Krieg in der Ostukraine

„Niemals wird das jemand verzeihen“

23:54 Minuten
"I love Sewerodonezk" - Installation vor dem Kulturpalast.
"I love Sewerodonezk" – eine Installation vor dem Kulturpalast in der ostukrainischen Stadt, die viele Kriegsflüchtlinge aus Luhansk aufgenommen hat. © Elisabeth Lehmann
Von Elisabeth Lehmann · 09.10.2019
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Es gibt einen erneuten Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Für die Menschen vor Ort ist eine Versöhnung jedoch schwer vorstellbar. Das zeigt auch die Freundschaft zweier Frauen, die hält, obwohl die Frontlinie sie trennt.
Im Gogol-Park der kleinen Stadt Sewerodonezk haben sich etwa 20 Menschen versammelt und singen: Junge Mädchen in festlichen Kleidern mit kunstvoll geflochtenen Zöpfen, ältere Frauen, ein paar Männer und Kinder. Ein buntgemischter Chor, geleitet von Olga Borisowa.
Sewerodonezk liegt in der Ostukraine, etwa 100 Kilometer von der sogenannten Kontaktlinie entfernt. Der Grenze, an der das ukrainisch kontrollierte Staatsgebiet endet und die selbsternannte Volksrepublik Luhansk beginnt.
Straßenansicht aus Sewerodonezk in der Ostukraine
Etwa 110.000 Einwohner hatte Sewerodonezk vor dem Krieg – in den ersten Monaten des Konflikts kamen zusätzlich 58.000 Vertriebene.© Elisabeth Lehmann
Chorleiterin Olga Borisowa kommt aus Luhansk, ist gerade für ein Musikprojekt in Sewerodonezk. Sie hat ein offenes Singen angeboten für jeden, der Lust hatte.
"Ich habe denen, die mitmachen wollten, sofort gesagt: Ich bin aus Luhansk – damit es später keine Überraschungen gibt. Damit jeder entscheiden kann, will er mit mir arbeiten oder nicht."

Sie leben in zwei Welten

Im Publikum steht auch Tatjana Plis. Es war ihre Idee, Olga nach Sewerodonezk einzuladen. Die beiden sind eng befreundet. Früher, also vor dem Kriegsbeginn 2014, haben sie zusammen am Theater in Luhansk gearbeitet. Die beiden verbindet viel, die Musik, die Liebe zur ukrainischen Kultur. Nur wenn es um Politik geht, leben sie in zwei Welten, sagt Tatjana.
"Wir unterhalten uns nicht über Politik. Aber wir vermuten, dass wir unterschiedliche Auffassungen haben. Und wir akzeptieren das. Ich weiß, dass sie oder alle, die dort geblieben sind, nicht Schuld daran sind, dass es so gekommen ist."
Tatjana Plis (v.l.), Olga Borisowa und Marina Jaworska bei einem Konzertabend in Sewerodonezk 
Kultur verbindet: Tatjana Plis (v.l.), Olga Borisowa und Marina Jaworska bei einem Konzertabend in Sewerodonezk.© Elisabeth Lehmann
Dass es so gekommen ist... Dass ein tiefer Graben zwischen einstigen Nachbarn und Freunden besteht. Auf der einen Seite sind die, die in der selbsternannten Volksrepublik geblieben sind. So wie Olga, die sich mit den neuen Machthabern arrangiert hat, sogar bereit ist, einen russischen Pass zu beantragen, wenn nötig. Auf der anderen Seite sind Menschen wie Tatjana, die das neue System verabscheuen und nach Sewerodonezk geflohen sind.
Sewerodonezk ist eine kleine Industriestadt, deren Geschichte untrennbar mit dem Chemiewerk "Asot" verbunden ist. Anfang der 1930er-Jahre beschloss die Kommunistische Partei, die Düngemittelfabrik hier im Donbas zu bauen – die Stadt entstand für die Arbeiter.
Besonders stolz sind die Menschen hier auf ihr Musik-College, eines der besten in der Ukraine, wie sie erzählen.

