Kleine Gemeinden gegen die große Krise

Von Thomas Kroll · 20.03.2010
In der katholischen Kirche Deutschlands schrumpft die Zahlen der Priester und Gläubigen beständig. In Afrika und Asien hingegen wächst die Kirche dank sogenannter Kleiner Christlicher Gemeinschaften. Auch hierzulande gibt es erste Zusammenschlüsse.
"Es gab hier in der Kirche ein Treffen, wo dazu eingeladen wurde, dass sich neue Kleine Christliche Gemeinschaften bilden, und dann bin ich da mal hingegangen. Und so ist die 'KCG Spechtkehre' zusammengekommen."

Nicole Günzel. KCG ist die Abkürzung für Kleine Christliche Gemeinschaft, Spechtkehre ist der Name einer Straße in Hannover-Misburg.

Thomas Göbel-Groß: "Also die meisten von uns wohnen tatsächlich in einer Straße, richtige Nachbarn, aber darüber hinaus gibt’s auch noch welche, die mit dem Fahrrad 'ne Viertelstunde weg sind."

Katharina Göbel-Groß: "Wir sind 'ne ganz gemischte Gruppe von Männern und Frauen, verheiratet, nicht verheiratet, alleinstehend, getrennt lebend, allein erziehend, viele Kinder, wenig Kinder, und Alten und Jungen. Also, wir haben Studenten dabei und Lehrer und Journalisten und Angestellte bei der Stadtverwaltung und wir haben auch eine ältere Frau dabei, die um die 70 ist, die jetzt neu dazu gekommen ist. Also richtig das gesamte Spektrum ist hier vertreten."

Thomas und Katharina Göbel-Groß. Derzeit zählen zur KCG Spechtkehre zwölf Personen. Man trifft sich zweimal im Monat, immer mittwochs.

Katharina Göbel-Groß: "Wir fangen an um acht Uhr und sind möglichst auch zügig dann fertig, damit alle, die berufstätig sind, auch früh wieder nach Hause kommen. Das ist dann zwischen halb zehn und zehn."

Johannes Kolenda: "Wenn wir uns im Haus zur KCG treffen, findet das in der Regel im Wohnraum statt oder klassisch im Wohnzimmer. Wir setzen uns da hin, wo am meisten Platz ist. Das heißt: Bei manchen setzen wir uns um den Esstisch rum, bei manchen um den Wohnzimmertisch und machen das Licht auch ein bisschen gedämpfter, damit eine etwas ruhigere Stimmung hereinkommt. Kinder im Haushalt haben dann mal die Order, auch für sich zu sein im Zimmer, damit da keine Störungen sind."

Johannes Kolenda. In der Spechtkehre wohnt auch Gabriele Rodriguez:

Gabriele Rodriguez: "Wir treffen uns immer bei einer anderen Familie, und das letzte Mal war’s bei uns. Zu denjenigen wird dann eine große Kerze mitgebracht, die Kerze wird angezündet, und dann beginnen wir mit den Schritten."

Es geht um sieben festgelegte Schritte, um die sieben Schritte des Bibel-Teilens. Das Bibel-Teilen ist Mittelpunkt der KCG-Treffen und Liturgie, es ist Kernprogramm und eines von vier entscheidenden Merkmalen einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft. Die bringt Ludmilla Leittersdorf-Wrobel auf den Punkt:

"Dazu gehört zum einen die Liturgie, die man miteinander feiert, im Bibel-Teilen. Dazu gehört die Verbundenheit mit der Pfarrei und der Weltkirche. Dazu gehört das Handeln, die Diakonie, das soziale Tun, und dazu gehört die Nachbarschaft."

Ludmilla Leittersdorf-Wrobel war lange Zeit Verantwortliche für Kleine Christliche Gemeinschaften im Erzbistum Hamburg. Sie weiß: Sind alle vier Merkmale vorhanden, dann – und nur dann – spricht man von einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft.

