Kosmische Gesänge

Rezensiert von Jochen R. Klicker · 27.09.2006
Der Priester, Poet und ehemalige Kulturminister Nicaraguas, Ernesto Cardinal, glaubt, dass alles mit allem harmonisch verbunden ist. Der theologische Kosmologe sieht das menschliche Leben nur als eine Durchgangsstufe der Evolution zu einer höheren Form der Existenz. Sein Streben nach Transzendenz zeigt sich auch in seinen Gedichten im Band "Zyklus der Sterne".
"Ich will kein Millionär sein, kein Führer, kein Premierminister, ich erhebe keinen Anspruch auf öffentliche Ämter und renne nicht hinter Orden her. Möge der Herr mein Herz nicht stolz machen. Mögen die Worte meiner Gedichte Dir angenehm sein, Herr, mein Befreier!"

So sang und betete der Priester und Dichter Ernesto Cardenal 1980. Da war der Diktator Somoza gestürzt und samt seinem Clan aus Nicaragua verjagt worden. Cardenal arbeitete als Kulturminister in der revolutionären Junta mit und wurde 1980 international mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. Für den Befreiungstheologen gab es noch einen lebendigen Gott als personales Gegenüber für den Beter und als Herr von Kosmos und Geschichte. Acht Jahre später heißt es jedoch schon deutlich anders im Kosmischen Gesang:

"Im Anfang gab es nichts
nicht Raum
nicht Zeit.
Das Universum ganz zusammengezogen
auf den Raum des Kerns eines Atoms
und vorher noch weniger, viel weniger als ein Proton,
und sogar noch weniger, ein unendlich dichter mathematischer Punkt.
Und es war der Big Bang.
Die Große Explosion. ...
Das Universum ist Kondensation.
Kondensation ist Einheit, und ist Wärme. (Liebe.)
Das Universum ist Liebe.
Ein Elektron möchte niemals allein sein.
Kondensation, Einheit, das sind die Sterne."

Von "Gott" war damals so gut wie keine Rede mehr. Und heute ist der theologische Kosmologe überzeugt: alles ist mit allem harmonisch verbunden; alles bewegt sich in Richtung auf ein allumfassendes Bewusstsein des Universums. Die Evolution selbst entwickelt sich - nicht auf ein Universum, sondern auf ein Pluriversum hin. Dessen kosmischer Motor ist die Liebe.

"Alles Sein strebt nach Transzendenz.
Ein höheres Wesen als das vorherige zu sein.
Und neigt nicht auch der Mensch dazu,
zu einem besseren Sein zu transzendieren?
Doch sprechen wir nicht von Gott, das ist
gefährlich."

Gefährlich, weil sich bei Ernesto Cardenals jüngster - fast wie ein Testament klingender - Rede von Gott "Gott" selbst aufgeht in Menschen, Ideen und im Kosmos.
"Sterben heißt in Gott eingehen.
Wenn Gott kein anderer mehr ist, sondern du selbst.
Es ist die Einheit mit Gott, die keiner Religion mehr bedarf.
Dieselbe Kraft, die uns dem Chaos entriss,führt uns auch in den Tod.
...Ein Verstand, der den Kosmos begreift:
ein Kosmos, der den Verstand erschafft.
Beide Dinge sind ein und dasselbe.
Aus Sternen geboren
Die Sterne erforschend.
...Am Ende des Universums steht nur ein Rätsel
und du bist schon darin aufgehoben."

Der Zyklus der Sterne von Ernesto Cardenal liest sich wie ein testamentarisches Resümee. Denn wie tragende Wände zur Stütze und Mosaiksteine zur Verzierung fügt er in seine eigene "Kosmotheologie" Denkfiguren von epochalen Vordenkern der letzten hundert Jahre ein. Das reicht von den "Klassikern der Moderne" wie Albert Einstein und Otto Hahn über den Nobelpreisträger für Chemie Ilya Progogine und den Kosmosforscher Rod Davies bis zum Mythenforscher Mircea Eliade und dem Vorgeschichtler Herbert Kühn. Alle bemüht Cardenal zur Beglaubigung seiner tiefsten Gewissheit, dass es eine evolutionäre Kontinuität der Materie in zahllosen Universen gibt. Ohne Anfang und ohne Ende, also zeit-los. Und ohne Tod, mit einer unsterblichen Lebendigkeit in einer anderen Welt jenseits jeden Todes.

Das schmale Testament ist jedoch auch ein großes poetisches Werk, was sich vor allem im Kapitel "Ecce Homo" erweist, in dem vom Paradies gesprochen wird; wie das Paradies uns, den Menschen, zu einem ganz besonderen Tier gemacht hat:

"Es gab das Paradies schon vor dem Menschen.
... In das einzutreten uns wohl nicht gelingen wird.
Denn das Paradies
ist kein Ursprung, sondern ein Ziel.
Ein Erbziel, sozusagen.
...Viele Tiere jagen gemeinsam
aber sie teilen die Beute nicht.
Als der Affe sein Essen teilte
war er kein Affe mehr, sondern war menschlich.
Das einzige Tier, das aufrecht geht
Aufrecht stehen zu können, machte uns intelligent.
Das einzige Wirbeltier, das Philosoph werden konnte.
Das Paradies war keine Gabe, sondern ein Angebot
An den Menschen, nicht an das Tier. Das Paradies war Fortschritt, der dem Tier nicht angeboten wurde.
Das einzige Tier, das lächelt.
Das einzige Tier, das weiß, dass es sterben muss.
Das einzige Tier mit Kleidung.
Um das Tierische zu verdecken?
Das Tier, das Verantwortung trägt,
weil es bestimmt ist für etwas oder für jemand.
Es weiß, dass es sterben wird. Um aufzuerstehen. Um zu sterben.
Das einzige Tier, das weint, wenn es geboren wird."

Weinen wir, weil wir wissen, dass wir nicht ins Paradies kommen werden? Weinen wir, weil wir wissen, dass die Liebe nicht bleibt - also auch Sinnlichkeit und Begehren nicht bleiben? Fragen über Fragen, für die uns Cardenal zwar die Fenster zum Himmel aufreißt, wie es einmal ein Literaturkritiker formulierte. Zu einem Himmel allerdings, der sich erst seine Beobachter erschaffen musste, damit er seinen Sinn bekommt.


Ernesto Cardenal: Zyklus der Sterne
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Peter Hammer Verlag Wuppertal 2006
82 Seiten, 13,90 Euro.