Junge wanderten aus, Flüchtlinge kamen

Marina Jaworksa war hier einst Schülerin, dann Lehrerin, heute leitet sie das College. Sie teilt sich das Büro mit zwei Kolleginnen. Sie trinken löslichen Kaffee, reden gerade über das Chemiewerk "Asot" und wie anders die Zeiten damals doch waren.
Marina: "Natascha, erinnerst du dich noch, wie viele Menschen da früher gearbeitet haben?"
Natascha: "In der Sowjetunion waren es mehr als 10.000. Jetzt werden es noch so 1000, 1500 sein. Mehr sicher nicht... die Übrigen sind weg zum Arbeiten... nach Russland und so. Das professionelle Potenzial ist zerstreut."
Marina: "Ja, das ist schlimm, dass die Jungen auswandern."
Marina Jaworska macht sich Sorgen um ihre Stadt. Seit dem Krieg sei alles anders. 2014 haben die Separatisten auch Sewerodonezk besetzt, erinnert sich Jaworska.
"Am Anfang dachten wir, das dauert so ein, zwei Tage und dann ist gut. Aber dann tauchten immer neue Leute auf, immer neue Grenzposten, an denen wir unsere Pässe zeigen mussten, wenn wir durchfahren wollten. Und das Schlimmste war, als dann aktiv gekämpft wurde. Es gab Gefechte, die ersten Opfer. Das war furchtbar."
Panzer auf einem Güterzug, der eine Bahnschranke in Sewerodonezk überquert.
Sewerodonezk in der Ostukraine liegt etwa 100 Kilometer von der Grenze, an der das ukrainisch kontrollierte Staatsgebiet endet, entfernt.© Elisabeth Lehmann
Irgendwann habe die ukrainische Armee die Kontrolle über die Stadt wiedererlangt. Und dann kamen die Flüchtlinge, aus Luhansk und den umliegenden Dörfern. Etwa 110.000 Einwohner hatte Sewerodonezk vor dem Krieg. In den ersten Monaten des Konflikts registrierten sich zusätzlich 58.000 Vertriebene in der Stadt.
"Anfangs haben die Einwohner von Sewerodonezk die Menschen auch noch aufgenommen. Wir haben zum Beispiel in unserem Wohnheim Flüchtlinge aus Lissitschansk beherbergt."

Die Armut der Flüchtlinge verändert Sewerodonezk

Marina Jaworska ist eine reflektierte Frau, sucht nach den richtigen Worten, versucht hinter jedem Geflüchteten das Einzelschicksal zu sehen. Doch die Stadt komme einfach an ihre Grenzen.
"Die Menschen, die hierhergekommen sind, sind materiell in einer sehr schwierigen Situation. Zum Großteil sind sie bettelarm. Die Mieten sind sehr hoch bei uns. Sie geben ihr gesamtes Gehalt quasi für die Miete aus. In der Stadt gibt es jetzt mehr Arme. Und, wie soll ich sagen, das sehen wir."
Unter denen, die damals in die Stadt kamen, war auch Tatjana Plis. Sie habe die Situation in ihrer Heimat Luhansk nicht mehr ausgehalten, die ständigen Gefechte. Irgendwann beschloss sie zu gehen.
"Wir haben schnell unsere Sachen gepackt, dachten ja, dass wir nicht lange weg sein werden, haben uns in den Zug gesetzt – mein Mann, meine Tochter und ich – und sind nach Kiew gefahren. Und da sind wir dann ein ganzes Jahr geblieben, weil das Ganze einfach nicht aufhören wollte. Tja, und dann ist das Theater nach Sewerodonezk umgezogen und ich bin hingegangen."
Der Saal des "Luhansker regionalen akademischen ukrainischen Musik- und Dramatheaters". Es hat seinen Namen behalten, auch wenn es seinen Sitz schon seit fünf Jahren nicht mehr in Luhansk hat. Tatjana Plis steht in einem geblümten Abendkleid auf der Bühne, begrüßt die Zuschauer im Saal. Sie moderiert regelmäßig Konzerte. Heute eines der besonderen Art.