"Wenn das Bibel-Teilen, die Liturgie, in einer Gruppe wegfallen würde, dann ist es eine sehr sozial engagierte Gemeinschaft, aber es ist in unserem Verständnis nicht der Ausdruck einer Pfarrei vor Ort, einer Kirche vor Ort, sondern es ist dann eine sozial aktive Gruppe, Gemeinschaft. Dasselbe ist, wenn man das soziale Handeln weglassen würde, würden wir auch nicht in dem vollen Sinne von Kleiner Christlicher Gemeinschaft, also Kirche vor Ort, sprechen, weil das ist dann eine spirituelle Gruppe."

Dieter Tewes: "Kurz: Kleine Christliche Gemeinschaften sind eine Form des Kircheseins vor Ort. Kirche findet nicht nur und nicht mehr nur sozusagen da statt, wo die Hauptamtlichen sind, wo Veranstaltungen oder Gottesdienste stattfinden, sondern in den Gruppen, die sich zu Hause in ihren Wohnhäusern treffen, also im Nahbereich in die Bibel gucken, sich sozial und karitativ und kirchlich engagieren und mit der Gemeinde in Verbindung sind."

Dieter Tewes. Er ist verantwortlich für Kleine Christliche Gemeinschaften im Bistum Osnabrück. Was aber geschieht beim Bibel-Teilen konkret?

Katharina Göbel-Groß: "Bei den Treffen ist es so, dass der Gastgeber, also derjenige oder diejenige, bei der die KCG sich trifft, die Leitung für den Abend übernimmt. Die nimmt sich dann also den Zettel in die Hand, auf dem die sieben Schritte stehen, und begrüßt die Teilnehmer und geht dann Schritt eins bis sieben durch."

Schritt 1: Begrüßen – sich zu Jesus setzen.

Am Anfang wenden sich die Versammelten Christus direkt zu – in einzelnen frei formulierten Gebeten. Denn auch für sie gilt das Bibelwort: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." [Mt 18,20]

Schritt 2: Lesen – das Wort Gottes hören.

Dieter Tewes: "Das kann aus dem Alten oder Neuen Testament sein. Viele Gruppen bei uns machen einfach das Evangelium vom kommenden Sonntag oder das Evangelium, das an dem Tag dran ist. Das wird zweimal vorgelesen, damit der Text auch einsinken kann – mit verschiedenen Stimmen, vielleicht auch aus verschiedenen Übersetzungen."

Schritt 3: Verweilen – den verborgenen Schatz heben.

Zur Sprache kommen Worte oder kurze Satzteile des Bibeltextes, die einen angesprochen haben. Man wiederholt sie – dreimal hintereinander, meditativ, wie ein Gebet.

Johannes Kolenda: "Die meisten kommen direkt von der Arbeit, die Köpfe sind noch voll. Aber durch diese Schritt-für-Schritt-Rituale konzentriert man sich, und in dem Augenblick, wo man den Text zum zweiten Mal gelesen hat, und die Bibelstellen, die einem wichtig sind, mehrfach gesagt hat, ist eigentlich eine sehr hohe Konzentration da."

Dieter Tewes: "Entstanden ist dieser dritte Schritt in Afrika, weil dort in den Gruppen oft Leute dabei waren, die Analphabeten waren. Das heißt, sie sollten den Text memorieren. Wer hat noch was behalten. Und dann kamen so einzelne Punkte. Und dabei haben die Theologen, die das so angeleitet haben, gemerkt: Mensch, das sinkt ganz anders ein. Man wird aufmerksam auf Stellen, die man vorher gar nicht wahrgenommen hat."

Johannes Kolenda und Dieter Tewes. Es geht um mehr als um Konzentration und Wachsamkeit.

Dieter Tewes: "Und in diesem Prozess, dass jemand das Wort entdeckt hat, es in den Raum stellt, es sozusagen wie einen Diamanten, wie eine Perle hochhält vor den anderen, dass sie das sehen können und ein anderer merkt, das spricht ihn auch an, das ist sozusagen Wirken des Geistes in dieser Gruppe, dass Christus durch seinen Geist den Menschen ein Wort erschließt mit Hilfe eines anderen, das vorher gar nicht so deutlich war."

Schritt 4: Schweigen – die Gegenwart Gottes wahrnehmen.

