Konfliktregion Amazonas

Verteilungskampf im Regenwald

29:34 Minuten
Junger Brasilianer steht mit mürrischem Gesicht vor einer Weide mit Büffeln
Mitten im Amazonas-Regenwald in Brasilien: Hier war früher das Jagdgebiet von Francisco Oliveira da Silva und anderen Mura. © Klaus Ehringfeld
Von Ellen Häring · 24.05.2020
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Francisco wehrt sich gegen Viehzüchter, die in das Gebiet seines indigenen Stammes im Amazonas vordringen. Er kämpft auch gegen den brasilianischen Staat, und manchmal sogar gegen seine eigenen Leute. Die arbeiten für kleines Geld mit den Farmern zusammen.
Wir schippern durch sagenhafte Landschaft. Überall Wasser. Überall Wald. Immer wieder Inseln auf dem breiten Strom. Von einem Flussarm geht es in den nächsten und übernächsten, rätselhaft, wie sich der Bootsführer orientiert.
Einige Leute in Regenklamotten steigen in ein Motorboot.
Es regnet im Regenwald - unterwegs zum Volk der Mura. © Ellen Häring
Der Morgen ist feucht und heiß. Ein angenehm kühler Fahrtwind weht durch unsere Haare. Wir, vier deutsche Journalisten, sind um halb fünf aufgestanden und sitzen nun in einem Motorboot – dem ersten von unzähligen, die wir in den nächsten Tagen besteigen werden. Wir werden auf dem Wasserweg tief in das brasilianische Amazonasgebiet reisen, wir werden indigene Völker besuchen und wir werden Aras, Affen und sogar Flussdelphinen begegnen. Aber auf der Reise, die wir jetzt antreten, steht zu unserer Überraschung ein ganz anderes Tier im Mittelpunkt.
"Der Büffel ist hier ein Synonym für Leiden, für die Abholzung, für Armut, für die prekäre Situation, in der die Bevölkerung hier lebt", sagt Edina, unsere Begleiterin.

Die einen wollen den Wald schützen, die anderen ihn nutzen

Sie will mit uns zum Volk der Mura schippern. Mehrere Stunden dauert die Reise über verschiedene Flussarme. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation CIMI, die Indigene bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützt: Es geht um Klagen gegen multinationale Konzerne, die Soja anbauen und den Wald abholzen. Um das Roden riesiger Flächen für die Viehzucht. Um illegale Holzfäller oder Goldschürfer. Alles große Themen. Aber Wasserbüffel? Nie gehört.
Luftaufnahme vom Amazonas.
Der Amazonas von oben: Wald und Wasser. Wasser und Wald.© Ellen Häring
Wir blicken versonnen auf das Wunder der Natur, grenzenlos scheint das Wasser, grenzenlos der Regenwald: Das hier ist die Lunge der Welt, der größte CO2-Speicher der Erde - kein Zweifel. Überwältigender Reichtum. Eine Einladung zum Träumen.
Bis Edina sagt: "Wir haben keine Perspektive mehr, wir haben keine Hoffnung, dass diese Regierung irgendetwas voranbringt."
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, erst seit letztem Jahr im Amt, lässt den Regenwald fleißig abholzen. Während die westliche Welt jeden Quadratkilometer verteidigen will, um den Klimawandel zu beschränken, sieht Bolsonaro eine Verschwörung der Industriestaaten gegen Brasilien. Neid auf die Bodenschätze, die in Amazonien schlummern und Brasilien gehören, das steckt seiner Ansicht nach dahinter.
Die Wirtschaft hat jetzt Vorfahrt. Seit seinem Amtsantritt hat sich die Abholzung fast verdoppelt, so alarmiert das brasilianische Institut für Weltraumforschung.

