Korbflechten und Kräutertrocknen

Von Holger Siemann · 13.12.2012
Ein überzeugter Landbewohner bekommt einen Stapel Zeitschriften geschenkt - "Landlust" und "Country Living" sind dabei. Er blättert sie durch und kommt schnell zu dem Schluss: Mit der Wirklichkeit in der Provinz hat diese Hochglanz-Gemütlichkeit wenig zu tun.
Als ich vor zwei Jahren in ein uckermärkisches Forsthaus zwischen Feldern und Wäldern zog, schenkte meine Schwägerin mir ihre gesammelten Jahrgänge von "Landlust" und "Country Living". Klebezettel steckten in Artikeln über Korbflechten und Lehmofenbau, Marmeladekochen und Bienenzüchten, Schafschur und Kräutertrocknen.

Ich freute mich darauf, auszuprobieren, was zum Landleben gehört. 24 Monate später kann ich konstatieren: Es ist anstrengend, aber auch enorm befriedigend, sich dem Rhythmus der Natur und der Handarbeit zu unterwerfen. Ich schreibe, wenn Schafe, Schweine und Pferd gefüttert sind, esse, was der Garten gerade hergibt und tausche meinen selbstgemachten Honig bei den Nachbarn gegen Eier und Brot. Die Zeitschriften allerdings verstauben, denn ich musste lernen, dass sie mit dem Landleben nicht mehr zu tun haben als Romane der Hedwig Courths-Mahler mit der Liebe.

Die bunten Bilder und schlichten Worte preisen zwar alte Handwerkskunst und ländliche Rezepte, Entschleunigung und einfaches Leben, aber was fehlt, sind die Widrigkeiten, ohne die es keine Helden und die Wahrheiten, ohne die es keine guten Geschichten gibt.

Sie berichten vom Reiz des Reitens durch menschenleere Weiten, aber nicht von denen, die fortziehen, weil es keine Arbeit gibt. Fotostrecken zeigen, wie alte Bauernhäuser zur Wochenendidylle umgebaut werden, aber nicht die Staus im Ausflugsverkehr am Freitag. Lange Festtafeln im Garten, beladen mit Speisen nach Omas Rezepten, imaginieren Großfamilie und heile Welt, doch die Geschichten von Landkommunen und Existenzgründern, die alternative Lebensformen ausprobieren und Freiräume entdecken, fehlen.

Hochglanzfotos zeigen Pferdekutschen und Traktoren mit Oldtimerstatus, aber niemals die GPS-gesteuerten Riesenmaschinen, die in Wirklichkeit über unsere Äcker kriechen und die Dumpingpreise in den Supermärkten möglich machen. Kein Wort über Bodenspekulation, Windräder, Schweinemastanlagen, Genmais oder Neophyten, als seien das Randprobleme des Landlebens, um die sich Politiker kümmern müssen. Überflüssig zu sagen, dass auf den Fotos immer schönes Wetter herrscht.

Natur und Schäferidyll als Projektionsfläche gibt es seit dem Beginn der Industrialisierung, neu sind nur ihre Herstellung am Fließband und die computergenerierte Buntheit. Allein das Flaggschiff "Landlust" hat mehr als eine Million Leser, die übrige Armada gern noch mal so viel. Vom Bayerischen Rundfunk bis zum NDR produziert inzwischen jeder Fernsehsender eine Landlebenreihe und die ARD menschelt mit "Deutschland, Deine Dörfer". Neulich sah ich in der Reihe "Wildes Deutschland" eine zeitlupenverlangsamte und farblich verbesserte Uckermark ohne Windräder und Maismonokulturen. Das ist Opium fürs Volk. Je grauenvoller die Wirklichkeit, desto mehr Rosa kommt in die Brille. In Kinderbüchern kräht der Hahn weiter auf dem Mist, obwohl inzwischen kaum noch ein Großstädter weiß, was wirklich los ist auf dem Land.

Ich bin Schriftsteller und der Letzte, der was gegen Parallelwelten hat, aber dann soll "Märchen" draufstehen, sonst ist es Betrug. Mindestens Beihilfe zum Selbstbetrug. Bei den Lesern der "Landlust" handelt es sich laut Eigenwerbung für den Anzeigenplatz überwiegend um gutsituierte und kaufkräftige Kunden zwischen 40 und 60, mit hoher Marken- und Qualitätsorientierung, von denen 70 Prozent im Eigenheim wohnen und vier Fünftel einen Garten besitzen. Vermutlich kaufen sie Bio und Manufaktum, machen Outdoor-Urlaube und töpfern. Mit dem Kopf im Wolkenidyll der Landlebenträume können sie verdrängen, dass ihr ökologischer Fußabdruck überproportional große, hässliche Tapsen in der Landschaft hinterlässt.

Holger Siemann, 1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler und Familienhelfer, seit 2001 als freier Autor zahlreicher Hörspiele, Feature und Libretti. 2006 und 2008 erschienen die ersten beiden Romane bei C. Bertelsmann. Seit 2010 lebt und arbeitet Holger Siemann als schreibender Bauer auf einem Hof in der Uckermark.
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