Koreas Grenze

Wo USB-Sticks zur Flucht motivieren

Auf der Ladefläche eines Transporter stehen Männer mit Säcken, die sie abladen.
Schmuggel an der innerkoreanischen Grenze: Reis wird in Flaschen gefüllt. © Fabian Kretschmer
Von Fabian Kretschmer · 30.01.2019
Die Grenze zwischen Nord- und Südkorea ist hochvermint und umgeben von Stacheldrahtzäunen. Wer vom Norden in den Süden fliehen will, nimmt die lange Route über China. Wichtige Infos kommen per Flaschenpost vom Süden in den Norden.
Dutzende Fernsehteams und Schaulustige haben sich in den Morgenstunden des 27. April 2018 auf dem Rathausplatz versammelt. Mitten im Seouler Zentrum, umgeben von futuristischen Bürotürmen, hat die Stadtregierung eine überdimensionale Leinwand installiert - die Szenerie erinnert an Public Viewing während einer Fußballweltmeisterschaft.

30 Jahre nach dem Mauerfall in Deutschland nehmen weltweit bauliche Grenzen wieder zu. Vier Folgen über "Zäune, Mauern und Abgründe" im Podcast der Weltzeit.

Live übertragen wird jedoch ein hochpolitisches Ereignis: Zum ersten Mal seit über zehn Jahren treffen die Staatschefs der beiden Koreas aufeinander - im symbolträchtigen, sogenannten "Friedensdorf Panmunjom" entlang der entmilitarisierten Zone. Als Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un und Südkoreas Präsident Moon Jae In aufeinander zuschreiten, halten die Zuschauer inne: Wie werden die zwei Staatschefs aufeinander reagieren?
Die beiden schreiten vor einer blauen Hauswand lächelnd und mit vorgestreckten Händen aufeinander zu.
Der südkoreanische Präsiden Moon Jae In (r.) begrüßt am 27. April 2018 den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Un an der Grenze im Ort Panmunjeom.© MAXPPP / Kyodo / dpa
Moon und Kim begrüßen sich schließlich mit einem herzlichen Handschlag. Die Erleichterung entlädt sich in Jubel, Applaus und Freudentränen. In vorderster Reihe schaut Kim Yeon Gyeong, 52 Jahre, dem Spektakel zu, sichtlich gerührt:
"Mein Büro ist praktisch um die Ecke, aber heute habe ich mir freigenommen. Ich musste rennen, um mir das Treffen noch pünktlich anzuschauen. Unser Bürgermeister hatte ja angekündigt, dass es auf dem Rathausplatz einen großen Bildschirm geben würde und das historische Gipfeltreffen übertragen wird. Dieser Platz ist ohnehin ein sehr besonderer Ort für mich - im Jahr 2002 haben wir hier die Fußballspiele der Weltmeisterschaft in Korea gemeinsam geschaut."
Das Gipfeltreffen und die Handschlaggeste zwischen Moon und Kim im April vergangenen Jahres haben die Koreaner emotional berührt. Für einen Moment schien inmitten der hochmodernen Hightech-Metropole vergessen, dass die Grenze zwischen Nord- und Südkorea nur 50 Kilometer entfernt ist und zu einer der gefährlichsten der Welt gehört.