Das Volk der Mura lebt vom Wald und vom Fluß

Wir fahren weiter durch den Dschungel, der Wasserweg ist zugewachsen. Unser Boot stoppt abrupt, der Motor hat sich in den Schlingpflanzen verfangen und muss sauber gemacht werden.
Kinder baden im Fluss
Die Flussufergemeinden leben von und mit dem Fluss.© Ellen Häring
Kurz darauf tauchen einzelne Holzhäuser auf Stelzen am Flussufer auf. Später Schneisen, die durch den Regenwald geschlagen wurden. Noch später: abgeholzte Flächen, die bis ans Ufer reichen. Dann schließt sich der Wald wieder und der Bootsführer legt an einer grünen Wiese an. Auf einem Stelzenhaus steht in großen Buchstaben Centro Comunitario. Dort feiern die Kinder ein Schulfest.
Der Bootsführer fragt nach dem Weg. Zwei Flussbiegungen weiter sind wir am Ziel.
Francisco erwartet uns in seinem Stelzenhaus. Ein schlanker Mann, T-Shirt, Jeans und Flip-Flops. 43 Jahre ist er alt, hat 7 Kinder und ist Repräsentant von 80 Mura-Familien. Ein Cazique, ein Stammesführer. Die Mura sind eines von rund 300 indigenen Völkern, die in Brasilien leben, die meisten davon im Bundesstaat Amazonas. Ein kriegerisches Volk, das seine Rechte und sein Territorium immer verteidigt hat.
Francisco zeigt auch gleich Pfeil und Bogen, die neben einem kleinen Fernseher an einem Brett hängen. Dann kommt er ohne Umschweife zum eigentlichen Problem.
"Unsere Population nimmt ab, weil der Wald abgeholzt wird und das hat mit den Büffeln zu tun. Wir leben von der Landwirtschaft und wir haben jetzt existenzielle Probleme. Wir können nichts mehr anbauen, denn die Büffel kommen und fressen alles auf. Die Viehzüchter sind Invasoren, sie sind einfach gekommen. Wir wurden nie gefragt. Und selbst wenn wir gefragt worden wären, dann hätten wir doch gar nicht gewusst, was das bedeutet und was auf uns zukommt. Wir waren viel zu naiv."

Das Wasser ist dreckig und trübe - Büffel koten hinein

Francisco legt schützend einen Arm um seine Frau und seine Tochter. In der Hängematte schläft ein Säugling. Die Familie lebt – wie alle hier – von dem, was sie anpflanzt, vom Wald und vom Fluss. Francisco geht fischen und jagen, aber seit die Büffel im Wasser stehen und den ganzen Tag urinieren und reinkoten, ist das Wasser trübe. Ein Problem für die Mura, denn sie fischen nicht mit der Angel, sondern mit einem Wurzelsaft, der die Fische betäubt.
Drei Leute in einem Holzhaus vor einer Leine mit bunter Wäsche.
Francisco vom Volk der Mura mit Frau und Tochter. Er hat sieben Kinder. © Ellen Häring
"Wir können nicht mehr fischen wie früher, weil wir die Fische gar nicht mehr erkennen. Und wenn wir Gemüse anpflanzen, dann kommen die Büffel. Den Schaden, den sie anrichten, zahlt uns keiner. Wir sind wie Kindermädchen für die, wir arbeiten, damit die Büffel gut essen."
Francisco wirkt jungenhaft, seine 43 Jahre sieht man ihm nicht an. Sein Blick ist wütend und entschlossen. Das Zuhause seiner großen Familie ist einfach und wirkt friedlich. Von Büffeln ist weit und breit nichts zu sehen.
Stattdessen liegen vier Boote am Ufer, bunte Wäsche baumelt auf der Leine im Stelzenhaus. Es hat zwei Schlafräume, die durch Tücher abgetrennt sind. Die Küche ist draußen. Ein kleines Feuer lodert unter einem riesigen Keramikkrug. Das Wasser im Krug kommt aus dem Fluss. Edina von der Hilfsorganisation CIMI unterstützt Francisco, der sich mächtig aufregt. Sie fasst die Problematik für uns noch einmal zusammen.
"Die Farmer kommen und nehmen sich Land. Sie bringen die Büffel her, die vernichten im Wasser die Brutstätten der Fische, sie kontaminieren das Wasser. Das ist die Hauptnahrung der Mura. Sie vernichten auch die Gemüsegärten und für ihren Auslauf roden die Farmer Waldgebiete."

