Kontrollierter Entzug

Schuss auf Rezept

Spritze, Löffel, Feuerzeug - Utensilien, die zum Heroinkonsum genutzt werden.
Utensilien zum Heroinkonsum. Dass die Droge als Medikament gereicht wird, versteht nicht jeder. © picture alliance / dpa / Marcus Simaitis
Von Svenja Pelzel · 24.04.2014
Der Psychiater Thomas Peschel benutzt Heroin als Medikament, mit dem er die Leiden seiner psychisch kranken Suchtpatienten zu lindern versucht. Bis zur Praxiseröffnung musste er gegen viele Widerstände ankämpfen.
Vorsichtig nimmt Samira die kleine Plastikschale entgegen, die ihr ein Pfleger durch den Spalt der verglasten Theke reicht. In der Schale liegen Tupfer, Pflaster, ein Elastikband zum Abbinden und eine Spritze mit 250 Milligramm Heroin. Samira ist 27 und spritzt sich seit ihrem 14. Lebensjahr Drogen. Sie hat mehrere Entzüge hinter sich, war lange im Methadonprogramm - immer ohne Erfolg. Ihre Drogenberatung hat sie deshalb an Thomas Peschel und seine neue Praxis verwiesen. Seit ein paar Wochen kommt sie zwei Mal täglich in die Heroin-Ambulanz, seitdem geht es ihr besser.
"Methadon ist für mich Rauschgift ohne Rausch. Das hat zu viele Nebenwirkungen und es ist halt nur dazu da, dass man keinen Entzug hat. Man schwitzt, das geht auf den Magen. Das Diamorphin - ich habe bis jetzt keine Nebenwirkungen erkennen können. Und der Suchtdruck wird gestillt, was bei Methadon nicht der Fall ist."
Samira ist ordentlich gekleidet, die langen braunen Haare wirken gepflegt, ihre Bewegungen sind langsam, aber koordiniert. Die schwere Zunge beim Sprechen ist ihr peinlich, sie entschuldigt sich dafür. Mit ihrem Plastikschälchen in der Hand setzt sich die junge Frau an einen der sieben Plätze. Alle anderen Stühle in dem freundlich hellen, sauberen Raum sind ebenfalls belegt. Drei Mal muss Samira sich mit der Nadel in den Arm pieken, minutenlang im eigenen Körper herumstochern, erst dann findet sie eine Vene, spritzt das Medikament langsam in ihren Körper.
"Ja, wie soll man das beschreiben? Das ist so ein Ruhegefühl, so wie wenn man sich in ein Sofa zurück fallen lässt und - pffff - erst mal ausatmet und sich entspannt. Also man ist gelassen und ruhig.´"
Die Patienten sind psychisch krank und schwerstabhängig
Nach der Spritze geht Samira raus in die Aufenthaltsräume. An der Küchentheke schnappt sie sich ein Stück Kuchen, den ein anderer Patient mitgebracht hat, verzieht sich nach nebenan in die Raucherbox.
Doktor Thomas Peschel verbringt viele Stunden am Tag in den beiden wohnzimmerähnlichen Aufenthaltsräumen. Der 43-Jährige ist ein schlanker, sportlicher Typ, lacht viel, wenn er sich mit seinen Patienten unterhält. Auf den nagelneuen dunkel violetten Sofas lesen zwei Männer Zeitung, ein anderer schläft im Nebenraum. In den Regalen stehen Bücher und Spiele, wer will, kann Klavierüben, Malen oder Basteln.
"Patrida" hat Peschel seine Praxis genannt - Griechisch für Heimat. Seine Patienten bekommen nicht nur zwölf Stunden täglich, 365 Tage im Jahr ihre Medikamente, sondern auch ein Stück Geborgenheit. Denn alle hier sind psychisch krank, durch Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt traumatisiert und deshalb schwerstabhängig. Peschel ist fest überzeugt, dass Heroin das einzige Medikament ist, das beste Psychopharmakum, das ihnen hilft, sich und ihr Leben auszuhalten.
"Das ist jetzt auch im Grunde genommen ein Wechsel in der ganzen Sichtweise dieser Therapieform. Da müssen erst einmal alle Beteiligten mitkommen. Im Grunde genommen hat man die letzten 30 Jahre versucht, die Patienten vom Heroin weg zu bekommen, sei es durch Drogenersatzstoffe, sei es durch Cleantherapien und jetzt kommt eine Behandlungsform, die gibt den Patienten den Stoff, von dem sie immer weg sollten. Und was sieht man: den Patienten geht es besser."
Heroin? Ein Medikament? Peschel versteht, dass damit nicht jeder klar kommt.
"Das gibt halt so viele Vorurteile, die manche Leute haben, die muss man erst mal ausräumen. Also es ist viel Überzeugungsarbeit im Vorfeld notwendig. Bei mir hat es ein halbes Jahr gedauert, bis ich einen Vermieter überzeugen konnte. Die meisten haben gesagt, wir finden das ganz prima, was sie da vorhaben, aber dann doch bitte nicht bei uns."
Vorbehalte kann der Arzt nachvollziehen
Auch diese Vorbehalte kann Peschel ein stückweit nachvollziehen, denn im Umfeld von Methadonpraxen halten sich häufig Dealer und Betrunkene auf. Anders bei Patrida. Die Patienten im Aufenthaltsraum wirken, bis auf das langsame Sprechen, weitgehend normal. Die meisten stabilisieren sich schon nach wenigen Wochen, trinken nicht, manche können sogar arbeiten. Zehn Prozent werden in ein paar Jahren von der Droge ganz loskommen. Ein Erfolg, den selbst die Betroffenen nur schwer glauben können.
"Also es kam mal ein Patient hierher, der hat gefragt, sagen sie mal, wo ist denn hier die Tischtennisplatte? Wieso fragen sie? Naja, ich hab davon gehört, dass man das nicht genießen darf, sondern, wenn man sich den Druck gemacht hat, dann muss man sofort sich körperlich betätigen. Das weist halt auch darauf hin, dass die Patienten es gar nicht glauben können, dass ihnen von der Krankenkasse jetzt diese Substanz zur Verfügung gestellt wird und wenn, dann muss irgendein Haken daran sein."
Haken gibt es keine, eher stehen die Patienten sich selbst im Weg. Auch Samira kann in Heroin noch nicht das Medikament sehen, das sie vielleicht ihr Leben lang braucht. Heroin ist immer noch die fiese Droge, die sie loswerden will.
"Ich bin da optimistisch. Ich sage mal, wenn meine Situation, mein Lebenswandel stabiler ist, bleibt, dann werde ich versuchen, mich runter zu dosieren und wie ein normaler Mensch aufstehen, Kaffee trinken, dann kann ich dem nachgehen, was ich möchte und muss nicht zum Arzt, um normal zu sein, wie alle anderen auch."
Geschätzt 150.000 Opiatsüchtige gibt es in Deutschland, für mindestens 20.000 von ihnen wäre die Heroin-Therapie geeignet. Pro Patient spart der Staat 50 Euro am Tag an Folgekosten. Macht bei 20.000 möglichen Patienten: jeden Tag eine Millionen Euro. Thomas Peschel hält deshalb regelmäßig Vorträge und hofft, dass er in Berlin bald mindestens noch drei Kollegen findet, die mitmachen.
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