Kommunikation per Flaschenpost

An einem nebligen Morgen parkt Jung Gwang Il einen blauen Pritschenwagen am Ende eines schlammigen Trampelpfades. Aus dem Van steigt eine Hand voll gut gelaunter Männer in Outdoor-Kleidung.
Vor ihnen erstreckt sich die Mündung des Han-Flusses, der hier ins Westmeer fließt. Auf der gegenüberliegenden Seite, nur schemenhaft in ockerfarbenem Brauntönen zu erkennen, liegt bereits Nordkorea - das Heimatland, aus dem sie einst geflohen sind.
Jung Gwang Il, 56 Jahre, runde Nickelbrille, ist ein Opfer des totalitären Regimes in Pjöngjang:
"Ich wurde unschuldig verurteilt und in ein politisches Arbeitslager gesteckt. Damals wusste ich nicht um meine Rechte. Ich will, dass meinen Landsleuten nicht das widerfährt, was mir widerfahren ist. Deswegen möchte ich Nordkoreaner aufklären. Eine aufgeklärte Bevölkerung ist, was Diktator Kim Jong Un am meisten fürchtet."
Jung und seine Truppe entladen ein Dutzend Reissäcke von ihrem Pickup-Truck und schleppen die Ware ans stille Meeresufer. Dort präparieren sie ihre Fracht: Sie füllen jeweils 700 Gramm Reis in herkömmliche Plastikflaschen und kleben diese mit Tape-Band ab. Die wichtigste Fracht bleibt für das Auge jedoch unsichtbar.
Gruppe Koreaner sitzt vor Plastikflaschen und befüllt sie.
Aktivisten füllen in Flaschenpost nicht nur Reis, sondern auch USB-Sticks.© Fabian Kretschmer
In den mit Reis gefüllten Flaschen sind Medikamente gegen Parasitenbefall versteckt, der unter der nordkoreanischen Landbevölkerung stark verbreitet ist. Außerdem haben die Aktivisten USB-Sticks unter die Reiskörner gemischt. Darauf sind Videobotschaften gespeichert, in denen die Aktivisten die Gräueltaten des nordkoreanische Regimes verdammen und ihre Landsleute wissen lassen, dass sie im wohlhabenden Südkorea mit offenen Armen empfangen werden. Viele Nordkoreaner haben mittlerweile Computer, auf denen sie die digitalen Botschaften abspielen können - heimlich natürlich, denn das Regime bestraft diejenigen, die ausländische Informationskanäle nutzen.
Als die Gezeiten einsetzen, werfen die Aktivisten die mit Reis gefüllten Flaschen in die Strömung. Kim Yong Hwa ist der Erste.
"Wenn wir den Reis gegen Mittag schicken, kommt er sechs Stunden später in Nordkorea an. Südkoreaner haben alle Dinge im Überfluss - Medikamente schmeißen sie nach Ablauf der Haltbarkeit in den Abfall. Wir senden die Medikamente nach Nordkorea, wo die Bevölkerung sie gebrauchen kann."
In Nordkorea, so hoffen die Aktivisten, wird die Flaschenpost von den Bewohnern aufgelesen – und der Reis hält eine Familie ein paar Tage am Leben. Die Videobotschaften jedoch könnten ihr Leben nachhaltig verändern.
Viele der nordkoreanischen Flüchtlinge, die es nach Südkorea geschafft haben, haben solche USB-Sticks über Umwege bekommen. Die Informationen haben ihnen offenbar Mut gemacht. 2017 sollen bereits über 90 Prozent der ankommenden Flüchtlinge solche USB-Sticks bekommen haben.

Ein vier Kilometer breiter, hochverminter Streifen

Entlang der innerkoreanischen Grenze hörte man noch bis Frühjahr letzten Jahres aus der Ferne Propagandareden. Die Lautsprecher sind ein Überbleibsel aus Zeiten des Kalten Krieges, als beide Länder mit politischen Botschaften die Überlegenheit des eigenen Systems angepriesen haben. Seit April letzten Jahres sind sie verstummt - im Zuge der innerkoreanischen Annäherung.
Blick über Dächer auf Hügel in der Ferne
Der Blick nach Nordkorea von einer Aussichtsplattform an der Grenze.© Fabian Kretschmer
Die Grenze zwischen Nord- und Südkorea ist ein hochverminter, vier Kilometer breiter Grenzstreifen, der von Stacheldrahtzäunen und Militärcheckpoints abgesichert wird. "Entmilitarisierte Zone" – das klingt eigentlich friedlich. In Wirklichkeit kommt hier zu Tode, wer auf die andere Seite will.
Nur wenige hundert Meter vom Grenzstreifen entfernt auf südkoreanischem Gebiet, gibt es eine Aussichtsplattform. Hier bietet sich an sonnigen Tagen per Fernrohr ein Panorama-Blick auf die Grenzregion: Dicht bewachsene Wälder, nur unterbrochen von einem Minenstreifen. Ein geradezu idyllischer Ort - weil hier die Natur seit fast sieben Jahrzehnten frei von Menschenhand wirken kann. Der Grenzstreifen zwischen Süd- und Nordkorea ist ein einmaliges Reservat für Pflanzen und Tiere.
Im Hintergrund Nordkorea: Die Berghänge sind - im Gegensatz zu denen im bewaldeten Süden – abgeholzt. Eine Brachfläche. Die Täler werden bis auf den letzten Quadratmeter zur Landwirtschaft genutzt. Ein paar Dörfer lassen sich zwischen den Feldern ausmachen: eine lose Ansammlung einfacher, einstöckiger Häuser; zwischen ihnen Menschen in brauner Kleidung - zu Fuß oder auf dem Fahrrad.
Gerne würde man das Alltagsleben aus der Nähe beobachten. Doch die innerkoreanische Grenze gilt als unüberwindbar. Die 31.000 Nordkoreaner, die mittlerweile in Südkorea leben, sind praktisch alle über die nördliche Landesgrenze zuerst nach China und von dort aus nach Südkorea geflohen. Es gibt nur ein paar wenige Ausnahmen.

