Konflikt

"Putin macht es genauso wie Stalin"

Der französische Publizist Alfred Grosser rückt Putin in die Nähe von Stalin.
Der französische Publizist Alfred Grosser rückt Putin in die Nähe von Stalin. © dpa picture alliance
Moderation: Ulrich Ziegler · 17.05.2014
Der französische Publizist und Politikwissenschaftler Alfred Grosser kritisiert Putin stark, vergleicht ihn sogar mit Stalin. Außerdem befürchtet er, dass es keine fairen Wahlen in der Ukraine geben wird. Und er nimmt auch die EU in die Pflicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Grosser, ich freue mich sehr, dass Sie heute zu Gast in unserer Sendung sind. Willkommen.
Alfred Grosser: Willkommen und ich bin gerne hier.
Deutschlandradio Kultur: Und damit ich das nicht vergesse: Nachträglich herzlichen Glückwünsch zur Verleihung des Henri-Nannen-Preises für Ihr, wie es heißt, publizistisches Lebenswerk, also auch für Ihr unermüdliches Engagement für die deutsch-französische Verständigung.
Es gibt einen Satz oder vielleicht auch einen Slogan von Ihnen, der mir gut gefallen hat. Ich will ihn mal zitieren: "Immer zufrieden sein und sich nie zufrieden geben.“ – Was treibt Sie mit 89 Jahren an, sich immer wieder zu Wort zu melden?
Alfred Grosser: Ja, weil ich mich fit fühle, weil ich gesundheitlich und geistig, glaube ich, fit bin. Und so lange es geht, muss es eben sein. Und wenn man mal angefangen hat, ich habe mit 18 angefangen, nächstes Jahr sind es 90. Mal sehen, wie es weitergeht.
Deutschlandradio Kultur: Was ärgert Sie im Moment auf der politischen Weltbühne besonders?
Alfred Grosser: Haben wir zwei Stunden Zeit?
Also, einiges, was nicht so bekannt wird: In Bonn ist ein Lehrstuhl vom Verteidigungsministerium eingerichtet worden vom Namen Henry Kissinger. Für mich ist es ein Massenmörder – wegen Kambodscha, wegen Chile. Und diese Woche steht im Spiegel noch ein Gespräch zwischen ihm und Nixon, Brandt sei ein alter Trottel, der lieber tot wäre. Das ärgert mich.
Deutschlandradio Kultur: Das ärgert Sie vielleicht auch vor allen Dingen als Professor. Wenn wir jetzt aber nochmal auf ihr Lebenswerk schauen, Sie galten und gelten immer als einer der großen Architekten der deutsch-französischen Beziehungen. Sie sind da etwas bescheidener, sagen, na ja, wenn ich schon mal Auklärer wäre, Mittler zwischen den Deutschen und Franzosen, vielleicht auch zwischen den Gläubigen und Ungläubigen, aber auch zwischen Europäern und Menschen, dann wär das ja schon mal was.
Alfred Grosser: Das war die Formulierung für meinen Friedenspreis. Für Europäer und andere Kontinente habe ich nicht sehr viel gemacht. Gläubige und Ungläubige ist für mich außerordentlich wichtig. Und neulich, das hat sich in Deutschland sehr verändert, habe ich in München eine Stunde lang mit Kardinal Marx öffentlich diskutiert über seinen Glauben und meinen Atheismus. Das ist wunderbar gelaufen. Das wäre vor zehn Jahren in Deutschland nicht möglich gewesen. - Und natürlich das Deutsch-Französische, aber im Sinn der Aufklärungsarbeit. Ich habe das Wort Freundschaft nie gebraucht. Vor allen Dingen die Versöhnung kenne ich nicht. Denn direkt nach dem Krieg haben wir unter französischen Widerständlern angefangen mit deutschen Widerständlern. Deswegen war ich immer sehr wütend, wenn man sich traf in der Kathedrale von Reims, am Arc de Triomphe . Man hätte sich in Dachau treffen müssen, Buchenwald war in der DDR, in Dachau, wo Franzosen und Deutsche gemeinsam eingesperrt und gefoltert worden waren von Adolf Hitler.