Wer soll hier über das Recht wachen?

Natürlich ist es auch in Brasilien verboten, sich Land zu rauben und anderen die Lebensgrundlage zu nehmen. Man kann sich für die Abholzung des Regenwaldes eine Genehmigung besorgen – legal oder mit Schmiergeld. Aber selbst dann gibt es Restriktionen. Rodungen bis zum Flussufer sind verboten, denn wo keine Bäume sind, da ist auch kein Schatten und der Fluss trocknet aus.
Wir haben auf dem Weg hierher aber trotz Verbot genau solche Schneisen im Regenwald gesehen. Wir blicken uns um. Hier ist nur Wasser und Wald. Wald und Wasser. Der nächste Ort mit einer Polizeistation ist zwei Bootsstunden entfernt. Wer soll hier über das Recht wachen?
Bunte Boote liegen im Wasser, daneben ein Holzhaus.
Francisco wohnt mit seiner Familie in einem Holzhaus auf Stelzen. © Ellen Häring
Wenn überhaupt jemand bei Francisco vorbeikommt, dann sicher nicht, um Büffel aufzuhalten. Im Gegenteil. Fremde besuchen ihn in der Regel nicht in guter Absicht.
"Das erste Mal, als ich bedroht wurde, war das ein Großgrundbesitzer aus Pará. Der hat gesagt, wenn er mich nochmal erwischt, wie ich mit CIMI zusammenarbeite, dann gibt’s einen Kopfschuss. Das zweite Mal war es schlimmer. Es war ein anderer Farmer. Der hat meinen Bruder zu sich nach Hause bestellt und hat mir mitteilen lassen, dass er nun eine Truppe aus der Stadt schicken wird, um mich umzubringen. Das wäre die einzige Möglichkeit, mich aus unserem Dorf zu holen, weil sie denken, dass ich der Anführer bin."
Gewalttätige Großgrundbesitzer, stinkende Büffelherden, abgefressene Gemüsebeete. Wir wollen es wissen. Wir steigen in eines der Motorboote, Francisco setzt sich nach vorne. Wir fahren flussaufwärts. Mit winzigen Bewegungen seines Zeigefingers weist Francisco dem Bootsführer den Weg. Rechts, links, rechts und wieder rechts.
Kein Wasserbüffel ist zu sehen. Dann plötzlich taucht auf der gegenüberliegenden Flussseite eine Brache auf, abgeholztes Terrain, teilweise eingezäunt, und ein niedergetrampelter, matschiger Abhang, der direkt in den Fluss führt. Wir halten an.

Auf der Suche nach Wasserbüffeln und ihren Besitzern

Es stinkt erbärmlich nach Kot und Urin. Die Baumstumpfe sind verrußt, es sieht hier aus wie nach einem Waldbrand. Mühsam kämpft sich Francisco durch den Schlamm auf die Anhöhe. Er zeigt in die Ferne, und da rennen sie: Büffel, die offenbar gemerkt haben, dass wir ihnen nicht wohlgesonnen sind. Aber wo ist ihr Besitzer?
Büffel auf Weide mit Baumstümpfen.
Der Wald wurde abgeholzt, damit die Büffel weiden können.© Klaus Ehringfeld
Hier wohnt er sicher nicht. Francisco kennt ihn, so wie er auch die anderen Viehzüchter kennt. Seine Gegner. Er will keinen von ihnen aufsuchen, unter keinen Umständen. Wir sollen alleine fahren.
Wir setzen Francisco zuhause ab und wollen Edina mitnehmen. Aber sie winkt auch ab: keine Gespräche mit dem Gegner, viel zu gefährlich. CIMI, die Hilfsorganisation für Indigene, für die sie arbeitet, hat viele Feinde hier.
"Wir werden beschuldigt, für ausländische Interessen zu arbeiten, und uns wird unterstellt, dass wir den Amazonas internationalisieren wollen. Also dass wir dunkle Absichten verfolgen. Wir bieten Workshops an, die darüber aufklären, wie unser Staat organisiert ist, welche Rechte die Indigenen haben und wo sie die einklagen können. Das hilft dabei, dass sie ihre Ansprüche selbst durchsetzen."