Kaum ein Flüchtling schafft es über diese Grenze

Pastor Kim Shin-jo hat in seine Kirchengemeinde im Westen von Seoul geladen: Der 75-Jährige sitzt in einer Art Lounge mit ausladenden Sofas, gläsernen Trennwänden und gefliestem Marmorboden. Er kramt eine gelbe Fotomappe hervor. Stolz zeigt er Bilder von seiner Priesterweihe und vergangenen Massenevangelisationen. Sie sind Zeugnisse seiner christlichen Läuterung.
Kim war nicht immer religiös. Er ist in Nordkorea geboren. Während seines Militärdienstes wird er von Staatsgründer Kim Il Sung höchstpersönlich zu einer Spezialmission auserkoren - ein Attentat soll auf Südkoreas Präsidenten verübt werden.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Nordkoreanischer Pastor mit Frau - inzwischen in Südkorea© Fabian Kretschmer
Mehrere Monate bereitetet sich eine Gruppe Nordkoreaner, darunter Kim, darauf vor: Sie marschieren durch die nordkoreanischen Gebirge. Sie lernen, sich von Wurzeln, Schlangen und Fröschen zu ernähren, Höhlen in den frostigen Boden zu graben und die Nacht bei zweistelligen Minusgraden zu überleben.
"Wir wurden alle wegen unserer Stärke ausgewählt. Sowohl körperlich als auch mental sind wir gründlich für unsere Mission vorbereitet worden. Angst hatten wir vor gar nichts."
In den Abendstunden des 17. Januar 1968 betritt der damals 24-Jährige Kim mit 30 Kameraden den hochverminten Grenzstreifen. Sie sind eingehüllt in dicke Winterparkas, tragen russischen Tokarew-Revolver, Handgranaten und Armeemesser. Sie schleichen unbemerkt vorbei an Landminen, Wachposten und Radarstationen.
Die Invasoren gelangen unbemerkt bis wenige hundert Meter vor den Präsidentensitz. Dort jedoch werden sie von südkoreanischen Soldaten enttarnt - und von Panzern eingekesselt. Bei dem anschließenden Feuergefecht sterben mindestens 26 Südkoreaner und vier US-Soldaten. Von den Nordkoreanern überleben nur zwei: Einem gelingt die Flucht zurück durch die innerkoreanische Grenze in den Norden. Kim Shin-jo hingegen ergibt sich – und wird Jahre später begnadigt.
Nach seiner religiösen Läuterung führt Kim ein glückliches Leben als Pastor in Südkorea. Doch noch immer empfindet er tiefe Trauer, wenn er an die Vergangenheit denkt. Besonders schmerzt das Wissen um seine Familienangehörigen im Norden, die vermutlich ins Arbeitslager gesteckt wurden.
"Natürlich fühle ich mich schuldig für meine Eltern und meine Geschwister, die wegen mir viel leiden mussten. Dieses Gefühl wird immer schlimmer, je älter ich werde. Das wird mich auch bis zum Tod begleiten. Aber seit ich zu Gott gefunden habe, habe ich gelernt, damit umzugehen. Früher habe ich deswegen getrunken. Wenn ich nicht aufgehört hätte, wäre ich vermutlich gestorben."
Kim wohnt zwar nur eine Autostunde von der Grenze zu Nordkorea entfernt, doch er glaubt nicht daran, seine Heimat noch einmal wiederzusehen.

