Kommentar zum Umgang mit Kevin Spacey

Der Gerichtshof der öffentlichen Meinung

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Schauspieler Kevin Spacey verlässt das Bezirksgericht am Montag, Jan. 7, 2019 in Nantucket, Massachusetts, nachdem er mit einer Anklage wegen unanständiger Körperverletzung angeklagt wurde.
Schauspieler Kevin Spacey im Januar 2019 vor dem Bezirksgericht in Nantucket, Massachusetts, wo er wegen unanständiger Körperverletzung angeklagt wurde. © AP / Steven Senne
Von David Lauer · 30.05.2021
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Kevin Spacey hat wieder ein Rollenangebot, nachdem er wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe lange geächtet war. Wie mit Schauspielern wie ihm in der Vergangenheit vor allem in den sozialen Medien umgegangen wurde, findet der Philosoph David Lauer bedenklich.
In seiner klassischen Schrift "Kritik der Öffentlichen Meinung" von 1922 beschreibt der Soziologe Ferdinand Tönnies das Urteil der Öffentlichkeit als "einen Gerichtshof, dessen Beschlüsse oder Erkenntnisse die ideelle Geltung von Richtersprüchen für sich in Anspruch nehmen und (…) eine Macht und Kraft der Ehrung wie der Entehrung, der Emporhebung wie der Vernichtung (...) darstellen".

Macht und Reichweite des Internets

Die Macht und Kraft dieses Gerichtshofes hat in unseren Tagen eine Steigerung erfahren, die Tönnies sich nicht einmal in Ansätzen vorstellen konnte. Und, ja, es ist unoriginell, auf die Frage nach Ursachen immer "das Internet ist schuld" zu antworten, aber: Das Internet ist das nahezu allwissende und allmächtige Medium dieses Machtzuwachses.
Seit das Gericht der öffentlichen Meinung im weltumspannenden digitalen Raum tagt, sind seine Augen und Ohren überall und ist die Reichweite seiner Urteilsverkündungen beinahe unbegrenzt. Nichts bleibt unentdeckt, niemand kann sich dem Urteil entziehen und die Strafe folgt auf dem Fuße.

Ächtung von Tätern, Solidarität für Betroffene

Diese Entwicklung hat in zwei Hinsichten etwas Gutes: Erstens werden verabscheuungswürdige, im Keller des Privaten oder im Dunstkreis der Macht betriebene Praktiken ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, die Übeltäter werden benannt und bloßgestellt. Ihre soziale Ächtung dient der Abschreckung weiterer potenzieller Täter.
Zweitens wird den Opfern ein Gesicht und eine Stimme gegeben. Ihr Leid wird öffentlich anerkannt, und sie gewinnen die Möglichkeit, sich als selbstbewusste Vertreterinnen und Vertreter ihrer Interessen solidarisch zusammenzuschließen.
David Lauer im Porträt.
Mit der Macht wächst die Verantwortung - das gelte auch für die Macht des Internets, Menschen zu ehren und zu entehren, sagt der Philosoph David Lauer.© Privat
Und woran ließe sich die positive Kraft dieser Entwicklung klarer belegen als am Beispiel der #MeToo-Bewegung? Durch sie wurden Männer wie Kevin Spacey für ihre jahrzehntelangen sexuellen Übergriffe zur Rechenschaft gezogen – wenn nicht juristisch, so doch wenigstens durch den Verlust ihrer Reputation und der damit einhergehenden Macht.

Verurteilung ohne Verfahren

Und doch lässt sich genau am Fall Spaceys auch die moralische und politische Problematik der digital transformierten öffentlichen Meinung studieren. Denn die Ankläger und Richterinnen dieses Gerichtshofes sind an kein Gesetz und an keine Präzedenz gebunden. Sie urteilen impulsiv, oft uninformiert, und nicht immer aus gänzlich uneigennützigen Motiven.
Eine kontrollierte Beweisaufnahme gibt es nicht. Das Urteil steht häufig schon fest, bevor die Angeklagten sich äußern können. Berufung ist nicht vorgesehen, denn es gibt keine höhere Instanz. Und die Strafzumessung ergeht häufig ohne Prüfung der Verhältnismäßigkeit, vor allem aber: Ohne eine Perspektive, wann und unter welchen Bedingungen die Schuld als gesühnt anzusehen sei und der Verurteilte das Recht auf eine zweite Chance geltend machen darf.
Geschähe dergleichen vor einem realen Gericht, wäre dies eine eklatante Verletzung der Menschenwürde des Angeklagten. Und die darf auch dem schlimmsten Mörder nicht genommen werden.

Verantwortung für moralische Urteile

Es geht überhaupt nicht um die Frage, ob speziell Kevin Spacey moralisch gesehen in der Position ist, für sich in den Augen der Öffentlichkeit eine zweite Chance als Künstler zu fordern oder auch nur zu erbitten. Es geht um die allgemeine Aufgabe, begründete Maßstäbe für diese Frage zu entwickeln. Sonst laufen progressive Bewegungen wie #MeToo Gefahr, sich in einen rachsüchtigen Volksgerichtshof zu verwandeln.
Die eigene Verantwortung für den Täter, dessen Opfer man wurde, mitzureflektieren – das ist viel, enorm viel verlangt von Menschen, die alles Recht haben, sich selbst als Opfer schwerster moralischer Verletzungen anzusehen. Aber es darf nicht zu viel sein für Menschen, die im Namen der Moral über andere urteilen.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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