Kleines Wörterbuch des Krieges

Der Zivilist

Palästinensischer Zivilist streitet mit einem israelischen Soldaten im Westjordanland im März 2012.
Palästinensischer Zivilist streitet mit einem israelischen Soldaten im Westjordanland im März 2012. © dpa / picture alliance / Alaa Badarneh
Von Barbara Sichtermann · 24.09.2014
Einst gab es in Deutschland nichts Größeres als das Militär. Heute soll der Soldat so etwas wie ein Zivilist im Tarnanzug sein. Diese Vertauschung erzählt viel von der deutschen Geschichte und der Neubewertung des Kriegerischen.
Sehr lange ist es noch nicht her, da hatte das Wort "Zivilist" in Deutschland einen negativen Beiklang, ja, es konnte fast als Schimpfwort gelten. Das heißt nichts anderes, als dass der würdige Zeitgenosse ein Mensch mit militärischer Erfahrung und Haltung war. "Haben Sie überhaupt gedient?": so blaffte ein Offizier der Reserve den unwillkommenen Kandidaten an, der sich um die Hand seiner Tochter bewarb. Der Lieblingsschwiegersohn im Deutschen Reich und noch in der Weimarer Republik trug Uniform und womöglich einen Orden − jedenfalls war er kein "elender Zivilist".
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts verlor der "Zivilist" nach und nach sein Elends-Attribut; er hob allmählich Kinn und Haupt und gewann Autorität. Inzwischen hat sich da sogar etwas umgekehrt. Heute ist ein würdiger Zeitgenosse, wer sich gut in die Zivilgesellschaft einfügt. Die Militärpersonen werden hingenommen, aber im Grunde weiß keiner so genau, was von ihnen zu halten sei. Der "Bürger in Uniform", als welcher der Soldat in der jungen Bundesrepublik bezeichnet wurde, ist eigentlich immer noch die Figur, die sich die deutsche Bevölkerung vorstellt, wenn sie an ihre Soldaten denkt. Damit aber hat sich der Zivilist, semantisch und moralisch, ins Militär hineingeschmuggelt. Denn "Bürger" heißt lateinisch "civis", und von Civis leitet sich der Zivilist ab.
Diese Vertauschung der Wertungen: Einst gab es nichts Größeres als das Militär und heute gilt vor allem der Zivilist, ja sogar der Soldat soll so etwas wie ein Zivilist im Tarnanzug sein – diese Vertauschung erzählt viel von der deutschen Geschichte, von der großen Niederlage 1945 und von der Entwertung des Kriegerischen. Es erzählt aber auch von der Außenseiterposition Deutschlands, wenn es um die Kriegsgeschichte in diesem Jahrhundert geht. Denn draußen in der Welt ist der Zivilist kein erwünschter Schwiegersohn, sondern ein massenhaftes Opfer.
Kollateralschäden und Kriegsziel
Dieser Zivilist als Opfer spricht von der Entregelung von Kriegen, in denen Partisanen ganze Dörfer niederbrennen; er spricht von Warlords, die Kindersoldaten zwingen, ihre Eltern zu ermorden, von Separatisten, die Zivilflugzeuge abschießen, von Aufständischen, die Innenstädte bombardieren. Überall dort sind Zivilisten die Opfer. Zielte der klassische Krieg auf das gegnerische Militär, so der zeitgenössische auf das Zivil – oft sogar auf das eigene, weil es etwa der falschen Glaubensrichtung anhängt. Früher wurden Opfer unter Zivilisten als Kollateralschäden bedauert, heute sind sie zuweilen das Kriegsziel selbst. Ein anderes Wort für diese Lage der Dinge ist: Terror.
Der deutsche Zivilist von heute darf froh sein, dass sich in Sachen Nationalcharakter die Rangliste mit dem Offizier auf Platz 1 geändert hat. Nun sitzt er selbst dort oben, mit der zivilen Mütze auf dem Kopf statt dem Stahlhelm und dem Aktenkoffer unterm Arm statt dem Gewehr. Bleibt die Frage: Darf er abseits stehen, wenn andernorts der Terror sich immer weiter Bahn bricht? Muss er Abschied nehmen von der Idee, dass wir eigentlich alle Zivilisten sind, auch die Soldaten?