Ablenkung durch internationales Musikprojekt

Auf der Bühne sitzen Musiker aus Armenien, Deutschland, Russland, Georgien, der West- und der Ostukraine. Sie spielen erst seit wenigen Tagen gemeinsam, sind für ein internationales Musikprojekt nach Sewerodonezk gekommen. Heute ist Premiere.
Auch Olga Borisowa ist im Saal. In den vergangenen Tagen hat sie das offene Singen geleitet. Nun sitzt sie in einer kleinen Kabine und ist für das Licht auf der Bühne verantwortlich, damit das Orchester optimal ausgeleuchtet wird. Borisowa hat ein wenig gezögert, ob sie an dem Projekt teilnehmen soll.
Sie ist vorsichtig, hat einem Interview nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ihr Name geändert wird. Sie arbeitet in der Verwaltung in Luhansk. Wüssten ihre Kollegen, dass sie hier in Sewerodonezk mit Exil-Luhanskern zusammenarbeitet, sie hielten sie für eine Verräterin, sagt Borisowa.
"Ich habe niemandem gesagt, was ich hier mache. Vor allem in der Arbeit nicht. Manche bei uns haben sehr scharfe politische Ansichten. Besonders die Chefs. Auch meine Familie hat mich nur mit Sorge fahren lassen."
Denn auch hier in Sewerodonezk seien Menschen wie sie nicht bei allen willkommen. Menschen, die sich mit den neuen Machthabern in Luhansk arrangiert hätten.

Ein Gespräch an einem Tisch – nicht möglich

"Natürlich sind manche bei uns nicht zufrieden. Sie sind gezwungen, in diesem System zu leben, mit russischen Rubeln zu bezahlen – ich habe auch welche in der Tasche – sie sind gezwungen, russisches Fernsehen zu schauen. Es gibt aber auch die anderen, vor allem die Jungen. Die akzeptieren, dass es nun eben anders ist. Diese Generation lernt nun eben, ihre Kinder mehr in die russische Richtung zu erziehen. Jeder wählt das für sich."
Anfangs hätten die Behörden keine Löhne ausgezahlt, acht Monate habe sie kein Geld bekommen und ihre Pelze verkauft. Aber sie habe nicht betteln müssen. In ihrer Stimme klingt Trotz mit, sie weiß, dass viele ihrer Freunde das nicht nachvollziehen konnten.
Auch Tatjana hadert mit Olgas Entscheidung.
"Auf der einen Seite verstehe ich sie. Auf der anderen Seite denke ich, in Sewerodonezk könnte sie Arbeit finden und bleiben. Ja, klar, in Luhansk zahlen sie auch Löhne, die Nebenkosten sind niedriger, sie hat ihre eigene Wohnung, ich miete hier eine Wohnung. Natürlich gibt es Vorteile. Jeder wählt das für sich."
Die beiden für ein Gespräch an einen Tisch zu bekommen, ist nicht möglich. Sie wollen Freunde bleiben – wenn sie wüssten, wie die andere über den Konflikt denkt, wäre es schwierig.
Tatjana fährt nach wie vor regelmäßig nach Luhansk. Ihre Mutter sei eine Anhängerin des neuen Systems. Sie versuche Tatjana jedes Mal zu überreden, wieder zurückzukommen.
"Ich sage dann immer: Nein Mama, solange die Situation hier so ist, wie sie ist, kann ich nicht zurückkommen. In den vergangenen Jahren tat mir das total weh zu sehen, was für eine Atmosphäre dort herrschte. Finster, aufgeregt, das hat man gespürt in der Stadt. Ich sage meiner Mutter: Mir geht es hier in Sewerodonezk gut, ich habe kleine Erfolge, ich habe Projekte, alles ok hier."
Zurück im Theater. Das Licht auf der Bühne erlischt und beschließt den ersten Akt des Konzerts.

