Klon-Roman

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 26.08.2005
Michel Houellebecqs neuer Roman "Die Möglichkeit einer Insel" handelt von dem tristen Leben des alternden Humoristen Daniel, der bei einer Sekte aufgenommen und nach seinem Tod geklont wird. Es ist ein pessimistisch-misanthropisches Produkt.
Ein neuer Houellebecq nach drei houellebecqlosen Jahren, und dann gleich 450 Seiten stark – das ist ohne Zweifel ein Ereignis des Bücherherbstes. Zu erwarten ist ein pessimistisch-misanthropisches Qualitätsprodukt. Und in der Tat: Hauptfigur Daniel 1 leidet am Leben und am Sexmangel wie bisher noch jeder Protagonist dieses Autors. Allerdings handelt es sich bei ihm nicht um einen kleinen Angestellten und gebeutelten Durchschnittsmenschen, wie es die Antihelden von "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" waren, jener beiden Romane, mit denen Houellebecq zum Skandal umwittersten Autor Europas wurde.
Daniel 1 ist, wie inzwischen Houellebcq selbst, ein bestbezahlter Star, ein Fernsehkomiker und Fernsehteufel, der mit bissigem Zynismus die Gegenwart kommentiert und Kulissen der politischen Korrektheit zerfetzt. "Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen" heißt zum Beispiel eines seiner Programme. Daniel 1 fährt schnelle Autos, lebt mondän in exklusiven Wohnlagen - und ist doch ein verzweifelter Leidensmensch wie die unterprivilegierten Helden der früheren Bücher.

Wir lernen seine Freundin Isabelle kennen, die Chefredakteurin des Magazins "Lolita", das sich der totalen Verbreitung des Jugendkultes verschrieben hat. Leider erträgt Isabelle (sie verdient 50.000 Euro im Monat) das Altern ihres eigenen Körpers nicht und verliert deshalb die Freude am Liebesleben, weshalb sie als Partnerin für den Daniel 1 ausscheidet. Denn für ihn bietet der möglichst umstandslose Sex die einzigen Glücksmomente in einer ansonsten als völlig sinnleer empfundenen Existenz.

Bald lernt der Endvierziger die fünfundzwanzig Jahre jüngere Esther kennen. Die überaus attraktive Schauspielerin gehört zu einer partyfreudigen Generation, die ein ausgesprochen sportliches Verhältnis zum Sex pflegt. Das müsste Daniel 1 gefallen. Aber erstens ist er schon zu alt, um da noch nach Belieben mitzumischen. Und zweitens vermisst er bei den jungen Hedonisten nun wiederum die Liebe, denn tief im Inneren seines zerknitterten Herzens ist dieser Sexbesessene ein Romantiker (und damit wohl ein Abbild des Autors). In dieser Welt der Bedingtheiten verlangt es ihn nach der bedingungslosen Passion. Nach ein wenig Güte und Mitleid, Treue und Altruismus.

Der lebensunfrohe Ex-Star gelangt schließlich in eine Sekte, deren Kult ganz diesseitig ausgerichtet ist. Frei von aller Transzendenz ist das Versprechen ewiger Jugend die Botschaft und das Ziel, das durch neueste, dem Klonen noch überlegene Reproduktionstechniken erreicht werden soll. Diese Passagen des Buches mischen Guru-Trash (ein bisschen Bhagwan, ein bisschen Raelianer) und Religionssatire mit skizzenhaften Science-Fiction-Elementen und postzivilisatorischen Phantasmen. Immerhin gelingt es den Elohimiten, innerhalb kürzester Zeit zur Weltreligion zu werden – die dekadente Menschheit war reif für diesen Glauben.

24 Generationen und einige Welt verändernde Katastrophen später ist der Mensch, dieses mangelhafte Produkt, durch den garantiert gefühls- und tränenfreien (aber wie sich zeigt: auch nicht glücklichen) Neo-Menschen ersetzt worden. Von den Pietisten haben die Elohimiten offenbar das Ritual des schriftlichen Lebensberichts übernommen. Daniel 24 und 25, die Reinkarnationen des Komikers, beschäftigen sich kommentierend mit dessen Lebensbeichte, die zugleich als Grundlagentext über die Entstehung ihrer Religionsgemeinschaft gilt. "Die Möglichkeit einer Insel" ist in stetem Wechsel erzählt: Auf ein langes Daniel-1-Kapitel folgt jeweils ein knapper Exkurs in die Zukunftswelt von Daniel 24 und 25.

Schon in Houellebecqs letztem Roman "Plattform" waren die nach pornographischen Schnittmustern gefertigten Sexszenen, die beliebig alle paar Seiten eingestreut wurden, auf Dauer eine Geduldsprobe. Auch "Die Möglichkeit einer Insel" bietet zuviel von solcher - immerhin durch einigen Witz aufgefrischten - Konfektionsware. Hinzu kommen die Klischees des mondänen Lebens und die Abziehbilder der hedonistischen Jugend, die immer lusterfüllter erscheint, je älter Daniel 1 selbst wird. Kurz: Houellebecq hat schon präziser beobachtet. Man mag dergleichen als "Übertreibungskunst" loben.

Immerhin: Es ist das Buch eines Ausnahmeschriftstellers. Der Furor der Lebensverzweiflung und die grimmig kommentierte Mittelschichtentristesse, die Radikalität der Glückssuche und der an Schopenhauer geschulte Pessimismus, der aggressive Witz und die geradezu instinktive Lust am Tabubruch – durch solche Qualitäten wurde Houellebecq berühmt, und sie finden sich auch in diesem Roman.

Die intelligente Durchdringung gesellschaftlicher Erosionsphänomene macht Houellebecq zum Balzac einer verkommenen Gegenwart. Auch von "Die Möglichkeit einer Insel" fühlt man sich, ungeachtet mancher Einwände, gut unterhalten und aufgeklärt; auch hier ist die Komik der Trostlosigkeit zu genießen ("Wenn man zusehen kann, wie Autos vorbeifahren, dann ist das schon ein Stückchen Leben", meint eine der Figuren). Niemand sonst schreibt heute so eindringlich über das Körperwesen Mensch, das "vom Begehren zugrunde gerichtet" wird.

Allerdings hat Houellebecq ein Problem: Ein Buch wie "Elementarteilchen", das wie ein belletristischer Sprengsatz in einer erschöpften postmodernen Literaturlandschaft wirkte, lässt sich kaum überbieten. Man erwartet seitdem nur immer mehr von diesem Stoff, und gerade diese Erwartbarkeit, die der Autor freilich höchst erfolgreich bedient, entschärft die Wirkung des neuen Romans. Die Misanthropie ist zur Routine geworden. Man kann das als Konsequenz rühmen. Aber um zu überraschen, müsste sich Houellebecq nun als heimlicher Lebensfreund outen.


Michel Houellebecq: "Die Möglichkeit einer Insel"
Übersetzt von Uli Wittmann
DuMont Buchverlag 2005
445 Seiten