Deutschlandradio Kultur: Es geht Ihnen aber nicht nur um Geschichte. Ich habe auch gelesen, dass Sie beispielsweise Wladimir Putin, und wir denken da an die Krise in der Ukraine, für "unglaublich gefährlich“ halten. Was halten Sie für so gefährlich an diesem Mann?
Alfred Grosser: Dass man nicht weiß, was er will. Das heißt, Russlandbeziehung okay, wirtschaftliche Beziehungen okay, aber niemand weiß, bis wohin er gehen will. Und zum Beispiel die Geiselnahme war gemacht worden von Leuten, die er geschickt hat. Das waren noch nicht mal die Revolutionäre auf der anderen Seite, es waren Leute, die er geschickt hat. Und persönlich habe ich es unanständig gefunden, ein Sohn, nämlich Graf Lambsdorff, Sohn seines Vaters, der gleich gesagt hat, da waren auch deutsche Militärs dabei und Frau von der Leyen entschuldigt an der Geiselnahme. Da ist dann Peter Gauweiler in diese Linie dann eingestiegen. Und ich finde das furchtbar. Ich glaube, es gibt da eine Spaltung in der deutschen Außenpolitik. Ich glaube, dass Steinmeier mehr an Verhandlungen glaubt als die Kanzlerin und dass, glaube ich, einiges vielleicht möglich ist, wenn man nur wüsste, bis wohin Putin gehen will. Will er die Hälfte oder ein Drittel der Ukraine annektieren?
Dabei kann ich gar nicht verstehen, dass die deutschen Medien nicht darauf hingewiesen haben, dass die Bewohner der Ukraine Überlebende oder Kinder von Überlebenden des sechs Millionen Toten sind, die Stalin absichtlich durch die Hungersnot in der Ukraine gemacht hatte. Das wird eigentlich nie gesagt. Warum spricht man so viel von der Shoa und nie von diesem Hungertod von Millionen von Menschen? Und diese Ukraine sollte wirtschaftlich an Europa gebunden werden.
Deutschlandradio Kultur: Sagen Sie?
Alfred Grosser: Nein, das war das, was abgemacht war, nur wirtschaftlich. Aber es stimmt, dass ich seit Jahren meinen Studenten gesagt habe: Es ist gefährlich. Man weiß nicht, wie man das behandeln soll. Nimmt man die Ukraine nicht auf, mit welchem Grund nimmt man sie nicht auf? Und wenn man sie aufnimmt, ist es eine Provokation für Russland.
"Was will eigentlich Putin?"
Deutschlandradio Kultur: Also hat vielleicht Europa oder habend die europäischen Verantwortlichen in den letzten Jahren ein Stück unsensibel gehandelt, weil nicht gesehen wurde, dass das möglicherweise diese rote Linie ist, die Moskau weh tut, wenn sich Europa noch stärker Richtung Russland nähert?
Alfred Grosser: Ich weiß nicht. Also, wie gesagt, ich weiß nicht, was Russland ist. Heute stelle ich mir nur die Frage: Was will eigentlich Putin? Er spielt außerordentlich geschickt. Und es gibt keine Waffen gegen ihn. Die Wirtschaftssanktionen sind unwirksam.
Deutschlandradio Kultur: Die Amerikaner sehen das etwas anders.
Alfred Grosser: Ja, aber sie treffen dann auch die Deutschen und die Franzosen und andere Betriebe und Banken. Banken sind ja überall, unter anderem in Russland, auch unsere Banken. Und will er mehr als das, was er schon hat? Wenn er eine große militärische Kundgebung macht auf dem eroberten Teil der Ukraine und sagt, das ist schon Russland, wo stoppt er?
Und ich kann völlig verstehen, dass man in Georgien, dass man in Litauen, dass man in Lettland, dass man in Estland Angst hat.