Strafanzeige gegen die Hilfsorganisation von der Regierung

Das gefällt nicht allen und Edina hat berechtigte Angst, sich zu exponieren. CIMI, u.a. finanziert von der katholischen Kirche, auch aus Deutschland, steht schon länger unter Beobachtung.
"Schon vor zwei Jahren, also vor der jetzigen Regierung, gab es eine Strafanzeige gegen CIMI", sagt Edina. "Wir wurden beschuldigt, mit der organisierten Kriminalität zusammenzuarbeiten. Das Bankgeheimnis wurde aufgehoben, aber es gab keine Beweise. Die CIMI-Leute wurden dann nicht weiter verfolgt, aber gegängelt. Und die jetzige Regierung sagt, dass CIMI eine verfaulte Bande der katholischen Kirche ist."
Wir haben verstanden und schippern alleine los. Der Bootsführer lässt sich den Weg beschreiben.
Der erste Viehzüchter ist nicht da, vor seinem frisch gestrichenen Domizil am Fluss steht ein Stelzenhaus, auf der Veranda sitzt gelangweilt eine Frau, die sich ihre blond gefärbten Haare kämmt. Vor ihr baumelt ein frisch geschlachtetes Schwein, aufgehängt an seinen Hufen, die Zunge hängt aus dem Maul. Blut tropft in den Fluss.
Wortkarg beantwortet die Frau unsere Fragen. Wie der Viehzüchter heißt, will sie nicht sagen. - Ja, er hat Wasserbüffel. 40 sind es insgesamt. Das Fleisch wird gegessen. Der Käse geht in die Stadt. Die Milch auch.
Nein, es ist keiner da.

Antonio hütet die Büffel der Farmer

Wir fahren zurück und blicken uns um. Es gibt nur Wald und Wasser. Und Wasser und Wald. Plötzlich sehen wir Büffel am Fluss. Es sind Kälbchen. Wir nähern uns und entdecken ihre Mütter in einem eingezäunten Gelände. Daneben ein Stelzenhaus. Hier wohnt Antonio. Er hat nichts dagegen, mit uns zu sprechen.
"Ich kriege 30 Reales pro Büffel im Monat", erzählt er. "Das macht bei 14 Büffelkühen und ihren Kindern 420 Reales." Das sind knapp 100 Euro im Monat. Kurze Pause. Wir gucken uns an. Wir haben es hier mit einem Büffelhüter zu tun, nicht mit einem Büffelbesitzer. Auch spannend.
Älterer Brasilianer in T-Shirt lehnt am Zaun, dahinter Büffel
Antonio verdient sich ein Zubrot und hütet 14 Büffelkühe und ihre Kälber. © Klaus Ehringfeld
Das bescheidene Auskommen als Büffelhüter stellt Antonio offenbar minimal besser als Francisco: Er hat eine kleine Terrasse an sein Holzhaus gebaut, drinnen sitzt die Enkelin vor dem laufenden Fernseher auf einer Couch. Es gibt also Strom. Antonio ist ein wenig misstrauisch. Er will es sich mit niemandem verscherzen.
"Ich unterstütze die Behörde der Indigenen, die Funai, aber auch die Viehzüchter. Die Viehzüchter bringen mir schließlich meine Einnahmen, die Funai hat mir noch nie etwas gegeben. Ich arbeite mit den Viehzüchtern, ich rede auch mit denen und ich habe noch nie irgendeine Bedrohung erlebt. Dieses Gerede hat weder Hand noch Fuß."
Antonio lebt erst seit vier Jahren in dem Gebiet. Er hat sich 45 Hektar Land gekauft, direkt am Fluss, und davon vermietet er 15 Hektar an einen Büffelbesitzer. Sonst muss er nichts tun. Zum Melken kommen andere. Indigene, behauptet Antonio. Er selbst wollte sich als Indigener registrieren lassen, als Mura, einfach um kostenlosen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu bekommen. Das sieht das Gesetz so vor. Hat aber nicht geklappt.
Was die Büffel anbelangt: Er muss nur darauf achten, dass die Tiere sich wohlfühlen. Dass sie stinken, ist angesichts der Kothaufen nicht zu leugnen, dass sie das Wasser verdrecken, streitet Antonio auch nicht ab.
"Der Cazique selbst, der Stammesführer, hat ja das Wasser zum Labor gebracht, aber es gibt noch keine Ergebnisse."

