Kontroverse Sprachthese

01.05.2013
Mit die "Die größte Erfindung der Menschheit" stellt sich der US-amerikanische Linguist Daniel Everett gegen die Annahme einer Art universellen Grammatik, die alle Menschen verbindet. Als Beleg dient ihm eine Amazonas-Sprache, die allerdings nur von ihm selbst erforscht wurde.
Als Jugendlicher spielte er in einer Rockband, dann wurde er Missionar. Sein Ziel war es, die Pirahã-Indianer im Amazonastiefland zum Christentum zu bekehren. Er lernte ihre Sprache, vertiefte sich immer mehr in die Sprachwissenschaft und ist heute Professor für Linguistik. Gestützt auf seine Feldforschung im Amazonastiefland hat Daniel Everett nun ein Buch über Sprache geschrieben. Seine These: Sprache ist eine Erfindung des Menschen, ein kulturelles Werkzeug wie Pfeil und Bogen.

Was sich für den linguistischen Laien vielleicht wie eine Selbstverständlichkeit anhört, birgt wissenschaftlichen Sprengstoff. Denn in den 1960er-Jahren konstatierte der amerikanische Linguist Noam Chomsky, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Sprachen wesentlich geringer als die Übereinstimmungen seien, und entwarf die Theorie einer universellen Grammatik, die quasi im Menschen angelegt sei. Sprache, so Chomsky, sei viel zu kompliziert, um sie so schnell wie Kinder lernen zu können. Unterstützt wurde er von Psychologen wie Steven Pinker, der durch Untersuchungen herausfand, dass es so etwas wie ein "Gen für Grammatik" geben müsste.

Everett versucht jetzt, diese Theorie zu erschüttern. Für ihn ist Sprache die Summe von Kognition, Kultur und Kommunikation, ein Werkzeug, das die Menschheit erfunden hat. Vielleicht einmal, vielleicht mehrmals, vielleicht haben sich alle Sprachen aus einer einzigen entwickelt und dann nach den Bedürfnissen der Sprecher ausgeformt. Er gründet seine Theorie vor allem auf seine Feldforschung bei den Pirahã-Indianern im Amazonas Tiefland: Diese besitzen keine Wörter für links und rechts, sie kennen keine Zahlwörter. Und dennoch wissen die Mütter genau, wie viele Kinder sie haben. Ihnen fehlen bestimmte grammatische Formen, mit denen man hypotaktische, sprich nach- oder untergeordnete Sätze bildet.

Ausnahme der universalen Grammatik
Sie scheinen die perfekte Ausnahme der universalen Grammatik zu sein und somit zu beweisen, dass Sprache ein kulturelles Werkzeug ist, das jede Sprechergruppe ihren Lebensverhältnissen entsprechend ausbildet. So erklärt Everett fehlende Zahlwörter damit, dass die Pirahã-Indianer sie nicht bräuchten: Sie besitzen kein Geld, sie treiben kaum Handel – Zahlen sind nicht wichtig.

Leider ist Everetts Daten- und Beispielmaterial sehr dünn. Seine Belege stammen alle aus der Sprache der Pirahã-Indianer, und er ist bislang der einzige Forscher, der sie analysiert hat. Nahezu alles, was über diese Sprache bekannt ist, weiß man von ihm.

Geschickt schreibt er über alle aufkommenden Zweifel hinweg. Dabei hilft ihm sein erzählender Stil, er berichtet vom Überlebenstraining im Dschungel als junger Missionar und kann auch lebendig Forschungsstände referieren. Everett bringt Beispiele aus der Populärkultur, der Blues-Musik und Fernsehserien, mitunter schweift er aber zu sehr ab, auch, weil er versucht, ein Buch vorzulegen, das sowohl wissenschaftlich überzeugend ist, als auch Laien anspricht. Das funktioniert allerdings nur bedingt. Ein paar Grundkenntnisse der Linguistik sollte man schon mitbringen, sonst macht das Lesen von "Die größte Erfindung der Menschheit" kein Vergnügen.

Besprochen von Günther Wessel

Daniel Everett: Die größte Erfindung der Menschheit
Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben
Aus dem Englischen von Harald Stadler
Deutsche Verlags Anstalt (DVA), München 2013
464 Seiten, 24,99 Euro
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