Deutschlandradio Kultur: Könnte es vielleicht auch sein, dass Wladimir Putin selbst Angst hat, dass es möglicherweise zu Demonstrationen auf dem Roten Platz kommen könnte so wie auf dem Majdan, dass die Menschen gegen ihn aufstehen, und er jetzt lieber sagt, dann den starken Mann spielen, dann kriege ich zumindest gute Umfragewerte?
Alfred Grosser: Nein. Er macht es genau wie Stalin. Es war ein großer patriotischer Krieg. Und diesmal stachelt er das russische Nationalgefühl an. Und wer in Russland heute sagt, er handelt falsch, der ist gegen die Nation. Und die wirtschaftlich schwierige Lage von Russland und andere Nachteile werden überschwemmt von einem Nationalgefühl. Und das will er ja.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir jetzt noch mal auf die Ukraine schauen, hoffen alle darauf, dass es am 25. Mai zu freien und fairen Wahlen kommen wird und dass sich dann wirklich was ändern könnte. Glauben Sie daran oder wird Russland weiterhin seine Position behalten, ganz unabhängig davon wie die Wahlen ausgehen?
Alfred Grosser: Also, ich bin Politologe, der nachher erklärt, wieso man hätte voraussagen können. Aber mein Eindruck ist, dass es keine Wahlen geben wird oder jedenfalls dass es diese Wahlen nur im Westen von der Ukraine geben wird und nicht im anderen Teil.
Deutschlandradio Kultur: Dann haben sie keine Bedeutung.
"Wie kann das Land zur Ruhe kommen?"
Alfred Grosser: Dann haben sie keine Bedeutung. Jetzt hat es ja schon Scheinwahlen gegeben, um wirklich eine Abtrennung zu machen. Und Putin sagt, er habe denen gesagt, sie sollen diese Demonstration nicht machen. Sie haben es doch gemacht. Meiner Ansicht nach hat er ihnen gesagt, ich sage offiziell, macht es nicht, aber bitte macht es doch.
Deutschlandradio Kultur: Aber auf was kommt es jetzt in den nächsten Monaten in der Ukraine an? Man sagt, es brauche militärische Neutralität. Man braucht für das Land einen Freihandel, vielleicht Richtung Osten und Westen. Man braucht einen regionalen Interessenausgleich.
Ganz unabhängig, ob die Wahlen gut laufen, was sich viele im Westen wünschen, sind das die Kernaufgaben, die anstehen, damit das Land wieder zur Ruhe kommt?
Alfred Grosser: Wie kann das Land zur Ruhe kommen, wenn ein guter Teil des Landes besetzt und erobert ist? Und man schlägt auf die ein, die ukrainisch bleiben wollen. Und bei den jetzt neuen Verhandlungen sitzen die Einzigen, die was tun könnten, nicht am Tisch.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Einschätzung hört sich aber ziemlich pessimistisch an, obwohl Sie doch eigentlich gesagt haben, Sie wollen immer zufrieden sein und sich nie zufrieden geben.
Alfred Grosser: Na, zufrieden bin ich nicht. Ich bin genauso wenig zufrieden mit der Situation von Israel. Und ich sage oft, ich bin intellektuell Pessimist, aber genetisch Optimist, aber meine Gene versagen in manchen Fällen. Bei der Ukraine funktionieren meine Gene nicht mehr richtig.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie ja einen langen Lebensweg hinter sich und auch viele große Konflikte in Europa erlebt. Wo würden Sie heute die Rolle der Europäer in diesem Konflikt sehen? Zurückhalten? Noch stärker sich engagieren? Richtung Moskau arbeiten? Alles gleichzeitig?
Alfred Grosser: Mir wäre lieb, wenn es endlich mal ein Europa geben würde. Haben Sie in dieser Krise je von Lady Ashton gehört? Nichts! Und es gibt keine gemeinsame Außenpolitik.
Diesen Mittwoch war Steinmeier in Paris. Einerseits hatte er eine Ehre, die nie jemand vor ihm hatte. Er saß auf der rechten Seite des Präsidenten im Französischen Ministerrat. Und der danach, ich war dabei, gab er den Carlo-Schmid-Preis an Ayrault, den ehemaligen französischen Premierminister. Und er sprach Hoffnung aus, dass einiges Positive geschehen könnte. Aber ich sehe nicht, wie das laufen wird. Ich bin seit langen Jahren befreundet mit Ischinger, der jetzt den Vorsitz mit führen wird.