Das Trinkwasser kommt aus dem verdreckten Fluss

Antonio muss genauso wie Francisco und seine Familie das Wasser aus dem Fluss trinken. Stolz zeigt er uns eine 2-Liter-Flasche mit glasklarem Trinkwasser. 12 Chlortabletten hat er reingeschüttet. Chlor, das er umsonst in Audazes, der nächsten Kleinstadt, bekommt.
Dann zeigt uns Antonio die 14 Büffelkühe, sie stehen auf einem Gelände, das mit einem Elektrozaun gesichert ist. Die Mura, die sich beschweren, wollen keine solchen Zäune, sagt Antonio, obwohl die Viehzüchter das anbieten. Sein Gemüse baut Antonio in einer Art Gewächshaus an, damit die Büffel, wenn sie ausbrechen, nicht alles auffressen. Und was ist mit den Indigenen, deren Ernte von den Büffeln vernichtet wird?
"Ach, die reden, reden und reden. Wenn mir sowas passiert, dann sage ich Bescheid und die Viehzüchter kommen und fragen: Wie viel willst du? Aber ich will normalerweise gar kein Geld, sondern nur, dass sie die Tiere wegnehmen und ich in Ruhe mein Feld bestellen kann. 'Ihr wisst ja, wie viel Arbeit das ist', sag ich zu denen und dann klappt das. Also - ich hatte noch nie Probleme mit irgendeinem Viehzüchter."
60 Büffel hat Antonios Viehzüchter insgesamt. Ein Anfänger. Wenn alles gut läuft, wenn er am Flussufer noch mehr Leute wie Antonio findet, Leute also, die kooperieren, dann kann sich die Zahl schnell verzehnfachen.

