Kolumbianische Künstlerin Doris Salcedo in Lübeck

Sich arrangieren, heilen, überleben

06:29 Minuten
Ein Porträt der Künstlerin Doris Salcedo.
Doris Salcedo bezeichnet sich selbst als "Third World Artist", als Künstlerin aus der dritten Welt, die sich von ihren Lebenserfahrungen inspirieren lässt. © Burkhard Birke / Deutschlandradio
Von Burkhard Birke · 06.09.2019
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Mord, Vergewaltigung, Folter: Die Werke der kolombianischen Künstlerin Doris Salcedo, die im Lübecker St. Annen Museum zu sehen sind, widmen sich den dunkelsten Verbrechen der Menschheit. Und lassen dennoch stets Raum für Hoffnung.
"Gleich welchen Horror wir Menschen erleiden – am Ende siegt das Leben." Das bleibt die Kernbotschaft von Doris Salcedo. Seit mehr als 30 Jahren widmet sich die Kolumbianerin den eher dunklen Seiten der menschlichen Natur. Salcedo greift Themen wie Folter, Entführung, Mord und Vergewaltigung auf, inszeniert Leid, Hoffnung und Überlebenskunst der Menschen in einem Spiel aus Objekt und Raum.
"Objekte erinnern an das Leben eines Menschen. Eine Person hinterlässt Spuren durch die Kleider, die Möbel, die sie benutzt, die Tische und Stühle, die sie erwarten. Wenn jemand dann auf brutale Art und Weise gewaltsam verschwindet, dann schreien diese Gegenstände förmlich die Abwesenheit heraus. Mich interessiert die menschliche Ebene, das Menschliche und ich will zeigen, dass Gewalt das Gegenteil ist: Sie ist unmenschlich. Deshalb behandele ich das unmenschlich, was eigentlich menschlich sein sollte", sagt Doris Salcedo.

Überall spürbarer Schmerz

Aus Metall nachgebaute Stühle des Werkes ‚"Thou less" sind teilweise total dysfunktional – zerissen, aneinandergeschmiedet ohne Lehnen - wie kleine Ruinen. "Ohne Dich" bedeutet "Thou less" auf Deutsch und soll an die Toten der Erstürmung des Justizpalastes in Bogotá im Zusammenhang mit einem Überfall der M 19-Guerilla 1985 erinnern. "Thou less" ist eine von fünf Installationen, die jetzt erstmalig in Deutschland zu sehen sind.
Ein Kunstwerk von Doris Salcedo: Ein feiner Stoff hängt an einer weißen Wand. Nadeln sind in den Stoff eingenäht.
Tausende eingenähte Nadeln symbolisieren den allgegenwärtigen Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat.© Burkhard Birke / Deutschlandradio 
Scheinbar belanglos an die Wand gehängte Seidenhemden mit bis zu 14.000 eingenähten Nadeln symbolisieren den stechenden, überall spürbaren Schmerz über den Verlust des einzigen Sohnes durch Gangkriminalität in den USA. "Disrembered" – "Vergessen" – nennt Doris Salcedo treffend diesen Teil der Ausstellung.
Für "Tabula Rasa" – den Teil der Installation, der auch Titel der Retrospektive in Lübeck geworden ist – ließ Doris Salcedo Tische total zerstören und in mühevoller, jahrelanger Kleinstarbeit wieder zusammenkleben: Fünf rechtseckige Holztische voller Löcher und Macken stehen in einem großen Raum vor weiß gekalkten Backsteinwänden und erzählen die Geschichte von Vergewaltigungsopfern.