Deutschlandradio Kultur: Am runden Tisch.
Alfred Grosser: Aber was der erreichen kann, weiß ich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Grosser, wir sehen, dass es eine gemeinsame europäische Außenpolitik im Moment nicht so richtig gibt. Aber Europa wird auch von innen getestet im Moment. Wir haben die Europawahlen in gut einer Woche. Und wir haben Probleme. Wir hatten die Wirtschafts- und Bankenkrise. Wir haben Arbeitslosigkeit vor allen Dingen bei Jugendlichen. Wir haben das Problem des Rechtspopulismus. Dann schauen wir auf die Wahlplakate in Deutschland, über die ich erzählen kann, ich weiß nicht, wie es in Frankreich ist, und da verspricht die SPD beispielsweise ein Europa des Miteinander und die CDU ist sich sicher, dass man nur gemeinsam in Europa erfolgreich sein kann. – Wenn man sich allein die Plakate anschaut, könnte man sagen, eigentlich alles ganz in Ordnung.
"Europa ist mehr als viele föderale Staaten"
Alfred Grosser: Nein, es ist nichts in Ordnung, aber das ist die große Schuld der Medien, darunter die Rundfunkanstalten, die Journalisten usw., die nur negativ über Europa sprechen.
Zum Beispiel bei uns, ich bin stolz, ich arbeite mit an den einzigen zwei Zeitungen, die wirklich für Europa kämpfen - Ouest-France, die größte französische Tageszeitung, eine Million Auflage. Und die erklärt ständig, was Europa schon für Frankreich getan hat – national und regional. Und hier zum Beispiel die Süddeutsche, die ich jeden Morgen lese, und die FAZ sagen nur, sie nörgeln mit Europa. Und damit befeuern sie niemand, und man antwortet nicht auf die Rechtspopulisten, denn man sagt ihnen nicht, was Europa schon alles ist. Und es ist enorm. Es ist keine Konföderation. Es hat keine gemeinsame Außenpolitik, keine gemeinsame Militärpolitik, aber es ist schon viel mehr als viele föderalen Staaten. Wenn Sie einem Schweizer oder einem Amerikaner erklären würden, was Europa schon alles ist, dann würde er aufschreien und sagen, das wäre das Ende unseres Föderalismus. Und das will zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht einfach nicht begreifen.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist nicht nur die Aufgabe der Medien, vielleicht positiv zu berichten. Auch die Parteien müssen eigentlich viel stärker die Probleme anpacken, die anstehen. Sie haben es genannt: gemeinsame Außenpolitik, vielleicht eine gemeinsame Verteidigungspolitik, gemeinsame Energiepolitik, gemeinsame Flüchtlingspolitik. Aber all diese Themen finden nicht statt. Das müssen Sie doch auch den Parteien vorwerfen.
Alfred Grosser: Ja, aber momentan ist außerordentlich interessant, es gibt zum ersten Mal einen Kampf um den Vorsitz der Kommission, als dem Parlament, wo es wahrscheinlich eine Krise geben wird, weil wahrscheinlicher einer der beiden eine Mehrheit haben wird.
Deutschlandradio Kultur: Also Schulz oder Juncker.
Alfred Grosser: Schulz und Juncker. Der andere wird sagen, ich unterstütze ihn. Und dann kommen die Regierungen, die den Gewählten nicht wollen, und es kommt zu einer echten Krise. Denn zum Beispiel die Engländer wollen niemanden von den beiden. Frau Merkel will den SPDler nicht, obwohl es lange ein konservativer Präsident der Kommission war. Und ich finde, so eine Krise ist was Gutes. Denn das zeigt, dass die Institutionen existieren, dass es einen echten Machtkampf gibt zwischen zwei Institutionen. Ich hoffe nur, dass das Parlament siegen wird.