Die neue Regierung weist keine Schutzgebiete mehr aus

Als wir zu Francisco zurückkehren, ist ein Unglück geschehen. Sein Sohn hat sich mit einer Axt in sein Bein gehauen, eine tiefe Wunde klafft im rechten Spann. Der Sohn, vielleicht 17, 18 Jahre alt, sitzt stoisch auf einer Bank und schweigt.
Wir sind schockiert und holen alles, was wir zur Wundheilung in unseren Rucksäcken finden können, heraus. Keine Reaktion. Vor allem finden wir, dass der Junge ohne Umwege in ein Krankenhaus gebracht werden muss, zum Nähen. Auch keine Reaktion. Der Junge starrt ins Leere, die Frauen kochen einen Tee aus braunen Blättern und waschen damit die Wunde aus. Schließlich wird höflich ein Desinfektionstuch aus meinem Rucksack akzeptiert und das Bein wird mit einer Stoffwindel des Säuglings verbunden. Der Junge legt das Bein hoch. Keine Klagen.
Von Francisco wollen wir wissen, warum er sich von den Viehzüchtern keinen Zaun bezahlen lässt. Er ist empört.
"Nein. Wir sind nicht in der Pflicht, einen Zaun zu bauen. Die sollen sich doch selbst einzäunen. Die sind die Invasoren! Die kommen und wollen uns mit etwas Kleingeld kaufen und wir sollen uns damit abfinden. Das ist nicht gerecht."
Und was ist mit den Mura, die mit den Viehzüchtern zusammenarbeiten?
Es gibt sogar Muras, die selbst Viehzüchter geworden sind, gibt Francisco zu. Und manche Familien arbeiten für die Eindringlinge, um Geld zu verdienen. Aber das sei die Minderheit. Die Mehrheit hält zusammen und will die eigene Kultur leben, aber auch teilhaben. Sie wollen Schulen, eine anständige Gesundheitsversorgung und funktionierende Stromleitungen. Bisher war die staatliche Indianerbehörde FUNAI für solche Anliegen zuständig. Aber die Regierung Bolsonaro hat sie weitgehend entmachtet.
"Unser Land ist von der FUNAI als indigenes Gebiet anerkannt worden, weil wir schon sehr, sehr lange hier zuhause sind, unsere Vorfahren haben hier gelebt. Aber es ist nicht zum Schutzgebiet erklärt worden. Und wir wollen, dass dies geschieht."
Dafür stehen die Chancen schlecht, meint Edina. Sehr schlecht.
"Der Präsident weist keine Schutzgebiete mehr aus für indigene Völker. Alles, was noch nicht ausgewiesen ist, wird parzelliert und verteilt, aber er will keine Schutzgebiete mehr ausweisen."

Wer sich wehrt, wird eingeschüchtert

Wer in einem Schutzgebiet lebt, der kann sich gegen illegale Landnahme wehren. Viele Indigene haben dies in der Vergangenheit erfolgreich getan. Damit ist nun Schluss. Kaum war Jair Bolsonaro Präsident, hat er verkündet, dass die Indigenen kein weiteres Land bekommen werden. Sie hätten schon zu viel. "Eine Million Indigene besitzen 13 Prozent des Territoriums und machen nichts daraus", so Bolsonaros Argumentation. Umweltschützer hingegen sehen den Regenwald durch Indigene bestens geschützt, gerade weil sie nichts aus ihm herauspressen.
Francisco wappnet sich in diesem Konflikt und besucht mit anderen Mura das Training von CIMI.
"Wir wussten ja früher nichts. Alles war willkürlich. Wir haben nur gelitten. Aber jetzt machen wir Fortschritte, seit wir die Workshops bei CIMI machen. Wir lernen, was unsere Rechte sind, und auch, wie wir sie wahrnehmen können."
Die erste Lektion hat Francisco schon gelernt. Wer sich wehrt, wird eingeschüchtert. Er wedelt mit einem Papier, es ist eine Vorladung der Polizei.
"Die Wahrheit ist, dass sie mich dahin bestellen und ich weiß, da werden ganz viele Viehzüchter und Farmer sein", erklärt er. "Und derjenige, der dahintersteckt, ist ein Verwandter des Präfekten. Es ist ein Versuch mich zu kriminalisieren." Edina bestärkt ihn: "Ja, es ist ein Versuch der Kriminalisierung."
Schon nächste Woche ist der Termin.
"Ich habe keine Angst", sagt Francisco. "Ich wohne hier, weil ich ein Krieger bin. Ein Mura-Krieger."

Wo sind die Profiteure der Geschichte?