Panzer haben sich in Außenbezirke zurückgezogen

Die Zuschauer strömen ins Foyer, Tatjana Plis und Olga Borisowa mischen sich unter sie. Marina Jaworska steht bei ihnen. Einige ihrer Schüler vom Musik-College spielen heute Abend im Orchester.
Marina Jaworska weiß, dass Olga Borisowa in Luhansk wohnt. Sie schätze sie als Mensch, sagt sie. Versucht, ihre Entscheidung zu verstehen.
"Wenn jemand sagt, ihr hättet doch umziehen können, warum habt ihr das nicht gemacht, dann versteht er einfach nicht, worum es geht. Viele haben ihre alten Eltern in Luhansk, die sie nicht alleine lassen konnten. Es gibt die, die bewusst zur Waffe gegriffen haben. Und es gibt einfach Opfer der ganzen Situation."
Ein Hinterhof eines Plattenbau-Karrees in Sewerodonezk. Ein paar Kinder beschießen sich mit Plastik-Gewehren. Der echte Krieg ist im Stadtalltag mittlerweile wenig präsent. Kaum etwas wurde zerstört. Die Panzer der ukrainischen Armee haben sich in die Außenbezirke zurückgezogen.
Ein weißer gepanzerter Jeep mit blauer Aufschrift biegt in den Hinterhof ein. Er ist vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Zwei Männer steigen aus, in der Hand schusssichere Westen und Helme. Da ist er wieder, der Krieg. Das UN-Flüchtlingswerk hat seit 2014 ein sogenanntes Field Office hier in Sewerodonezk. Oleksandra Litwinienko leitet es. Sie kommt gerade aus Stanitsa Luhanska, dem einzigen Grenzübergang, der nach Luhansk führt.
"Die Brücke dort ist zerstört. Aber gemäß der Minsker Abkommen muss diese Brücke repariert werden. Im Moment ist es so, dass die Menschen, darunter viele ältere und behinderte, die 2,5 Kilometer zu Fuß gehen müssen, von der Bushaltestelle in Stanitsa Luhanska bis zum Checkpoint, über ein Gebiet also, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird."
Wolodymyr Selenskij (M.), Präsident der Ukraine, spricht nach einem Treffen mit dem deutschen und französischen Außenminister mit Journalisten, aufgenommen im Mai 2019 in Kiew.
Vor kurzem hat Präsident Wolodymyr Selenskij Stanitsa Luhanska besucht, hier aufgenommen im Mai 2019 in Kiew.© picture alliance/Kay Nietfeld/dpa
Täglich quälen sich hunderte Menschen zu Fuß über die Trümmer dieser Brücke. Für Autos ist die Brücke gar nicht mehr befahrbar. Das UN-Flüchtlingswerk sei in Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Immerhin gebe es kleine Fortschritte, sagt Litwinienko. Neulich habe der neue Präsident Wolodymyr Selenskij Stanitsa Luhanska besucht und versprochen, einen Bus bis zur Grenze einzusetzen. Der fahre nun seit Kurzem.

"Es ist schwer zu vergeben"

Es ist Abend geworden in Sewerodonezk. Das Konzert ist zu Ende, das Musikprojekt auch. Morgen reist Olga Borisowa wieder nach Luhansk zurück. Sie läuft dann über die zerstörte Brücke an der Grenze und lebt wieder in einer anderen Welt.
"Wir warten nicht darauf, dass die Ukraine zurückkehrt. Nein. Es gibt Menschen, die haben alles in diesem sinnlosen Krieg verloren. Die können nicht einfach sagen, ok, jetzt reißen wir uns mal zusammen und sind wieder eine Ukraine. Niemals, auch nicht in der nachfolgenden Generation, wird das jemand verzeihen."
Bevor Olga Sewerodonezk verlässt, wollen die beiden Freundinnen das gelungene Konzert feiern, fahren mit dem Taxi durch die Nacht, halten vor einem Club. Dass Luhansk irgendwann wieder einmal Teil der Ukraine sein wird, daran glaubt auch Tatjana immer weniger.
"Frieden heißt noch nicht Vergebung zwischen den Menschen. Erst wenn die Menschen lernen, sich gegenseitig zuzuhören, den Standpunkt des anderen zu respektieren, auch wenn man ihn nicht teilt, erst dann kann Versöhnung einsetzen. Aber im Moment ist das schwierig, denn es herrscht immer noch Krieg, auf beiden Seiten sterben Menschen. Das sind starke Emotionen, ein Gefühl des Hasses, und es ist schwer zu vergeben."
Die Ukraine wie früher wird es nie wieder geben, da sind sich Olga Borisowa und Tatjana Plis einig. Ihre Freundschaft aber soll Bestand haben. Sie erheben die Gläser, umarmen sich und tanzen. Und: schweigen über ihr Leben auf beiden Seiten der Front.
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