Deutschlandradio Kultur: Es wäre eigentlich normal, wenn man sagen würde, es gibt eine demokratische Wahl. Dann muss auch die Partei oder die Gruppe, die den stärksten Kandidaten hat, den Kommissionspräsidenten stellen. Das heißt, Sie fordern auch eine Reform innerhalb der Institutionen der Europäischen Union?
Alfred Grosser: Ja. Und ich fordere vor allen Dingen, dass man hier anerkennt, gegen das Bundesverfassungsgericht, dass diese Versammlung legitim ist in Straßburg und Brüssel, nicht weil es nicht genügend gewählte Deutsche gäbe. Wenn Sie den Bundesrat ansehen, ein Bremer wiegt zehnmal mehr als ein Nordrhein-Westfale. In Amerika wirkt ein Alaska-Bürger 54 mal mehr als ein Kalifornier im Senat. Und der Senat hat alle Macht auf allen Gebieten. Das ist ein bisschen lächerlich. Es ist legitim. Man arbeitet transnational. Man macht Kompromisse und das ist notwendig in der Politik. In Frankreich hat man das nur noch nicht erfahren, dass man Kompromisse machen muss. Und man arbeitet.
Und die, die arbeiten, werden in Frankreich zum Beispiel nicht anerkannt. Die sind nicht in den Pariser Medien. Die sitzen da an der Arbeit. Und die, die gegen Europa sind und doch Abgeordnete, zum Beispiel die beiden Le Pens, Vater und Tochter, sind gegen Europa und gehen nicht Straßburg, obwohl sie dort gewählt sind.
Deutschlandradio Kultur: Wenn man das nochmal bündeln möchte jenseits dieser Fragen und Probleme, die Sie aufgezeigt haben, vor welcher Kernfrage steht Europa in den nächsten Jahren?
Alfred Grosser: Für mich ist es eine institutionelle, wo man überhaupt keine Verträge ändern muss, dass es aufhört, der Sieg von De Gaulles über Robert Schumann zu sein. Das heißt, unter Staaten, die eigentliche Macht in Brüssel ist nicht die Kommission, es ist der Rat, wo die Regierungen sitzen. Und die müssen alles gutheißen. Und wenn hier protestiert wird gegen irgendwas aus Brüssel oder in Paris, so ist das vom französischen oder vom deutschen Vertreter in Brüssel im Rat genehmigt worden. Das sollte geändert werden. Man kann so spielen, dass der Rat so was ist wie der Bundesrat oder so was Ähnliches und dass wirklich die Kommission einige Macht bekommt. Sie ist ja nur vorschlagend bis jetzt. Sie darf nur Vorschläge machen. Sie entscheidet ja nicht.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben einen Namen genannt, Charles De Gaulles. Ich will man kurz 52 Jahre zurückschauen. Als er vor 52 Jahren im Jahr 1962, damals französischer Staatspräsident, im Ludwigsburger Schlosshof eine Rede an die deutsche Jugend hielt, da begann er diese mit den Worten: "Sie alle beglückwünsche ich. Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein.“ Und es gab riesigen Beifall.
Wenn heute Francois Hollande, Angela Merkel in Portugal oder in Spanien oder in Frankreich so eine Rede an die Jugend halten würde, wäre wahrscheinlich was ganz anderes. Da würden wahrscheinlich Tomaten fliegen, weil 25 Prozent und mehr Jugendarbeitslose in diesen Ländern sind.
"Die Bundesrepublik stirbt langsam aus"
Alfred Grosser: Und Sie haben Jugendarbeitslose weniger als woanders, weil Sie weniger Jugend haben und weil die Bundesrepublik langsam ausstirbt.
Deutschlandradio Kultur: Und auch weil das Bildungssystem vielleicht noch ein bisschen anders funktioniert.
Alfred Grosser: Wenn sie nicht 300.000 neue Emigranten jedes Jahr haben, in fünfzehn Jahren ist Frankreich bevölkerter als die Bundesrepublik.
