Konferenz zur Gedenkkultur in Frankfurt

Was ist die Zukunft der Erinnerung?

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Auschwitz-Birkenau war das größte der deutschen Vernichtungslager.
In digitalen Zeiten haben Original-Zeugnisse Faszinationskraft. 2018 besuchten 2,15 Millionen Menschen die Gedenkstätte Auschwitz, 900 000 Dachau. © dpa / picture alliance / Simon Daval
Von Ludger Fittkau · 18.11.2019
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So viele Menschen wie noch nie besuchten im vergangenen Jahr die Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau und Dachau. Gedenkkultur scheint in Bewegung zu sein, das machte eine Tagung in Frankfurt am Main deutlich.
Der Begriff "Erinnerung" hat keine Zukunft – zumindest wenn es um Auschwitz und die anderen Konzentrationslager geht. Diese klare Aussage kam bei der Konferenz in Frankfurt am Main vom Historiker Volkhard Knigge. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald machte deutlich: In den Nachkriegsjahrzehnten war "Erinnerung" ein Ausdruck, der vor allem die Zeuginnen und Zeugen des Holocausts adressierte. "Wir haben von nichts gewusst" – das war unglaubwürdig!
"Erinnert euch", das meinte: Erinnern an die Nachbarfamilien, die deportiert wurden. An die Dinge, die aus ihren Wohnungen verschwanden. An die Berichte der Soldaten in der Familie von den Verbrechen an der Front, über die sie beim Heimaturlaub erzählten. Doch die direkten Zeugen leben nicht mehr, und die Schulklassen, die heute Dachau oder Buchenwald besuchen, können mit der Erinnerungsaufforderung zu Recht nichts anfangen. Bis 1945, das betonte Volkhard Knigge heute in der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, diente Erinnerungspraxis insbesondere im zwischenstaatlichen Kontext vor allem als Mittel der Verstetigung von Aggression und Gewalt:
"Das ist die lange Tradition des historischen Erinnerns. Und deswegen wird eigentlich bis 1945 – denken sie nur an den Westfälischen Frieden – das historische Erinnern in jedem Friedensvertrag auf Gegenseitigkeit ausgeschlossen. Weil Erinnern ein Mittel der Feindverstetigung ist. 'Wer hat mir etwas angetan, an dem muss ich mich rächen.' Da muss ich sozusagen in die Revanche. Das ist Erinnern sehr lange. Dieser Begriff des Erinnerns war nach '45 obsolet geworden. Und dann – angesichts des Holocausts, angesichts der NS-Verbrechen – kommt dieser neue Zug hinein: Erinnern als Aufarbeiten."

Erinnern zum Anfassen

Dieses Aufarbeiten müsse heute in Zeiten des Internet ganz bewusst mit einer Hinwendung zu den analogen Dingen einhergehen, fordert Knigge. Es geht um die Dinge, die von den Opfern noch hinterlassen wurden: Die Brieftasche in der Effektenkammer des KZ Neuengamme oder Fotos, Tagebuchnotizen oder eine Fahrkarte.
Aber es geht auch um die materiellen Dinge, die die Täter hinterlassen haben: Ob den Schriftzug "Jedem das Seine" am Eingang von Buchenwald oder die SS-Versuchsgewächshäuser in Dachau, die künftig in die Neukonzeption der dortigen Gedenkstätte einbezogen werden sollen. Volkhard Knigge will die heutigen Jugendlichen in mehrtägigen, am besten internationalen Jugend-Begegnungen ganz bewusst auf diese materiellen Hinterlassenschaften stoßen:
"Arbeiten wirklich am Material und dann macht man wirklich die überraschende Entdeckung, dass für die Digital Natives das Objekt, das originale Zeugnis im Archiv – das Ding, was immer es ist, es hat eine ungeheure Faszinationskraft für diejenigen, für die alles nur flüssig ist, Simulacrum ist, ungreifbar ist. Das Digitale kommt dann stützend als Werkzeug hinzu."

Schwierigkeiten, online zu erinnern

Kann das Internet nicht auch den Zugang zu den Originaldingen aus der Zeit der NS-Diktatur erleichtern? Ja, glaubt Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Aber es gibt auch Grenzen beim ungehinderten Zugang zu digitalisierten Objekten. Vor allem dann, wenn damit wieder eine mögliche posthume Enteignung der Opfer droht – etwa von Anne Frank und ihrer Familie. Mirjam Wenzel:
"Das beste Beispiel an der Stelle, wo das auch am markantesten deutlich wird, ist ja im Falle der Familie Frank. Wir verwahren ja als Leihgabe den Nachlass der Familie Frank. Und dort ist für die Copyrights der Rechtsvertreter der Familie zuständig, der Anne-Frank-Fonds. Der hat nun das Gegenteil von einer Creative-Commons-Policy. Sondern der vertritt die Haltung, dass es nicht rechtens ist, im Nachhinein noch mal die wenigen Besitztümer, die den Ermordeten verblieben sind, zu enteignen. Das heißt, das ist eine sehr restriktive Aneignung online."

Ein Badesee mit Geschichte

Die Bewegung hin zum konkreten, analogen Objekt – diesmal im öffentlichen Raum in der Nähe historischer Orte, an denen die Verbrechen geplant wurden. Diesen Prozess machte auch Ruth Ur, die Vertreterin der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland. Am Berliner Wannsee bekam sie von der Deutschen Bahn die Genehmigung, eine Bahnunterführung mit Wandbildern des Zeichners Christoph Niemann zu bestücken.
Ihr ging es neben den bekannten Freizeitbildern vom Badesee auch darum, den Ausflüglern das nahegelegene Haus der Wannsee-Konferenz, in dem 1942 der zeitliche Ablauf der sogenannten "Endlösung" der Judenfrage geplant wurde, ins Gedächtnis zu rufen. "I want Wannsee – das Strandbad. I want 'Menschen am Sonntag'. I want the Liebermann- Villa, das Haus der Wannsee-Konferenz, I want all these things."
Die Wandbilder wurden umgesetzt und sind nun eben keine Erinnerungskultur, sondern eher eine Art beiläufige Gedächtnisstütze. Oder auch für diejenigen, die noch nichts von der Wannsee-Konferenz gehört haben, einen ersten Stolperstein, der zu weitergehenden Auseinandersetzung führen kann. Gerne auch auf dem gezückten Smartphone, mit dem man den Tunnel passiert.

Internationale Konferenz "Die Zukunft der Erinnerung: Gedenkkultur und gesellschaftliche Verantwortung" 17.-19.11.2019, Frankfurt am Main

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