Klezmer für Schafe

Von Angelika Calmez · 09.10.2009
Hans Breuer ist Österreichs einziger Wanderschäfer. Den Winter verbringt er mit seiner Herde im milden Pöllautal in der Oststeiermark. Aber im Sommer führt er die Schafe hoch auf die Alm, wo sie würziges, gesundes Gras fressen. Diese Wanderung führt den Schäfer und seine zwölfhundert Tiere rund 200 Kilometer quer durch die Steiermark bis auf die Rantenalm in den Tauern. Es ist eine wochenlange, anstrengende Tour voller Entbehrungen für Mensch und Tier. Aber Hans Breuer ist auch das Kind von jüdisch-kommunistischen Intellektuellen aus der Hauptstadt Wien. Die Verfolgungsgeschichte seiner Eltern im Faschismus hat Hans Breuer stark geprägt. Heute zieht er nicht nur mit Schafen, sondern auch mit seinen jiddischen Liedern durch die Alpen.
Hans Breuer treffe ich auf einer kurvenreichen Landstraße in der westlichen Steiermark. Schon auf den ersten Blick ist klar, dass es sich bei diesem Viehhirten um keinen hiesigen Bauern handelt. Zwischen den weiß getünchten, aufgeräumten Bilderbuchhäuschen wirkt der Schäfer wie ein Exot. Auf seinem Kopf sitzt ein Filzhut, etwa in Form eines umgedrehten Suppentellers. Die wippende Krempe reicht bis über die Schultern hinaus und taucht die feinen Gesichtszüge in Schatten. Mit der Rechten umfasst der Schäfer einen faustdicken Holzstab, der ihn um einiges überragt. Sein grünes T-Shirt trägt die Aufschrift Villenlos - mit einem V geschrieben. Zwei hechelnde Hunde umdrängen ihn. Mit einiger Regelmäßigkeit wechselt Hans Breuer plötzlich zu einem unsichtbaren Gesprächspartner.

"Alles klar. Host schon dosts? Dusd noch dosts besorgn? Kommst dann mitm Bus. Weil dann dankn ma den gleich. Ok, bis gleich, tschau!"

Das gesamte Schäferteam ist mit Handy-Freisprechanlagen und -Flatrates ausgestattet. Denn Sichtkontakt besteht in der Regel nicht, Rufe würden die zwölfhundert Schafe nur unnötig wild machen. Die Schafe: ein wogender Teppich aus wollenen Rücken, der sich hinter dem Schäfer ausbreitet und die Straße auf Sichtweite komplett bedeckt. Weit hinten beschließt ein viel strapazierter, weißer Kleinbus die Herde im Schritttempo. Noch circa zwei Wochen Fußmarsch bis zur Sommeralm.

Seit 30 Jahren ist Hans Breuer Schäfer: Der 54-Jährige liebt die Natur und die Schönheit der Alm. Ist dieser Heimatdichter wirklich der ehemalige Linksextremist aus Wien? Der Mann, dessen Mutter als Widerstandsheldin gegen die Nazis gefeiert wird? Dessen Vater die österreichische Friedensbewegung mitbegründete? Ist dies derselbe Hans Breuer, der sich in den 60er-Jahren als Schüler mit faschistischen Lehrern anlegte?

"Selbstverständlich haben wir Judenverfolgung oder Zweiten Weltkrieg, über russische Revolution, Interventionskrieg gegen die Sowjetunion überhaupt nie ein Wort gesprochen. Sondern diese Seiten, da hat's immer geheißen: Blättern wir zu Seite 57. Also sprich: Überblätter die nächsten 13 Seiten im dtv-Atlas. Dann hat der Hans Breuer aufgezeigt und hat gesagt: Entschuldigung Herr Professor, da wären aber wichtige Sachen da in diesen dreizehn Seiten. Dann hat die Klasse gerufen: Geh heim nach Moskau! So war damals die Situation."

Fühlt sich Hans Breuer als Österreicher? Die Antwort bleibt verschwommen. Beim Interview in seiner Wiener Bleibe gibt er dazu einen Text von Wolf Biermann wieder.

Autorin: "Wo liegt denn deine kulturelle Identität?"
Breuer: "Heimat ist da, wo die Genossen sind."

Hans Breuer lässt sich keine Gelegenheit für eine musikalische Einlage entgehen. In Wien hat er das Ensemble Wanderer gegründet. Aber warum schreibt und interpretiert Hans Breuer jiddische Lieder mit klezmerartigen Melodien?

"Also ich fühle mich unter anderem schon als Jude im sinn von jüdischen kulturellen Wurzeln. Wobei das nicht die Religion betrifft, ich bin nicht religiös, aber zum Beispiel wie das religiöse Gefühl in jüdischen Liedern ausgedrückt wird."

Wir sitzen auf einer sonnigen, insektenreichen Almwiese, müde vom Aufstieg. Der Schäfer erzählt, dass sein Vater Jude war. Aber einer, der sich aus jüdischer Religion und Lebensweise überhaupt nichts machte. Damals verschwindet das Judentum aus Hans Breuers Bewusstsein. Bis er Mitte zwanzig ist. Da begegnet er, bei einem Anti-Atom-Camp in Schweden, Jucca Korva.


"Jucca Korva war ein junger Finne. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Und gleich am ersten Abend hat er gesagt, ich bin froh, dass jemand hier ist, der gut deutsch kann. Weil ich muss dir was vorspielen. 'Zupfgeigenhansel' heißen die. Und dann nimmt er seine Ziehharmonika am selben Abend und spielt mir das Lied vor."

Zehn Brider seyn mir gewesn, hobn wir gehandelt mit Leyn. Eyner ist von uns gegangen, seyn wir geblibn nein.

