Komposition über das Verzeihen

Von Arne Reul · 21.01.2013
In seinem neuen Stück hat sich der französische Komponist Fabien Lévy mit der Frage beschäftigt, wie Versöhnung zwischen Völkern nach langen Kriegen möglich ist. Im Rahmen des Ultraschall-Festivals für Neue Musik wurde "Après tout" in Berlin gezeigt - pünktlich zum 50. Jahrestag des Elysée-Vertrages.
Das diesjährige Ultraschall-Festival für Neue Musik nimmt das Jubiläum des 50. Jahrestages des Elysée-Vertrags zum Anlass, die Musik aus Frankreich in den Mittelpunkt zu stellen. Damit soll auch, so Rainer Pöllmann, der Festivalleiter von Ultraschall, das musikalische Verhältnis von Frankreich und Deutschland genauer beleuchtet werden:

"50 Jahre Elysée-Vertrag heißt ja einfach auch 50 Jahre sehr intensive deutsch-französische Beziehungen – und diese Beziehung, also nicht das Nebeneinander von deutschen oder französischen Repertoire, sondern das Miteinander oder das Dazwischen, das ist es, was uns interessiert hat. Also sowohl die gegenseitige Faszination – natürlich kennen die Komponisten einander und natürlich gibt es die gegenseitigen Anregungen – und trotzdem ist auf der anderen Seite feststellbar, dass es nach wie vor unterschiedliche Herangehensweisen gibt."

Der Fokus des Festivals liegt nicht auf der Musik namhafter und etablierter französischer Komponisten wie etwa Olivier Messiaen oder Pierre Boulez. Es geht vielmehr um französische Musiker der jüngeren Generation, zum Beispiel Pascal Dusapin, Philippe Hurel oder der 2010 mit nur 29 Jahren verstorbene Christoph Bertrand.

Viele der Musiker stehen in einem mehr oder weniger engen Austausch mit ihren deutschen Kollegen oder geben hierzulande Konzerte. Für Fabien Lévy ist die Nähe zu Deutschland allerdings besonders intensiv. Der 44-jährige Komponist war bereits mehrmals in Berlin. Zunächst wurde er als vielversprechendes Talent durch ein Austausch-Stipendium gefördert, später dann unterrichtete an der Hochschule für Musik Hanns Eisler.

Seine jüdischen Vorfahren flohen aus Deutschland nach Frankreich, aber Lévy fühlt sich in Deutschland wohl. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat vor kurzem eine Professur für Komposition in Detmold übernommen. Wenn man so will, steht Lévys Biografie exemplarisch für eine Idee, die mit der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags gehegt wurde: nämlich, dass auch der Austausch von Künstlern erfolgen soll. So verwundert es nicht, dass das französische Kulturministerium gerade an Lévy diese Auftragskomposition vergab.

Vom Briefwechsel zur Komposition
Schon vor mehr als zehn Jahren hatte Lévy die Idee, einen Briefwechsel in Musik zu setzten, der in den 70er-Jahren tatsächlich stattfand. Dieser Briefwechsel zeigt auf sehr persönliche Art und Weise, dass das heutige freundschaftliche mit- und nebeneinander zwischen Frankreich und Deutschland nicht selbstverständlich ist, sondern von Konflikten und Auseinandersetzungen begleitet war.

So schrieb damals der junge deutsche Lehrer Wiard Raveling mehrere Briefe an den französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch, der einer Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich äußerst kritisch gegenüberstand. So meinte Jankélévitch über Deutschland:

"Wenn der Schuldige fett, wohlgenährt, zahlungskräftig und vom Wirtschaftswunder bereichert ist, ist die Vergebung ein erschreckender Scherz."

Fabien Lévy nennt seine Komposition "Après tout", er bezieht sich damit auf Jankélévitchs Worte: "Comment vivre après tout" – wie soll man nach all dem, also den Verbrechen, die Deutsche in Frankreich begangen haben leben, miteinander leben und vor allem vergeben können.

Solche und viele weitere Textstellen, von Philosophen, Politikern, Schriftstellern und Therapeuten verwendet Lévy. Sie werden von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart vorgetragen. Begleitet werden die Sänger dabei von dem französischen Ensemble 2e2m, so wird auch durch die Wahl dieser Ensembles die künstlerische Zusammenarbeit beider Länder unterstützt.

Ein abwechslungsreiches, unterhaltsames Stück
Trotz dieser zunächst vielleicht etwas abgehoben erscheinenden Texte ist Lévys Musik sehr abwechslungsreich, denn der Komponist verwendet eine Fülle von Kompositionstechniken, die zugleich die vielfältigen Argumente und Sentenzen in ein immer wieder anderes musikalisches Licht stellen. Die Sänger verkörpern dabei einzelne Rollen, sie sind Briefschreiber, Künstler oder Chronisten. Der Sänger Andreas Fischer:

"Es ist so, dass die Sänger ein paar mal während des Stückes - und dazu noch, das kann man wie eine szenische Komponente werten, werden viele Texte gesprochen - da sind die Sänger wie Schauspieler auf der Bühne. Es ist schon wirklich ein Konzertstück, das aber eben schauspielerische Elemente dabei hat. Was für uns deutsche Sänger ein bisschen eigenartig war, auch vielleicht gewöhnungsbedürftig war – die Ironie, die in dem Stück drinsteckt. Wo wir vielleicht ein bisschen ein Problem damit haben, speziell den Holocaust und die deutsche dunkle Vergangenheit mit Ironie zu verbinden - das ist für uns ungewohnt und man muss sich schon so ein bisschen in die andere Sichtweise hineindenken."

Tatsächlich gelingt Fabien Lévy ein ausgesprochen unterhaltsames Stück. Die Worte werden von den Sängern gesungen, rezitiert, geflüstert, ausgestoßen und verfremdet. Dadurch wird ein schlüssiger inhaltlicher Zusammenhang bewusst immer wieder gebrochen. Unterstützt werden die Sänger durch ein kleines sehr heterogenes Instrumentalensemble aus Saxophon, Akkordeon, Cello, Flöte, Schlagzeug und E-Gitarre.

Am Ende bleiben dennoch auch viele nachdenkliche Momente der Uraufführung in Erinnerung. Gerade die musikalische Darstellung der Briefstellen zwischen dem Deutschen und dem Franzosen über das Für und Wider einer möglichen Vergebung sind beeindruckend und erfreulicherweise fern eines schwülstigen Pathos.

Der französische Philosoph und der deutsche Lehrer haben sich nach ihrem langen Briefwechsel 1980 übrigens auch getroffen. Nicht um zu streiten, sondern, um gemeinsam zu musizieren. Versöhnung – so eine Aussage von Lévys Stück – findet vor allem dann statt, wenn sich Menschen begegnen.


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