Deutschlandradio Kultur: Aber nochmal: Wenn wir das europaweit sehen, vor allen Dingen in südeuropäischen Ländern, wir können Griechenland auch noch dazu nehmen, dieses Problem der jahrelangen hohen Jugendarbeitslosigkeit, könnte man nicht sagen: Leute, wenn ihr das nicht umgehend und bald löst, dann verspielt ihr die Zukunft Europas? – Die jungen Leute sind frustriert.
Alfred Grosser: Ja, aber man verspielt auch die Zukunft der verschiedenen Länder. Und ohne Europa wäre es noch schlimmer. Bis jetzt ist noch kein deutscher Euro nach Athen geflossen. Aber wenn Athen allein gelassen würde, wäre es eine totale Katastrophe. Und die Tatsache, dass es zu Europa gehört, hilft auch der arbeitslosen Jugend mehr als wenn es kein Europa gäbe.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt aber auch Zahlen, die manchmal mehr besagen als viele Worte. 700.000 Milliarden Euro sind für die Rettung der Banken in den letzten Jahren ausgegeben worden, sechs Milliarden für die Behebung oder die Abschwächung der Jugendarbeitslosigkeit. – Da sieht man doch die Gewichtung.
Alfred Grosser: Ja, man sieht vor allen Dingen, dass die Banken furchtbar sind, dass die Banken momentan zum Beispiel hohe Gelder in Amerika als Strafe bezahlen müssen für die ganze Mogelei. Und für mich ist der unbeliebteste Deutsche ein Schweizer, nämlich der ehemalige Präsident der Deutschen Bank. Und was die Banken verschuldet haben, ist einfach enorm. Und sie verschulden weiter. Und sie haben sich nicht gebessert. Sie sind gezwungen worden, sich ein bisschen zu bessern, aber sie spielen noch, sie spekulieren noch, sie mogeln noch. Und das ist eins der Übel transnational. Das betrifft Amerika wie Frankreich, wie Griechenland.
Deutschlandradio Kultur: Und wie lässt sich dieses Problem an der Wurzel beheben? – Die Politiker scheinen es, wenn Sie es so beschreiben, ja anscheinend nicht zu wollen.
Alfred Grosser: Sie fangen an, ein bisschen zu rühren. Das ist übrigens einer der Gründe, weswegen ist nicht für Juncker bin. Denn Juncker hat eine doppelte Persönlichkeit, weil er erstens ein eifernder Europäer war und zweitens als Chef von Luxemburg die Banken als Hort des ungerechten Geldes gemacht hat. Zum Beispiel gab es einen französischen Fond, der dann geschlossen wurde, als es bekannt wurde. Der hieß einfach "Lux Umbrella“. Das heißt Regenschirm oder Sonnenschirm über Luxemburg.
Deutschlandradio Kultur: Ähnliche Probleme haben wir natürlich auch in den Niederlanden, wo dann Firmen sich dort niederlassen, auch die Deutsche Bahn beispielsweise, und dann damit Steuern spart. Das sollte doch irgendwann mal zu Ende gehen. Sonst sind die Leute doch zu Recht sauer und gehen überhaupt nicht mehr zur Wahl.
Alfred Grosser: Es geht ein bisschen besser, seit Amerika die Schweizer Banken geregelt hat, gemaßregelt hat – eine gute Erpressung. Das kann jetzt Deutschland oder Frankreich auch nachmachen. Und da geht’s ein bisschen besser. In Luxemburg geht es nicht besser, insgesamt bleibt dieses transnationale Problem des großen Geldes.
Deutschlandradio Kultur: Herr Grosser, ich habe vor kurzem eine Umfrage gelesen. Da steht drin, dass in Frankreich mittlerweile nur noch ein Drittel der Franzosen richtig überzeugte Europäer sind. Dafür ist Marin Le Pen, also die Vorsitzende der Front National und übrigens auch eine große Anhängerin von Wladimir Putin im Vormarsch. – Was passiert da im Moment in Frankreich?
Alfred Grosser: Zuerst einmal: Wladimir Putin unterstützt überall in Europa die extrem rechten Parteien. Finanziell wahrscheinlich, ich kann das nicht beweisen, und politisch. Denn das ist natürlich eine Katastrophe für das vereinte Europa, dass die extrem rechten Parteien so stark werden.