"Und er hat mich gefragt, welcher alte Dialekt das ist. Und ich hab gesagt: Kenne ich nicht. Aber ich war platt. Ich konnte zu dem Zeitpunkt mehr als 300 Lieder auswendig. Arbeiterlieder, deutsche Lieder, polnische, russische, französische, italienische, auf Englisch. Und dieses eine Lied hat meinen ganzen Liedschatz in die hintere Reihe verdrängt. Das war so eine Resonanz. - Wie eine Botschaft aus der Vergangenheit, Sprache des Herzens. Das hat mein Herz so stark angerührt"

Hans Breuer glaubt, dass er doch Elemente jüdischer Kultur in sich trägt. Nach und nach legt er sie nun frei. Sie bieten ihm endlich eine Erklärung für seine gefühlte Andersartigkeit. Dass er Dinge im Gespräch so oft hin- und herwendet, ist jüdische Prägung. Dass ihm das Singen auf Jiddisch so leicht fällt, hat mit der Sprechweise des Vaters zu tun.

"Was für eine Sprachmelodie der gehabt hat: dadadadaddada und so. Der hat immer so gesungen beim Reden und - na, ist doch klar. Und er wollt nicht hören, dass das typisch jüdisch ist, und hat dann sich verteidigt, dass Italiener auch so reden. Ja."

In den 80er-Jahren zerfällt die kommunistische Bewegung. Für Hans Breuer tritt jetzt der Erhalt des jüdischen Erbes an die Stelle des politischen Kampfes. Ein Ort, wo dieses Erbe komplett missachtet wird, ist ausgerechnet Judenburg auf Hans Breuers Route. Historiker sind sich einig, dass der Name des südsteirischen Städtchens auf einen mittelalterlichen jüdischen Markt zurückgeht. Auf dem Stadtwappen prangt der amtlich so genannte "Judenkopf". Trotzdem scheinen viele Einwohner die jüdische Stadtgeschichte gar nicht zu kennen. Das zeigt eine Straßenumfrage nach dem Stadtwappen.

Apothekerin: "Na wie haaßt er, mit K - Körbler?"
Buchhändlerin: "War da net mal ein Schlossherr oder so irgendwie?"
Passant: "Vom Judin von Eppenstein kommt des. Der war der Stadtbegründer. Dessen Burg da am unteren Ende der Straße liegt." Und wer ist auf dem Stadtwappen zu sehen? " Ebenfalls der Judin von Eppenstein. Also ich würde des mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit angeben."


Die unhaltbare Theorie vom Adelsherrn als Namensgeber werde noch immer in den Schulen gelehrt, sagt Michael Schiestl. Der Historiker leitet das Judenburger Stadtmuseum. Er versucht, durch Sonderpublikationen auf die jüdische Geschichte aufmerksam zu machen. Das betrifft auch die jüngste Geschichte. Offiziell seien die rund fünfzig Judenburger Juden in der Nazizeit freiwillig weggezogen. In Wirklichkeit sind sie geplündert und vertrieben worden, hat Michael Schiestl herausgefunden - ohne Unterstützung.

"Die Leute wissen sehr wohl bescheid, was passiert ist - darum gibt es heute eine ganze große Abwehr. Das ist parteiübergreifend. Das hat nichts mit konservativ zu tun oder mit links oder rechts. Sondern diese Abwehr, diese Verdrängung, des ist praktisch eine parteiübergreifende Geschichte. Und die funktioniert noch recht gut bis heute."

Dem einsamen Historiker kommt jemand wie Hans Breuer gerade gelegen. Über das Interesse an der jüdischen Geschichte sind die beiden Freunde geworden. Auch wenn sie sich darüber streiten, ob der mittelalterliche Handel mit der Pflanze "Speik" in jüdischer Hand lag. Hans Breuer bringt das aromatische Kraut mit einem Vorfahren in Verbindung, der als Händler durch die Steiermark zog.

"Ich gehe hier zur Weide möglicherweise auf denselben Pfaden, auf denen schon der Großvater von meinem Großvater gewandelt ist - der mich da anguckt, also der hier im Stadtwappen verewigt ist. Er hat mit Rauch gehandelt ... Und er hat die Stadt reich gemacht. Aber seine Enkel sind Rauch geworden. Und es liegen die Lügen wie Blei über der Stadt, heißt's am Schluss. Treib die Lämmer mein Kind und dreh das Rad der Geschichte, mein Kind."

Auf der Alm berichtet Hans Breuer, dass sein Konzert in Judenburg gut angekommen sei. Eine Klientel für seine Musik gibt es also auch dort. Seine Lieder singt der Schäfer anstelle der Menschen, die der Faschismus ausgelöscht hat. Aber, der Kultur nach ein Jude zu sein, wie lebt er das als Schäfer? Was ist der jüdische Hans Breuer für ein Mensch?

"Ein Luftmensch, ein Lebenskünstler, der eigenen Überzeugung zu folgen und nicht irgendwelchen äußeren Vorgaben. Ich fühle mich den orthodoxen Juden zum Beispiel sehr nahe. Die gehen dann in ihrer mittelalterlich anmutenden Kleidung in Wien durch die Straßen, es ist ihnen egal, wie sie von irgendjemand anderem beurteilt werden. Hauptsache, sie sind im Einklang mit sich und mit ihrem Gott. Das heißt für mich: Ich habe das Gefühl, dass ich ein guter Mensch bin, oder versuche als guter Mensch zu handeln. Das ist mir wichtig. Nicht was irgendein Präsident, ein Polizist, ein Lehrer oder sonst wer mir sagt."