Schweizer und Schweden wachen über Waffenstillstand

Der Schweizer Patrick Gauchat nennt das Grenzgebiet zu Nordkorea sein Zuhause. Der 50-jährige Generalmajor leitet die sogenannte Neutrale Überwachungskommission im Friedensdorf Panmunjom - eine Ansammlung aus blauen Militärbaracken, in denen 1953 das Waffenstillstandsabkommen nach dem Koreakrieg unterzeichnet wurde. Heute wachen jeweils fünf Schweizer und fünf schwedische Offiziere darüber, dass der Waffenstillstand auch weiter eingehalten wird.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Das sogenannte Friedensdorf Panmunjeom ist bewacht© Fabian Kretschmer
In einem Caféhaus in der Seouler Innenstadt erzählt Gauchat, ein drahtiger Mann in Camouflage-Uniform und schwarzem Filz-Barett, das sein Alltag meist aus Routine-Abläufen besteht: dem Schreiben von wöchentlichen Reports, Patrouillengängen. Jedoch gehören auch besondere Aufgaben dazu:
"Das kann zum Beispiel sein, dass es eine Untersuchung über einen Vorfall im Grenzgebiet gibt und man eine neutrale Sichtweise darauf einfordert. Dann schließen wir uns der Untersuchung an und ziehen unsere eigenen Schlussfolgerungen."
Solch ein Vorfall ereignete sich zuletzt im August 2015, als zwei südkoreanische Soldaten bei einer Landminenexplosion schwer verletzt wurden. Hastig behauptete die südkoreanische Armee, dass nordkoreanische Soldaten die Minen absichtlich verlegt hätten. Die Nordkoreaner behaupteten ihrerseits, dass die Minen durch die Regenmassen angeschwemmt wurden.
Der Fall zeigte, wie schnell die Lage am Grenzstreifen eskalieren kann:
"Auf der taktischen Ebene ist die Situation ungefährlicher als zum Beispiel in Syrien. Aber nicht zu Unrecht bezeichnen manche Menschen die Grenzregion als den gefährlichsten Ort der Welt. Die Gegend ist militärisch hochgerüstet, viele Waffen sind an der Grenze stationiert. Schon kleinere Vorfälle können ernsthafte Krisen auslösen."

Wiedervereinigung spielen im Kulissendorf

Von Krisenstimmung ist eine Stunde östlich von Seoul nichts zu spüren: Mitten in der Berglandschaft Südkoreas steht ein Replikat des sogenannten Friedensdorfs Panmunjeom - die Filmkulisse für einen Spionage-Thriller. Fast 20 Jahre lang interessierte sich niemand für die Kulisse – eine verlassene Geisterstadt. Nach dem ersten Gipfeltreffen im April zwischen Kim und Moon, das in dem realen Friedensdorf im Grenzgebiet stattgefunden hat, pilgern wöchentlich 15.000 Südkoreaner zum Filmset. Denn hier können sie spielerisch erleben, wofür sie sonst mit Gefängnis bestraft würden: einmal die Grenze zum Norden übertreten.
Der 61-jährige Bankangestellte Lee Seong-hyun ist an einem strahlend sonnigen Maitag mit fünf Arbeitskollegen gekommen. Er schreitet in großen Schritten über jenen Bodensims, der die beiden Koreas trennt. Sichtlich amüsiert holt er einen Kollegen zu sich, schüttelt ihm die Hand und lässt sich dann von seinem Chef knipsen.
Lee hat sich früher eigentlich kaum für Nordkorea interessiert.
"Korea ist auseinander gebrochen, bis heute befinden wir uns noch immer im Waffenstillstand", sagt er. "Nach dem Koreakrieg hatten wir auch bei uns im Süden eine schwere Zeit und kaum die Möglichkeit, uns wirklich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Dank des innerkoreanischen Gipfeltreffens zwischen Moon Jae In und Kim Jong Un sind wir jedoch wieder näher aneinander gerückt. Und ich denke, vielen ist erneut vor Augen geführt worden, dass wir letztlich doch ein Volk sind."
Lee gehört zu der Generation Südkoreanern, die während des Kalten Kriegs aufgewachsen sind.
"Schon von klein auf in der Grundschule wurde ich antikommunistisch erzogen, das hat sich tief in mein Hirn gebrannt. Durch Dialog und Kommunikation hoffe ich, dass ich offener werde gegenüber Nordkoreanern, dass meine Denkweise aufbricht und lockerer wird."
Noch findet Begegnung nur am Bildschirm oder im Kulissendorf statt. Aber die Südkoreaner sind seit dem Gipfeltreffen der Staatschefs elektrisiert und sehen die vage Möglichkeit einer Wiedervereinigung in der Zukunft.
Bis dahin bleibt die andere Seite der unüberwindbaren Grenze jedoch weiterhin nur aus der Ferne sichtbar, schemenhaft und fremd.
Mehr zum Thema