Sexuelle Gewalt ist ein politisches Verbrechen

"Eine Vergewaltigung ist ähnlich wie ein Mord. Der Mensch wird zerstört, aber der Körper lebt weiter. Das ist ein tragisches Leben in der ständigen Erinnerung. Das Verbrechen überlebt die Zeit und diese Spannung, die die Zeit den Opfern auferlegt, möchte ich in meinen Werken ausdrücken. Deshalb zeigen die Werk, dass die Zerstörung allgegenwärtig ist, aber auch der Versuch sich zu arrangieren, zu heilen, zu überleben", sagt die Künstlerin.
Das Kunstwerk Tabula Rasa von Doris Salcedo: Fünf Holztische vor einer weiß gekalkten Wand.
Zerbrochen und wieder zusammengesetzt: "Tabula Rasa" von Doris Salcedo© Burkhard Birke / Deutschlandradio
Dutzende Vergewaltigungsopfer des kolumbianischen Bürgerkrieges hat Doris Salcedo dafür interviewt. Ihre Traumata durften diese Frauen später auch mit dem aus eingeschmolzenen FARC Waffen entstandenen Denkmal Fragmentos im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt im wahrsten Sinne des Wortes verarbeiten: Sie hämmerten die Formen für die Bodenplatten.
"Selbstkritsch muss ich anmerken, dass ich lange gebraucht habe, um zu verstehen, dass sexuelle Gewalt auch ein politisches Verbrechen ist. Die Frauen berichten meist zunächst von dem Tag als ihr Mann ermordet wurde, sie von ihrem Land vertrieben wurden und irgenwann kommt dann so ganz nebenbei raus, dass sie auch vergewaltigt wurden. Deshalb gehört das für mich ins Zentrum der politischen Diskussion", so Salcedo.

Metaphern für Hoffnung

Und der Erinnerungsarbeit! Zigtausende in filgraner Arbeit konservierte Rosenblätter wurden mit Garn zu einem riesigen Teppich oder eher Leichentuch zusammengenäht. Eine Blumengabe der Künstlerin für eine kolumbianische Krankenschwester, die gekidnapped und zu Tode gefoltert wurde. Das in mühsamer Kleinstarbeit über zwei Jahre von 60 Mitarbeitern bereits 2014 erstellte Werk "A flor de piel" ist stellvertretend auch für all diejenigen, die in den berüchtigten Black Holes genannten CIA-Gefängnissen gefoltert wurden und geht – wie der spanische Name ausdrückt – im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut.
"Die Werke sollen in einen Dialog mit der Umgebung, mit der Architektur treten und sich wandeln. Die Werke leben, sie verändern sich. Und jeder Raum verleiht dem Werk eine Persönlichkeit und die Architektur hier prägt sehr."
Die Werkgruppe "Plegaria muda" der Künstlerin Doris Salceda: Gestapelte Tische, durch deren Holz Gras wächst.
Eine Erinnerung, aber auch ein Symbol der Hoffnung: In"Plegaria muda" lässt Salcedo Gras durch die Tischplatten wachsen.© Burkhard Birke / Deutschlandradio 
Kunst, die lebt – im wahrsten Sinne des Wortes: Die Werkgruppe "Plegaria muda" –übersetzt "Das stumme Gebet" – besteht aus handgefertigten Holztischen, bei denen jeweils ein Tisch umgedreht auf dem anderen liegt, dazwischen eine dicke Schicht Erde aus der Gras in die Tischplatte hineinwächst. Eine Erinnerung an Massengräber überall auf der Welt und eine Metapher dafür, dass neue Hoffnung keimt, weniger dass unweigerlich Gras über die schlimmste Gräuel wächst.

Die Bruchteile zusammenführen

Erinnern, um nicht zu vergessen: "Das ist eine Aufgabe, die man unermüdlich von Generation zu Generation tragen muss, denn in einigen Gegenden wie in Ostdeutschland scheint man die Lektion schon zu vergessen", glaubt Doris Salcedo.
Von Beginn ihrer Künstlerkarriere an war sie geprägt von Deutschland, von Literaten wie Nelly Sachs und Paul Celan. Von ihnen hat sie die Akribie, die Detailgenauigkeit gelernt, sagt sie und hofft mit Blick auf die Rückkehr einiger FARC-Guerilleros zu den Waffen in Kolumbien: "Wir haben nur einen brüchigen Frieden erreicht, aber wir müssen die Bruchteile jetzt zusammenführen. Je mehr Menschen den Frieden wünschen, desto eher wird er Realität."

Hier können Sie das vollständige Interview mit Doris Salcedo in Spanisch hören: Audio Player

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