Kleine Geschichte der Live-Reportage

Adrenalin muss hörbar werden

Der hintere Rumpfteil des Luftschiffs LZ 129 "Hindenburg" wird am 6. Mai 1937 bei der Landung auf dem Luftschiffhafen von Lakehurst in New Jersey bei New York von einer Explosion erschüttert. Insgesamt 36 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen bei der Katastrophe ums Leben. Der 100 Tonnen schwere, zu seiner Zeit größte Zeppelin der Welt brannte völlig aus, das Ende der Zeppelin-Ära begann.
Absturz der "Hindenburg" im Mai 1937. Herb Morrisons Live-Reportage des Unglücks wurde zum Klassiker. © picture-alliance / dpa / Gustav Unger Universal
Von Mike Herbstreuth · 03.05.2017
Live-Reportagen machen Geschichte - ob bei lange geplanten Großereignissen oder im Fall überraschender Wendungen. Moderne Technologie macht die Live-Reportage heute so mobil wie nie. Manchmal führt dies allerdings auch bloß zu Leerlauf. Schlaglichter auf eine Mediengeschichte.
Der Absturz der "Hindenburg" bildet die Urszene der Live-Reportage. Richtig live war diese Reportage von Herb Morrison allerdings nicht. Sie wurde live aufgenommen und später gesendet - "Live-on-Tape" nennen das Journalisten. Aber genau diese Möglichkeit, Eindrücke, Gefühle, Geräusche – live von vor Ort zu erzählen und nicht im Nachhinein im Studio zu berichten, machte das neue dieser "Live-Reportage" aus - ihren besonderen Charakter, ihre Atemlosigkeit. Adrenalin muss hörbar werden, könnte die Devise lauten.

Hören Sie hier unseren Beitrag über Morrisons "Hindenburg"-Reportage:

Der Reiz des Unsicheren

"Der Reiz einer Live-Reportage besteht sicherlich darin, dass man den Eindruck hat, authentisch dabei zu sein, am Ort des Geschehens und auch während sich das Ereignis quasi entfaltet.", sagt Christoph Neuberger, Medienforscher an der Uni München. "Auch immer dieser Unsicherheitsfaktor - was jetzt genau Überraschendes passieren wird? Das ist sicherlich der Reiz: Gleichwohl vor Ort zu sein, dabei zu sein, im Unterschied zur Aufzeichnung."
1925 gab es die erste Live-Übertragung eines Fußballspiels im Radio, kommentiert von Bernhard Ernst, der fünf Jahre später auch die erste Live-Übertragung eines Länderspiels kommentierte. Eine weitere Wegmarke: 1953 - die Krönung von Elisabeth der 2. - das erste Fernsehereignis, das weltweit live übertragen wurde.
Doch am meisten im Gedächtnis geblieben sind die Live-Reportagen, bei denen Unerwartetes passiert ist, oft tragisches. So wie beim Absturz der Hindenburg, oder der Explosion der Raumfähre "Challenger" im Jahr 1986, bei der RIAS-Reporter Harro Zimmer* live vor Ort und zunächst noch guter Dinge war:
"Ja, und in dieser Sekunde hebt die Challenger ab und meine Kollegen hier im Kontrollzentrum brechen in Jubel aus. Und ich glaube, man kann die Steine förmlich von den Herzen der NASA-Verantwortlichen plumpsen hören."
Explosion der Challenger
Auch die Explosion des Space Shuttles "Challenger" im Jahr 1986 wurde weltweit live übertragen© imago/Nasa
Doch dann: "Wir müssen hier mal eine Sekunde beobachten, was passiert. Es sieht sehr seltsam aus. Die Challenger ist explodiert und wir wissen nicht, was passiert ist. Wir stehen vermutlich vor der größten Katastrophe der bemannten Raumfahrt."

Ein Tor fällt (um)

1998 passiert während einer Live-Übertragung ebenfalls etwas unerwartetes, das im kollektiven Gedächtnis geblieben ist: Beim Spiel Real Madrid gegen Borussia Dortmund fällt ein Tor um. Kommentator Günther Jauch damals:
"Für alle die, die nicht rechtzeitig eingeschaltet haben - Sie haben etwas verpasst. Das erste Tor ist schon gefallen."
Der Anpfiff des Spiels verzögert sich um über eine Stunde. Zeit, die die Kommentatoren Günter Jauch und Marcel Reif spontan überbrücken - und für ihre Berichterstattung später den Bayerischen Fernsehpreis und den Grimme Preis bekommen.
"Wir unterbrechen mal kurz, weil die Zahl der wichtigen Menschen sich jetzt doch beachtlich, wenn nicht sogar bedrohlich häuft." - "Der scheint ganz wichtig, das ist einer von der UEFA!" - "Oder er ist ganz unwichtig und trägt nur irgendwas hin und her." - "Wenn er ein Tor tragen würde, wär's nicht schlecht."

So mobil wie noch nie

Christoph Neuberger dazu: "Journalisten können nicht zu jeder Zeit an jedem Ort sein, wo sich gerade was ereignet. Deshalb sind das oft seltene Zufälle, dass sich wirklich Überraschendes ereignet, wenn eine Kamera da ist."
Oder eine Smartphone. So wie 2011 bei den Protesten in Kairo. Denn war die Live-Berichterstattung früher noch an Studios gebunden, an Kamerateams, ist die Live-Reportage mittlerweile so mobil wie noch nie. Live reportieren kann heute jeder.
Wie auch der Reporter der BILD Zeitung Saarland im August 2015 in einem Facebook Live-Video. Ein Teil der Innenstadt wurde abgesperrt, ein SEK Kommando rückte an, ein BILD Reporter berichtet über eine Stunde live über den Einsatz. Beziehungsweise über eine leere, abgesperrte Straße. Angesehen haben sich das über 450.000 Menschen. Handelte es sich um einen Terror-Anschlag? Ein schweres Verbrechen? Eine Bombendrohung?
"Wir sind live in der Saarbrücker Innenstadt, wo sich ein Mann blutüberströmt in einem Lokal verschanzt haben soll."

Der Nicht-Vorfall als Hauptattraktion

Der Einsatz war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ein leicht verletzter Mann war in den Keller eines Lokals eingedrungen und schlief dort. Der Münchener Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger findet diese neue Form der Live Live-Streaming-Reportagen bedenklich, bei der
"...Journalisten sich an den Ereignisort begeben, wo sie auch keine Begrenzungen mehr haben was die Sendezeit angeht, was allerdings auch zu dem Zwang führt, permanent berichten zu müssen, was dann auch sehr leicht zum Leerlauf führen kann, ohne dass man substanzielles zu sagen hat."
Was im Fall des eineinhalb Stunden lang live begleiteten Nicht-Vorfalls in Saarbrücken und minutenlanger wackeliger Einstellung leerer Straßen ohne jeglichen Erkenntnisgewinn irgendwann zu diesem Dialog zwischen dem BILD Reporter und einem Kameramann des Saarländischen Rundfunks führt.
"Jetzt filmt der SR" – "Hey, grüß Dich. Ich bin nicht die Attraktion!" - "Na, doch schon ein bisschen" - "Mangels irgendwelcher Attraktion bin ich es jetzt, oder was?"
(*) Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes stand fälschlicherweise "Zimmermann" statt "Zimmer".
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