Wir müssen aufbrechen, sonst kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht nach Audazes, der Kleinstadt, in der wir übernachten. Und in der es ein Gesundheitszentrum gibt. Der Bootsführer sitzt schon im Bug, als Franciscos verletzter Sohn von zwei Männern hinunter ans Ufer getragen und ins Boot gehievt wird.
Abendlicht spiegelt sich im Wasser  eines Nebenarms des Amazonas.
Abendstimmung auf einem der vielen Nebenarme des Amazonas.© Ellen Häring
Als wir in der Abendsonne durch das Amazonasbecken schippern, ist wieder alles im Einklang: der Regenwald, das Wasser, die wenigen Menschen, denen wir begegnen. Ein Paradies auf Erden.
Im Hafen von Audazes wird unser Verletzter endlich auf ein Motorradtaxi gesetzt und zum Arzt gebracht. "Obrigado", Danke - das ist sein erstes und einziges Wort, das er an uns richtet.
Am Abend lassen wir die ganze Geschichte Revue passieren. Wo sind die Leute, die mit den Büffeln Geld machen? Was für Typen sind das? Großgrundbesitzer, die andere für sich die Drecksarbeit machen lassen? Oder rücksichtslose Kleinbauern, die ihre Interessen mit allen Mitteln durchsetzen?
Wir suchen und wir finden. Am nächsten Tag sitzen wir einem Mann gegenüber, der 190 Tiere hat: Wasserbüffel und Zebu-Rinder. Er verkauft das Fleisch, die Milch und den Käse. Vor seinem dicken Bauch platziert eine junge Frau drei verschiedene Käsesorten. Alle sind aus Büffelmilch, eingeschweißt und etikettiert.
Vakuumverpackter Käse steht auf dem Tisch
Drei Käsesorten präsentiert der Viehzüchter - alle aus Büffelmilch.© Ellen Häring
Hier geht alles mit rechten Dingen zu, will die "Produktkontrolleurin" - so stellt sie sich vor - signalisieren. Und Manuel Maia, ihr Chef, bestätigt das. Und – jetzt staunen wir – er beschuldigt die Indigenen.
"Wir sind doch alle hier aufgewachsen, es gibt hier keinen Unterschied zwischen Indigenen und nicht-Indigenen. Man ist aufeinander angewiesen. Manchmal gibt es Konflikte, weil in den Amazonas viele Leute kommen, die sich einfach anderer Leute Land nehmen. Aber seit einem Jahr ist das alles viel besser geworden. Heutzutage sind es die Indigenen, die für die Landnahme verantwortlich sind, nicht die Produzenten. Weil die Indigenen nämlich zulassen, dass von außen Leute in ihr Gebiet kommen und abholzen."
Manuel Maia steht einer Kooperative von 39 Büffel- und Rinderzüchtern vor, alles Farmer, die nach eigenen Angaben nicht viel mehr als drei Hektar pro Person bewirtschaften. Die Indigenen haben viel mehr, machen nichts draus und kriegen alles geschenkt, findet Maia.
"Wir haben hier doch den Beweis, das Schutzgebiet der Indigenen ist hier seit Generationen ausgewiesen, das geht gleich hier die Straße runter. Wir hingegen haben unser Land gekauft vor 109 Jahren, den Titel haben wir seit 109 Jahren!"
Mit einigen Indigenen arbeiten Maia und die anderen aus der Kooperative zusammen.
"Die Indigenen sind mit uns ja friedlich, wir holen sie zum Arbeiten. Sie leben normalerweise von der Landwirtschaft, vom Fischen und vom Jagen. Vier indigene Familien arbeiten für mich, die wohnen in ihrem Stelzenhaus, das haben wir ihnen gebaut. Sie melken die Büffel. So ein Büffel ist ein ideales Tier, ein Wassertier, das zwar wild ist, aber zahmer als ein Ochse."
Unser Hinweis, dass die Tiere durchaus etwas zerstören, dass sie nämlich das Trinkwasser der Indigenen mit ihren Exkrementen verschmutzen, lässt Maia nicht gelten.
"Die können nicht lange im Wasser stehen. Das geht gar nicht, weil sie sonst von den Piranhas gebissen werden. Der Büffel muss wieder raus aus dem Wasser."

