Konkurrenz für Philosophen

03.11.2009
Machen die Neuro- und Sozialwissenschaften eine philosophische Ethik überflüssig? Nein, sagt Kwame Anthony Appiah. Aber die Philosophie muss aufpassen: Sie kann nur dann bestehen, wenn sie beginnt, die empirische Forschung in ihre Überlegungen einzubauen.
Ethische Fragen - Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? - gehören traditionell ins Fach der Philosophie. Doch die Philosophen haben in den letzten Jahren Konkurrenz bekommen: Neuro- und Sozialwissenschaftler, Genetiker, Ökonomen und empirische Psychologen erforschen die Welt unserer moralischen Einstellungen. Macht das die philosophische Ethik überflüssig? Nein, sagt Kwame Anthony Appiah. Aber die Philosophie muss aufpassen: Sie kann nur dann bestehen, wenn sie beginnt, die empirische Forschung in ihre Überlegungen einzubauen.

Wie sie das tun kann, zeigt Appiah in seinem detailreichen und schön geschriebenen Buch. Wenn es um die Frage geht, wann und warum wir moralisch gut handeln, dann fördert die empirische Psychologie verblüffend und zugleich erschreckende Ergebnisse zutage: Vor einer gut duftenden Bäckerei etwa bekommt man viel leichter einen Geldschein von einem Fremden gewechselt als vor einem neutral riechendem Eisenwarenladen.

Solche Experimente sollte die Philosophie ernst nehmen, sagt Appiah, denn sie werfen tiefgehende Fragen auf: Kann man in dieser Situation tatsächlich noch sagen, ich hätte etwas Gutes getan? Verdiene ich unter diesen Umständen Lob? Schließlich habe ich aufgrund eines moralisch völlig irrelevanten Einflusses gehandelt - ich habe den Geldschein gewechselt, weil die frischen Brötchen so gut dufteten.

Es sind Fragen dieser Art, sagt Kwame Anthony Appiah, denen sich die Moralphilosophie heute stellen muss. Viele Tugendethiker begreifen eine gute Tat als eine, die ein guter Mensch tut. Doch je mehr empirische Experimente zeigen, wie beeinflussbar und instabil unser moralischer Charakter ist, wie sehr unser Handeln von zufälligen, moralisch vollkommen irrelevanten äußeren Faktoren abhängt, desto fraglicher wird eine Ethik, die fordert, dass wir uns an erster Stelle darum bemühen sollten, tugendhafte Menschen zu werden.

Appiah argumentiert überzeugend, dass die philosophische Ethik deshalb keineswegs ausgedient hat und durch Genanalysen, Gehirnstrommessungen und raffiniert inszenierte psychologische Experimente ersetzt werden könnte. Aber die empirischen Fakten verändern die philosophischen Theorien. So sollten wir uns weniger um "Charakterbildung” bemühen und mehr darum, unsere sozialen Institutionen so zu gestalten, dass Menschen in Situationen geraten, in denen sie Gutes und nicht Schlechtes tun. Die empirischen Erkenntnisse drängen uns, sagt Appiah, "bessere Bedingungen dafür zu schaffen, dass wir nicht tun, was Mörder tun, und dass wir nicht sind, wie Mörder sind.”

Appiah führt in diesem wunderbar lesbaren Buch vor, wie man heute philosophieren kann. Er taucht ein in die konkreten Probleme, beleuchtet sie von den unterschiedlichsten Seiten und schwebt nicht in luftigen theoretischen Höhen über den wichtigen Fragen: Können wir unseren Intuitionen trauen, wenn wir mit moralischen Dillemata konfrontiert werden? Zählt nur, was wir tun, oder auch, was für Menschen wir sind? Diesen Fragen geht Appiah nach. Damit macht er eine Art des Philosophierens wieder lebendig, die so alt ist wie die Philosophie selbst, und doch in dem vergangen Jahrhundert zu wenig Beachtung fand: Die Verknüpfung theoretischen Denkens mit empirischen Erkenntnissen.

Besprochen von Sibylle Salewski

Kwame Anthony Appiah: Ethische Experimente - Übungen zum Guten Leben
C. H. Beck, München 2009
267 Seiten, 19,90 Euro