Kreativer Umgang mit dem Thema Tod

03.01.2008
In der kulturwissenschaftlichen Aufsatzsammlung werden farbige Leichenfotografien gezeigt, moderne Forensiker zur Praxis der Spurensuche befragt und unorthodoxe Beerdigungsrituale vorgestellt. Die Souveränität im Umgang mit dem Entsetzlichen macht "Die neue Sichtbarkeit des Todes" zu einer Empfehlung weit über Fachkreise hinaus.
Kulturwissenschaftliche Aufsatz-Sammlungen sind für Außenstehende oft Zumutungen, erst recht, wenn sie über 600 Seiten dick sind und auf Tagungsreferaten basieren. "Die neue Sichtbarkeit des Todes" ist eine löbliche Ausnahme, obwohl die 27 Beiträge letztlich nur von der These im Titel verklammert werden. Die Komposition ist allerdings bemerkenswert.

Am Anfang steht die deutsche Erstübersetzung der Arbeit "Die zwei Fassungen des Bildlichen" von Maurice Blanchot, dem französischen Literaturtheoretiker. Er skizziert den Prozess des Sterbens als Bildwerdung und damit den Tod als Urszene der bildenden Kunst. Zwischendurch gibt es kluge Gespräche. Thomas Macho, seit "Todesmetaphern" (1987) als Experte von Graden ausgewiesen, unterhält sich mit Beate Lakotta und Walter Schels, die Todgeweihte vor dem Sterben und als Leichen fotografiert haben. Hartmut Böhme spricht mit dem Fotografen Hans Danuser, der u. a. Körperlandschaften von Toten fotografiert.

Überhaupt hat die bildende Kunst prägende Auftritte. Sue Fox’ erschütternde Leichen-Fotografien sind in Farbe abgebildet und werden von Helga Lutz als "Proben mit dem Unerträglichen" interpretiert. Die umstrittenen Werke der Mexikanerin Teresa Margolles werden inklusive konservierter Menschenzunge gezeigt und von Thomas Macho als "Ästhetik der Verwesung" analysiert. Rebecca Scott Bray bespricht Foto-Arbeiten von Jeffrey Silverthorne, der über sich selbst schreibt: "Bilder zu machen ist Sex mit der Zeit. Jede Aufnahme, jeder Orgasmus besiegt den Tod, wenn auch nur für einen Augenblick."

"Praktiken der Bestattung/Strategien der Erinnerung", "Repräsentationen toter Körper", "Die Toten in den neuen Medien" heißen die drei Teile. Im Einzelfall war der Weg vom Vortrag zur Buchfassung zu kurz – insgesamt jedoch ist das Niveau erfreulich und die Sprache weitgehend frei von Theoriechinesisch.

Man erfährt die Umstände, unter denen Papst Formosus (891-896) neun Monate nach seinem Tod als leibhaftiger Leiche der Prozess gemacht wurde und ist im nächsten Aufsatz bei "Johannes Paul Supertod". Die bizarre Geschichte der Kryonik, der Tieffrostung von Leichen im Horizont ihrer künftigen Wiederbelebung, wird ins Licht gerückt. Moderne Forensiker werden zur Praxis der Spurensuche befragt, das 1000Fragen-Projekt der Aktion Mensch, ein Laiendiskurs über Expertenfragen, in Auszügen wiedergegeben. Es geht um neue, unorthodoxe Beerdigungsrituale (etwa die Verwandlung der Leiche zum Kunst-Diamanten) und das sich verändernde Berufsbild der Bestatter. Sämtliche Innovationen an der Todes-Front werden auf ihre kulturelle Symbolik hinterfragt.

Die Präzision, Lebendigkeit und Reflektiertheit der (meisten) Aufsätze; die im besten, keineswegs makabren Sinne bunte Unterhaltung, die durch den häufigen Perspektivwechsel entsteht; die Souveränität im Umgang selbst mit dem Ekelhaften, Bizarren und Entsetzlichen; kurz, die intellektuelle Seriosität und Zugänglichkeit machen "Die neue Sichtbarkeit des Todes" zu einer Empfehlung weit über Fachkreise hinaus. Es ist ein wissenschaftliches Buch über den Tod, in dem man guten Gewissens auch schmökern kann.

Rezensiert von Arno Orzessek

Die neue Sichtbarkeit des Todes
Hrsg. von Thomas Macho und Kristin Marek
Wilhelm Fink Verlag
München und Paderborn, 2007, 607 Seiten,
zahlreiche, teils farbige Abbild., Leinen mit Schutzumschlag, 49,90 Euro
ISBN 978-3-7705-4414-1