"Kräfte mittelalterlicher Barbarei"

Von Etienne Roeder · 11.11.2013
Im Berliner Centrum Judaicum werden Diplomatenberichte aus 48 Ländervertretungen rund um den 9. November 1938 gezeigt. Die Einschätzungen reichten von Urteilen, es handle sich um einen "besonders brutalen Fall der Barbarei", bis zu antisemitischer Rechtfertigung.
Themistokles da Graca Aranha: "Aber sie alle verschweigen, dass Tausende sich an diesem im XX. Jahrhundert einmaligen Spektakel bestialisch ergötzten, und das in einer der kultiviertesten Hauptstädte Europas, die sich damit brüstet, ein überragendes Zentrum menschlicher Intelligenz zu sein. Diese Leute offenbarten alle niederen Instinkte der Bestie Mensch und applaudierten den kalt und grausam Wütenden."

Ungewohnt persönlich und stilistisch scharf notierte der brasilianische Botschafter in Berlin Themistokles da Graca Aranha in einem Bericht, was er in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 beobachtet hatte. Er ist bei Weitem nicht der Einzige ausländische Vertreter, der sich, angewidert von den Übergriffen gegen Juden und deren Besitz, in Berichten an seine Vorgesetzten wandte.

Im Berliner Centrum Judaicum werden Diplomatenberichte aus 48 Ländervertretungen rund um den 9. November 1938 gezeigt. Auf bebilderten Schautafeln werden die Lageberichte der ausländischen Vertreter zusammen mit biografischen Details und Fotos der Verfasser dargeboten. Von Einschätzungen, es handelte sich um einen "besonders brutalen Fall der Barbarei", bis hin zu antisemitischer Rechtfertigung reichten diese Berichte. Die Ausstellung "Von Innen nach Außen" wurde in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und dem Centrum Judaicum von Christian Dirks und seinem 15-köpfigen Team zusammengestellt.

Christian Dirks: "Die Diplomaten waren in der Lage, anhand der Informationen, die sie bekommen haben, das auch sehr analytisch einzuordnen. Die Relevanz dieses Ereignisses war doch allen Beteiligten und auch den ausländischen Zeitzeugen unmittelbar bewusst. Es gibt Berichte, die unmittelbar am 10., 11., 12. November entstanden sind, die auch atmosphärisch und stilistisch von den Ereignissen geprägt sind, wo von Einzelfällen berichtet wird, wo es durchaus auch mal Emotionalität gibt."

So schrieb der britische Generalkonsul Robert T. Smallbones aus Frankfurt in einer vertraulichen Note an die Botschaft in Berlin:

"Die Deutsche Regierung verbreitet zwar etwas halbherzig, die Maßnahmen gegen die Juden, das Niederbrennen der Synagogen, das Verwüsten von Läden und Privatwohnungen, die tätlichen Übergriffe und Plünderungen seien das Werk der aufgebrachten Bevölkerung, jedoch gegen 5 Uhr Nachmittags fuhren mit SS-Männern besetzte Lastwagen vor, und die Festgenommenen wurden mit Schlägen und Tritten hineingetrieben. Dann ließ man die Gefangenen in einer mehrstündigen Fahrt nach Buchenwald bei Weimar bringen, während der mehrstündigen Fahrt schlugen die Wächter den Festgenommenen Zähne aus, Köpfe ein und Augen blau."

In nur sechs Monaten trugen Dirks und sein Team hunderte solcher Berichte und Fotos zusammen. Zum ersten Mal weitet diese Ausstellung den Fokus auf alle Länder, die 1938 in Deutschland akkreditiert waren, hier Botschaften und Konsulate unterhielten. Doch nicht nur nach außen schrieben die Diplomaten. Martin Kröger, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Auswärtigen Amtes, erklärt, welche Reaktionen es kurz nach den Pogromen von Seiten der diplomatischen Vertretungen gegenüber dem Deutschen Reich gab:

"Die anderen Staaten haben in Deutschland interveniert nach den Novemberpogromen, immer dann, wenn die eigenen Staatsbürger betroffen waren. Ein Beispiel ist der Pelzmantel eines Finnen, der in Düsseldorf bei einem jüdischen Kürschner entwendet wird während des Pogroms. Und die Finnen dann vorstellig werden im Auswärtigen Amt, für ihren Staatsbürger um Entschädigung dieses Pelzmantels bitten. Und der wird dann auch entschädigt."

Bis 1940 waren die Mühlen des Auswärtigen Amtes mit solchen Interventionen beschäftigt. Die jüdischen Deutschen, das zeigt die Ausstellung indirekt, konnten zum Zeitpunkt der Pogrome 1938 auf allen gesellschaftlichen Ebenen, vom Nachbarn bis in die deutsche und internationale Diplomatie, jedoch auf keinerlei Fürsprecher hoffen:

"Die USA sind das einzige Land, die diplomatisch auch Konsequenzen gezogen haben, ihren Botschafter zur Berichterstattung nach Washington abgezogen haben. Und der Posten wurde bis Kriegsende nicht wieder besetzt. Die anderen Länder sind in der Regel stumm geblieben."

Auch wenn die Diplomaten die Pogrome also in ihrer großen Mehrzahl ablehnten, so handelten die Vertretungen abwartend. Nur persönliches Engagement außerhalb des Regelwerkes war in den Novembertagen eine wirkliche Hilfe. So verteilte der britische Generalkonsul Robert T. Smallbones, der in den Pogromen "Kräfte mittelalterlicher Barbarei" erkannte, persönlich mit seiner Frau Lebensmittel in den Straßen Frankfurts. Später erwirkte er Transitvisa für 50.000 jüdische Deutsche in die USA. Er sollte jedoch eine Ausnahme bleiben.

Es gibt Fälle, wo ausländische Konsulate in Deutschland sehr massiert Visa erteilen. Solange das rechtlich einwandfrei gelaufen ist, ist das Auswärtige Amt in der Folge auch nicht dagegen vorgegangen. Es gibt einige wenige Fälle, wo dann der Verdacht von ungesetzmäßiger Vergabe von Visa aufkam. Dem ist man dann nachgegangen und im Zweifel hat dann die deutsche Seite dagegen interveniert. Wie im Fall zum Beispiel des amerikanischen Konsuls in Stuttgart. Die amerikanische Regierung hat diesen Mann dann abberufen.

Informationen zur Ausstellung "Von Innen nach Außen" im Centrum Judaicum Berlin
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