Deutschlandradio Kultur: Also, er möchte spalten.
Alfred Grosser: Er möchte spalten natürlich. Und die Franzosen, die doch Europa bejahen, sind eine Mehrheit in Umfragen. Übrigens, neulich gab es eine ganz idiotische Umfrage. 85 Prozent der deutschen Jugendlichen seien im Leben zufrieden. Und wenn Sie sehen, dass das Ganze für die ganze Bevölkerung ein Sample von 400 war, das sind so hundert Jugendliche, mit denen man dann spielt. – 85 Prozent deutsche Jugendliche zufrieden kann ich nicht glauben.
Deutschlandradio Kultur: Entwickelt sich Frankreich so langsam zum Sorgenkind Europas, wenn man diese Umfragewerte sieht, was die Rechtspopulisten betrifft?
"Wir sind noch eine Demokratie, aber mit Gefahren"
Alfred Grosser: Nicht mehr als in anderen Ländern. Das heißt, überall in Europa – und ich spreche noch nicht mal von Ungarn, das eigentlich ausgeschlossen sein müsste, jedenfalls sein Stimmrecht sollte entnommen werden, denn Ungarn ist keine Demokratie mehr. Wir sind noch eine Demokratie, aber mit Gefahren.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn wir die Gefahren sehen, wir haben eine Demokratie und wir haben Wahlen am 25. Mai, wie stark gefährdet eine hohe Wahlbeteiligung bei diesen Rechtspopulisten dieses gesamte System Europa? Sehen Sie die Gefahr oder sagen Sie, das muss Demokratie aushalten?
Alfred Grosser: Ja, erstens muss es Demokratie aushalten. Hier sind auch die Wahlplakate von einigen nicht sehr erfreulich. Ich war neulich in Wien. Da beherrschen eigentlich Wahlplakate, alles ist gekauft worden von der extremen Rechten. Und ich weiß auch nicht, wie es in Österreich ausgeht. Und ich weiß nicht, wie es in Dänemark ausgeht. Ich weiß nicht, wie es in Norwegen ausgeht. Das heißt, dass es möglich ist, dass im Europaparlament eine 20-Prozent-Gruppe gibt, die extrem rechts ist.
Deutschlandradio Kultur: Aber könnte das die Grundfeste infrage stellen? Oder sagen Sie, ja, das ist unangenehm, das muss Demokratie aushalten – auch in Straßburg und in Brüssel?
Alfred Grosser: Einbinden soll man sie nicht. Das sind Dinge, wo man nicht mitmachen kann. Und man soll sie prüfen. Man soll zeigen, dass man was anderes kann als nur denen zuhören. Aber da sind wieder die Presse da und die Parteien da. Frau Le Pen sagt die furchtbarsten Zahlen, die alle falsch sind. Und nur eine französische Zeitung, Libération, bringt zweimal in der Woche Gegendarstellungen. Das heißt: Warum sind diese Zahlen falsch? Aber Le Monde bringt das zum Beispiel nicht. Und die Parteien sagen nicht, Frau Le Pen, bitte, diese Zahlen sind alle falsch. Und die Journalisten sind besonders furchtbar.
Jetzt soll sie eine Stunde sprechen. Der Sender, unser ZDF, Antenne 2, hat Martin Schulz eingeladen. Sie sagt, ich spreche nur mit Franzosen. – Dann wurde er ausgeladen, anstatt zu sagen: Liebe Frau Le Pen, wenn Sie nicht wollen, dass wir Journalisten einladen, dann hören wir auf mit der Sendung. Das ist eine Feigheit. Es gibt auch viele feige Professoren, aber es gibt auch feige Journalisten.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt möchte ich gerne zum Schluss dieser Sendung mit Ihnen vielleicht nochmal versuchen einen großen Bogen zu schlagen. Denn nicht von ungefähr werden Sie am 3. Juli im Deutschen Bundestag an den Kriegsausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren erinnern und, da Sie ein Aufklärer sind, wie ich Sie vorher schon mal beschrieben habe, nicht nur historische Abläufe nochmal nachvollziehen.
