Konservativ - ein Überlebensimperativ

Von Günter Rohrmoser · 01.05.2007
Wer sich heute als Konservativer bekennt oder als solcher bezeichnet wird, muss entweder mit mitleidigem Lächeln, vielleicht sogar Empörung rechnen oder gar ertragen, mitverantwortlich gemacht zu werden für einen möglichen zukünftigen Faschismus in Deutschland.
Als die Intellektuellen vom Marxismus noch begeistert waren, gab es für deren Kampf gegen den Konservativismus noch eine ideologische Begründung, man konnte ihn als Steigbügelhalter des Nazismus entlarven. Diese marxistische Verbannungsformel liegt im Grunde genommen unverändert der Einheitsideologie des Antifaschismus in Deutschland zu Grunde.

Für den Alltagsgebrauch aber genügt es schon, den Konservativismus unmodern oder gar antimodern zu nennen. Damit ist er nach dem, was in unserem Land als modern verbreitet wird, erledigt. Alle Konservativen sind heute hoffnungslos in der Defensive und ihre ehemaligen durchaus beachtlichen Formationen befinden sich intellektuell auf dem Rückzug oder sind gar in völliger Auflösung begriffen. In blindem Eifer hat sich die CDU von allen konservativen Elementen getrennt, um dem vorgegebenen Ziel nahe zu kommen, als moderne, vom Konservativismus gereinigte Partei anerkannt zu werden.

Im Verhältnis zum Konservativismus steht die Bundesrepublik, wenn wir uns den Rest der Welt ansehen, als Ausnahmefall da. Wir brauchen nur die Entwicklung in der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Die Reden der Wahlkämpfer in Frankreich sind wahre nationale Erweckungspredigten, man beschwört die große Geschichte der Nation und denkt daran, ein Ministerium für nationale Identität einzurichten. Präsident Putin nennt als geistiges Fundament des neuen Russlands die Geschichte, die Nation und die Religion. In Amerika bekennen sich bald 50 Prozent aller Amerikaner zum Kampf gegen das, was sie als libertäre Dekadenz empfinden und fordern eine national-konservative fundamental-christliche Kulturrevolution. In Italien wählt fast die Hälfte aller Wähler Parteien der rechten Mitte. Polen wird so konservativ regiert, dass sich jeder Kommentar erübrigt.

Auch fast alle Parteien in Deutschland sind in ihrer Ausrichtung, weil sie die Erhaltung des Bestehenden wollen, als konservativ zu betrachten. Die SPD will den Sozialstaat bewahren, die CDU mit schwindender Kraft die Marktwirtschaft, die Grünen wollen gar die Schöpfung bewahren und die PDS will den demokratischen Sozialismus verwirklichen, der, wie die Geschichte zeigt, alles andere als ein Erfolgsmodell ist und der Vergangenheit anzugehören schien. Nur in Deutschland entbehrt der konservative Gedanke jeden neuen Inhalts und wirkt, wenn er überhaupt noch öffentlich in den Mund genommen wird, als leere Phrase oder Worthülse. Ein bekannter Wahlforscher dagegen stellte fest, dass im Unterschied zu der Orientierung der intellektuellen, kommentierenden und politischen Klasse der Trend in der Bevölkerung eindeutig in Richtung auf die Wiedergewinnung konservativer Werte, Tugenden und Einstellungen weist. Was man wünscht, sind Geborgenheit, Berechenbarkeit und vor allem Nachhaltigkeit.

Wo ist also das Problem? Es fehlt nur die Kraft, den Wandel der Epoche zu deuten, es fehlt eine Philosophie, die auf der Höhe der neuen geschichtlichen Herausforderungen ist und Konservativismus als Überlebensimperativ für die vor uns liegende Zukunft begreift. Dabei würde ein Blick auf unsere Familien, unsere Schulen, unsere Kirchen, die Wirtschaft und unsere öffentliche Kultur völlig ausreichen, um zu erkennen, wie unabdingbar ein neues kulturkonservatives Programm für das immer labiler werdende Gemeinwesen der Bundesrepublik geworden ist. Die Zerstörung und Auflösung unserer Kultur in eine linksliberale so genannte Konsensgesellschaft legt die Axt an die Wurzel unserer geschichtlichen Existenz.

Aus der Perspektive der übrigen Welt stellen sich die kulturellen Entwicklungen in Deutschland als Wiederkehr deutscher Pathologie dar. Man schüttelt in der Regel nur noch den Kopf über uns. Modische Berufung auf Modernität genügt längst nicht mehr, wenn man zur Kenntnis nimmt, was in der Welt geschieht. Es ist falsch zu glauben, dass modern und konservativ unvereinbar seien. Wenn Fortschritt das zu Verändernde verneint und verschwinden lässt, ist Fortschritt nicht mehr feststellbar. Jeder Begriff von Fortschritt setzt eine Antwort auf die Frage nach der Identität dessen voraus, was sich verändert hat. Ohne diese Antwort ist Modernität ein sinnloses Kreisen und Wirbeln des Nebels in fernen Horizonten, und in diesem Nebel bewegen wir uns mit dieser surrealistische Züge tragenden Diskussion um konservativ und modern heute. Die Moderne mag ihrer Vollendung entgegen streben, aber ihre Vollendung könnte auch der letzte Schritt auf dem Weg zu ihrer Selbstzerstörung sein. Darum und aus keinem anderen Grund ist, wie die übrige Welt längst erkannt hat, konservativ heute auch für uns ein Überlebensimperativ geworden.

Günter Rohrmoser, 1927 in Bochum geboren, zählt zu den international bedeutenden deutschen Sozialphilosophen. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf den Gebieten der Religionsphilosophie, der Philosophie des Politischen und der Theorie der Gesellschaft. Er studierte Philosophie, Theologie, Nationalökonomie, Geschichte und Germanistik in Münster, lehrte an der Pädagogischen Hochschule Münster. Zunächst Honorarprofessor an der Universität Köln, war er seit 1976 Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Hohenheim. Daneben lehrte er bis zum Sommer 1996 Politische Philosophie an der Universität Stuttgart. Rohrmosers Gesamtwerk umfasst unzählige Veröffentlichungen, er war Berater der Kirchen und der Politik. In seinem Buch "Das Elend der kritischen Theorie" kritisierte er die Philosophen der "Frankfurter Schule". Rohrmosers Werke stehen in vielen europäischen Universitäten wie Prag, Warschau und Moskau, aber auch in israelischen, japanischen und chinesischen Hochschulen. Seine Zeitanalysen werden regelmäßig von der Gesellschaft für Kulturwissenschaft publiziert. Sein jüngstes Buch: "Konservatives Denken im Kontext der Moderne" (2006).