Kommentar zur Kurz-Affäre

Macht und Moral in Österreichs Polittheater

04:38 Minuten
Sebastian Kurz bei einer Pressekonferenz in 2019.
Engel vor dem Fall: Sebastian Kurz, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler. © AFP / Joe Klamar
Von Andrea Roedig · 17.10.2021
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Untreue, Falschaussage, Bestechlichkeit – angesichts dieser Vorwürfe ist die moralische Empörung über Österreichs Ex-Kanzler groß. Statt als moralische Anstalt, sollten wir Politik lieber als Theater betrachten, meint Andrea Roedig.
Die Erschütterung im Land ist groß: Sebastian Kurz sei ein Mensch, der keine Skrupel habe, keinen Anstand, er gebe ein "Sittenbild des moralischen Verfalls seiner Partei" – so und so ähnlich klingen die Kommentare in den Medien und in der Opposition zum neuesten Skandal in Österreich. Unter anderem wurde Sebastian Kurz auch als "gefallener Engel" bezeichnet, und wie ein Unschuldsengel sah er auch aus, als er bei seiner Abdankung behauptete, er habe nie für den eigenen Vorteil gearbeitet, sondern immer nur für Österreich, "unser schönes Land".

Nicht die Tugend zählt, sondern ihr Anschein

Die moralische Erregung, die jetzt dieses "schöne Land" durchzieht, ist echt. Und sie ist es nicht. Denn ehrlich gefragt: Was hat Politik mit Moral zu tun? Nicht viel, und das wissen wir auch. Es ist ein eigenartiges Doppelspiel: Einerseits braucht die Politik integre Vertreter_innen, die vertrauenswürdig sind und für Werte einstehen. Andererseits kommt man in Regierungsdingen – wie schon der alte Machiavelli empfahl – mit echter Tugend nicht sehr weit. Hauptsache der Schein stimmt und fliegt nicht auf.
Im Zeitalter des Barock sprach man vom "Theatrum mundi", die Welt sei ein Theater; zielführender ist es auch, sich die Politik nicht als moralische Anstalt, sondern als Theater vorzustellen, auf dessen Bühne ein Stück namens "Wahrheitsspiel" gegeben wird. Das Theater betrügt nicht, es ist eine offenbare Illusion, und ihr ästhetischer Reiz liegt darin, dass sie Ernstes und Echtes verhandelt, aber eben in einem Rollenspiel, in dem wir, das Volk, als Zuschauer agieren, aber auch als Beteiligte.

Theaterpublikum mit falschen Erwartungen

Eine Hausdurchsuchung beim Kanzler, dem Untreue, Falschaussage und Beihilfe zur Bestechlichkeit vorgeworfen werden: Wäre solch ein Skandal auch in Deutschland möglich, wird oft gefragt. Aber nein, denn die beiden Länder sind zu verschieden, geografisch, politisch, historisch, vor allem aber kulturell: Gern mokiert man sich in Österreich nämlich über den deutschen Humor, der viel zu platt sei oder überhaupt gar nicht existent.
Um im Bild zu bleiben: die Deutschen sind wie Theaterbesucher, die fordern, man solle auf der Bühne bitteschön die Wahrheit sagen, während die Österreicher_innen wissen, dass sie Teil eines Theaters sind, und ihm nicht entkommen.
Porträt der Publizistin Andrea Roedig.
Machiavelli oder Moral? Die Politik ist ein seltsames Doppelspiel, beobachtet Andrea Roedig.© Elfie Miklautz
Besonders gern gibt man in diesem Land, in dem jeder jeden kennt, das Stück: Verstecken und Aufdecken – sechs parlamentarische Untersuchungsausschüsse gab es in den letzten Jahren und der siebte namens "Inseratenaffäre" wird gerade eingerichtet.
Zum Spiel gehört es, mit besonders deftigen Skandalen eine Steilvorlage für gute Satire zu geben, zum Spiel gehört aber auch das Leiden an sich selbst.

Recht statt Moral

Denn, Theater hin oder her, weh tun diese Skandale trotzdem, und zwar sehr. Vielleicht hat der Schmerz im österreichischen Polittheater ja eine kathartische Funktion und den Sinn, eine tiefe Wahrheit über das Wesen der Politik immer wieder neu auszuagieren. Politik ist zwar nicht per se ein schmutziges Geschäft, aber als strategische Durchsetzung von Interessen immer anfällig für Unreinheiten aller Art; der Ruf nach mehr sittlichem Anstand ist echt und doch zugleich auch wieder Teil des Spiels.
Die Grenze fürs Erlaubte zieht nicht die Moral, sondern allein das Recht: Die Jurisprudenz ist der letzte Anker im wachsweichen Terrain politischen Kalküls, und das einzige Heilmittel gegen Machtmissbrauch ist ein funktionierendes System von checks and balances. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Justiz in Österreich – so wollen wir hoffen – spielt nicht nur Theater.

Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" und zuletzt ihr Essayband "Schluss mit dem Sex", beide im Klever Verlag.

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