebte dieses absurde Tribunal mit. Aber was heißt das für heute?
Nach zweieinhalb Stunden war es geschafft und der Ausschussvorsitzende überreichte mir meinen Wehrpass, der bereits ungültig gestempelt war: Ich war als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Er sagte in scharfem Ton: „Meinen Glückwunsch, aber Sie werden noch an mich denken!“ Er machte eine Pause: „Wenn der Russe vor Ihrer Tür steht …“
Was hatte ich geredet und geredet! Hatte versucht, auf Fragen zu antworten, wie: „Sie gehen mit ihrer Freundin durch den Wald spazieren, da kommt eine Gruppe Rocker auf sie zu, sie werden ihre Freundin erst vergewaltigen, dann töten, doch Sie haben eine Maschinenpistole in der Hand …“ Oder würde ich auf das Flugzeug schießen, das auf meine Stadt zuflog, mit einer Atombombe an Bord? Und ich stünde da, ein Flugabwehrgeschütz geschultert ...

Ich kann nicht auf Menschen schießen

Ich wusste, ich durfte keinesfalls mit den Ausschussmitgliedern diskutieren. Durfte nicht einwenden, dass ich weder eine Maschinenpistole noch ein Flugabwehrgeschütz bedienen könnte oder dass ich den Rockern ja auch notfalls in die Beine schießen könnte. Ich musste allein auf mich gestellt darlegen, dass ich rein aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe verweigern müsste, da ich nicht auf einen Menschen schießen könnte. Einerseits.
Und so sagte ich schließlich andererseits nach vielen endlos verschachtelten Sätzen: Doch, ja – ich würde meine Freundin ebenso wie meine Heimatstadt retten, aber hinterher geplagt von schweren Gewissensbissen: Ich hatte Menschen getötet, um Schlimmstes zu verhindern, aber ich würde meines eigenen Lebens nicht mehr froh werden, durfte gehen, nach draußen ins Helle, ein Jüngling von knapp 20 Jahren, mit langen, dünnen Haaren und einem Vollbart, der mich älter machen sollte.

Ich wollte nur nicht zur Bundeswehr

Dabei war ich kein Pazifist. Ich hatte nichts gegen militärische Gewalt, wenn ich die dahinterstehenden Ziele billigte. Ich wollte nur nicht zur Bundeswehr. Denn ich kannte die Geschichten von Klassenkameraden, die ihrer Einberufung gefolgt waren und was geschah, wenn sie auf dem Kasernenhof allzu hartnäckig Fragen nach Sinn und Zweck einer Anordnung wie ‚Stramm stehen!‘ oder „Augen geradeaus!“ stellten, wie uns das im Schulunterricht beigebracht worden war.
Ich konnte mir ausmalen, wie es einem in einer stickigen Stube zu sechst oder zu acht ergehen würde, wenn man Hermann Hesse las. Ich hatte zudem oft genug erlebt, wie sich die jungen Rekruten mit ihren schweren Rucksäcken bei uns durch die Hauptstraße in Richtung der Kasernen quälten und wie sie zusammengebrüllt wurden von Vorgesetzten mit leichtem Gepäck.
Hätte es meinerseits irgendeinen Zweifel an der Entscheidung gegeben, nicht der Wehrpflicht zu folgen – dieser Zweifel hätte sich augenblicklich in Luft aufgelöst angesichts des absurden Theaters meiner Gewissensprüfung und dem Vorsitzenden, einem Feldwebel a.D., mit seinem malmenden Unterkiefer und seiner von Haarwasser getränkten Nazifrisur.

Wir wollten uns nicht demütigen lassen

Heute, mit viel Abstand, denke ich: Damals, als Ende der 1970er-Jahre Zehntausende junge Männer wie ich eben nicht den Kriegsdienst, sondern den Wehrdienst verweigerten, stürzten wir die Bundeswehr in eine tiefe Krise, die sie lange nicht verstanden hat.
Wir wollten uns nicht die Haare schneiden lassen, wir wollten uns nicht demütigen lassen. Und so waren wir es auch, die gerne in das bis vor Kurzem anhaltende Gelächter einstimmten, als sich die Armee, vor der wir schlicht Angst hatten, nach und nach in eine schlecht ausgerüstete Gurkentruppe verwandelte.
Jenes Kreiswehrersatzamt übrigens, steinern und mächtig, das ich damals mit unterdrückter Furcht betont lässig betrat und in dem lange ein General mit dem Nachnamen "Knochenhauer" residiert hatte, gibt es längst nicht mehr.

Heute stehen dort hochpreisige Wohnhäuser, liegt abends Spielzeug in den Zufahrten, hängen tibetanische Gebirgsfähnchen an den Balkonen und wehen sachte hin und her.

Ein Idyll, das nun ganz anders auf dem Prüfstand steht.

Frank Keil, wurde 1958 in Hamburg geboren. Er wuchs in der Hansestadt auf, studierte dort Pädagogik und blieb bis heute in der Stadt. Seit 1996 ist er als freier Journalist und Autor für verschiedene Zeitungen und Magazine unterwegs. Er ist Mitbetreiber der Online-Plattform „Männerwege“ sowie Redaktor des Deutsch-Schweizer Gesellschaftsmagazins ERNST.

Frank Keil. An Mann mit Brille und kurezen Haaren steht vor einer Wand.
© privat
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