Der Büffel als Geschäftsmodell

Vor uns ein Mann Anfang 60, Basecap, kurzärmliges Hemd und dieser imposante Bauch. Er trägt Flip-Flops. So wie überhaupt alle hier mit Flip-Flops durchs Leben gehen, außer uns. Wir tragen Trekkingschuhe.
Mann mit Basecap, rotes T-Shirt
Manuel Maia ist Viehzüchter und produziert Büffelkäse.© Klaus Ehringfeld
Ein Großgrundbesitzer ist Maia nicht. Ein unschuldiger Kleinbauer aber auch nicht. Ein Schlitzohr in jedem Fall. Dass die Büffel die Maniokfelder der Indigenen zertrampeln und auffressen – Schnee von gestern.
"Wir haben jetzt ja Elektrozäune, damit hat sich das Problem erledigt. Wenn es dann doch mal passiert, dann bekommen die Indigenen ja eine Entschädigung."
Manuel Maia ist von dem Geschäft mit den Büffeln überzeugt. Ein anspruchsloses Tier, das sich großartig vermarkten lässt. Seine Produktkontrolleurin pflichtet ihm bei.
"So ein Büffel ist so ergiebig. Mit fünf Litern Büffelmilch macht man ein Kilo Käse. Bei den Kühen braucht man fast das Doppelte, achteinhalb bis zehn Liter."
Den beiden ist wichtig, dass wir ihre Produkte kennenlernen. Denn die werden in einer nahe gelegenen Molkerei hygienisch einwandfrei hergestellt und verpackt. Sie entsprechen allen Standards, sie könnten theoretisch bis in die EU kommen. Dass die Molkerei ihre Abwässer in den Fluss lenkt, wie Francisco behauptet – davon weiß Maia nichts. Und hält es auch für ein Gerücht.
Schuld sind ganz andere, seine Konkurrenten. Illegale Käsereien, die mitten auf dem Fluss arbeiten und unverpackt und unkontrolliert Käse in der Bundeshauptstadt Manaus verscherbeln. Die Produktkontrolleurin mischt sich ein, das ist ihr Thema.
"Es darf laut Gesetz nur Molkereien auf dem Festland geben. Aber daran hält sich nicht jeder, es gibt schon elf Molkereien dieser Art. Sie sind kleine Käsereien, die auf einer Plattform auf dem Wasser arbeiten, und zwar mit dem Wasser aus dem Fluss. Und hier gibt es einen Konflikt."
Maia sagt: "Ja, die sind ein riesiges Problem für uns. Wir waren schon vor Gericht deshalb, ich hab den Richter gefragt: 'Würden Sie für Ihren Sohn ein Kilo Käse kaufen, von dem Sie nicht wissen, wo er herkommt? Nein? Warum tun Sie dann nichts gegen die jetzigen Zustände?'"

Öko-Käse aus dem Amazonas

Wir sollen jetzt rauskommen und in die Küche gehen. Draußen auf dem Gelände stehen vier große Hallen auf einem Feld, daneben das Büro- und Wirtschaftshaus. Ein stattliches Unternehmen, aber bestenfalls mittelständisch. In der Küche präsentiert uns Manuel Maia drei Teller mit verschiedenen Käsesorten, in Würfeln geschnitten. Büffelmozzarella ist nicht dabei – noch nicht. Aber Ricotta und Schnittkäse mit verschiedenen Kräutern. Brot gibt es dazu und Papaya.
Wir probieren den Käse. Er schmeckt ziemlich gut. Ich komme mir vor wie eine Verräterin an Francisco und der Sache der Mura. Auch der verpackte Käse sieht lecker aus, besonders der mit den Kräutern. Gäbe es eine direkte Handelsverbindung vom Amazonas in deutsche Bioläden, der Käse läge morgen im Regal: Büffelkäse aus dem Regenwald, 100 Prozent ökologisch. Pervers. Und nicht einmal gelogen.

Diese Reportage entstand im Rahmen einer Reise von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der Katholische Kirche. Adveniat unterstützt die Öffentlichkeitsarbeit von CIMI in Brasilien.

Wiederholung vom 04.08.2019
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