Die Frage: Kann man aus diesen Erfahrungen vor hundert Jahren Konsequenzen ziehen, was lernen, um ähnliche Katastrophen auch in Zukunft zu vermeiden?
Alfred Grosser: Ich werde nicht nur von 1914 sprechen, sondern von der ganzen Entwicklung nach 1914, sogar über den Versailler Frieden hinweg, und zum Beispiel sagen, endlich sollten dann – und das ist unter diesem Papst gut – die Kirchen ein bisschen mutiger sein. Die haben ja immer unterstützt, dass deutsche Christen französische Christen töten und umgekehrt. Und sie haben große Gesänge gehalten über jeden Sieg. Also, da ist die Veränderung anscheinend da.
Bei anderen Dingen muss man sagen, wie sich das entwickelt hat, warum Deutschland moderat geblieben ist, warum es in Deutschland keine Revolution gegeben hat, weil schon im November 1918 die Gewerkschaften gesagt haben, wir machen keine Revolution oder wir bekommen den Achtstundentag – usw.
Da sind Entwicklungen, die man betrachten muss, um zu verstehen, was sich aus diesem Krieg entwickelt hat, der heute im Rückblick keineswegs dasteht als glorreich. Es war ein Massenmord auf allen Seiten. Man bedauert es und man spricht von den Überlebenden. Und in Frankreich in den Dörfern sind endlose Listen auf Monumenten. In Deutschland denkt man mehr natürlich an den Zweiten Weltkrieg, wo Deutschland mehr gelitten hat und mehr zerstört wurde.
"Es ist viel gelungen"
Deutschlandradio Kultur: Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, an der Sie mitgearbeitet haben, sagten viele, das war ein Friedensprojekt. Und Joachim Gauck, der Bundespräsident sagte: Und nach 1989 mit der Öffnung Richtung Osten gab's noch ein Freiheitsprojekt dazu –, wenn man das so plakativ sagen möchte, also, zwei große Entwicklungsphasen.
Und jetzt 2014: Wo gehen wir, wo geht Europa in den nächsten zehn Jahren hin?
Alfred Grosser: Das ist sehr schwer. Gauck hat noch was anderes gesagt in seiner großen Europarede im Februar, dass Adenauer eigentlich dieses Europa wollte, um eine Gleichberechtigung zu erreichen und nicht nur wegen Europa, genauso wie De Gaulles den Vertrag wollte, um Adenauer von den Vereinigten Staaten wegzunehmen. Also, man soll nicht naiv sein in den Gründen. Aber es trifft sich, dass man 1950 viel hoffte. Und es ist viel gelungen. Aber man hat nicht erwartet, dass so viele Neue kommen.
Sehen Sie sich mal das ehemalige Jugoslawien an. Es kommen nach und nach alle. Und letzten Endes, werden so viele ehemalige jugoslawische Staaten in diesem Europa sein wie die sechs Gründerstaaten. Man hat zu schnell gemacht. Man hat zu schnell aufgenommen. Das war teilweise Schuld eines Deutschen, Verheugen in Brüssel, der aus wirtschaftlichen Gründen immer drauf bestanden hat. Politisch hat man das nicht richtig eingeschätzt.
Deutschlandradio Kultur: Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück forderte vor einem guten Jahr: "Europa braucht eine neue Erzählung.“ Und Roman Herzog, Alt-Bundespräsident, hat jetzt ein Buch rausgebracht. Da sagt er, man müsse Europa neu erfinden. – Manchmal habe ich so das Gefühl, vielleicht geht es auch einen kleinen Schuh kleiner und man könnte sagen: Wir machen eine kleinere Nummer und das Alte müssen wir gar nicht neu erfinden, sondern vielleicht müssen wir was bewahren und weiterentwickeln.
Alfred Grosser: Bewahren, bekanntmachen und weiterentwickeln – ich bin völlig Ihrer Meinung.
Deutschlandradio Kultur: Herr Grosser, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Alfred Grosser: Gerne.