Vier, fünf Minuten Stille. Die Leiterin hat die Uhr im Blick. Beim fünften Schritt hört jeder jedem aufmerksam zu. Keine Diskussion. Man erzählt von sich in der ersten Person: Welches Wort des Bibeltextes hat mich angesprochen? Was hat mein Herz berührt? Es heißt: Gemeinsam begegnet man Gott durch die anderen. Freie Gebete beenden das Bibel-Teilen im siebten Schritt. Doch zuvor ist noch eine ganz wichtige Hürde zu nehmen.

Schritt 6: Handeln – sich vom Wort Gottes anstecken lassen.

Nicole Günzel: "Da schaut man in der Nachbarschaft, wer braucht Hilfe, wo können wir was tun oder wie können wir das Evangelium jetzt vielleicht umsetzen."

Johannes Kolenda: "Der sechste Schritt ist gar nicht so einfach für uns."

Nicole Günzel und Johannes Kolenda von der KCG Spechtkehre in Hannover-Misburg. "Wer tut was mit wem bis wann?", lautet die entscheidende Frage.

Johannes Kolenda: "Ganz konkret ist die KCG Blut spenden gegangen."

Thomas Göbel-Groß: "Wir haben eine Weile einen Freund begleitet, dessen Frau gestorben war und der einfach Hilfe brauchte, ja, ganz konkret. Das hat dann auch über mehrere Wochen und Monate natürlich auch gedauert und getragen. Das kann man dann ja nicht nach einer Woche abschließen das Projekt."

Katharina Göbel-Groß: "Oder wir versuchen, was letztens auch war, das hat ‘ne andere KCG gemacht, die haben ganz konkret Möbel gesammelt für ‘ne Frau, die ausziehen musste aus der gemeinschaftlichen Wohnung mit ihrem Mann."

Thomas und Katharina Göbel-Groß. Der sechste Schritt ist Dreh- und Angelpunkt für das Gelingen und das Selbstverständnis einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft.

Katharina Göbel-Groß: "Bei uns funktionieren eigentlich alle Schritte gut, bis auf den sechsten Schritt, wenn es konkret wird. Also wenn beispielsweise jemand sagt, der Kindergarten XY braucht Papier, dann ist es schwierig, quasi jetzt im Johannesevangelium da, das wir gerade besprochen haben, womöglich da einen Bezug dazu zu finden. Aber das schließt es nicht aus."

Die direkte Verzahnung von Liturgie und Diakonie ist die Herausforderung und der Clou des Modells Kleine Christliche Gemeinschaft. Denn dann ist die Feier der Christusgegenwart im Bibel-Teilen nicht spiritueller Selbstzweck, sondern Motor für soziales Handeln.

"Gottes Wort konkret in die Tat umzusetzen, ist ja das Ziel der KCGs."

Dieter Tewes: "Also: Was will Christus von uns? Und wenn das sich ehrlich gefragt wird, und man mit einem Blick in die Bibel auch versucht, das rauszubekommen, dann werden wir eine neue Glaubwürdigkeit bekommen, die dann auch Menschen wieder zu uns führen wird, weil wir dann auf der Spur Christi sind und nicht nur auf der Spur einer Institution."

So gesehen haben Kleine Christliche Gemeinschaften Anteil an der Sendung der Kirche in der Welt und für die Welt. Sie machen Kirche lebendig, erfahrbar und glaubwürdig. So sieht es auch Franz-Josef Bode, der Bischof von Osnabrück:

"Also ich wünschte mir, dass die Verantwortlichen, Priester, Diakone, hauptamtliche Mitarbeiter, spüren, dass hier durch die Vertiefung von Menschen, die sich einfach um das Wort Gottes versammeln, der ganzen Gemeinde etwas Gutes getan wird."

Ein Drittes ist entscheidend für eine Kleine Christliche Gemeinschaft neben dem Bibel-Teilen und dem daraus folgenden sozialen Engagement: die Verbindung zur jeweiligen Pfarrgemeinde.

"Und zum anderen natürlich wünsche ich mir von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften, die vielleicht manchmal noch gar nicht so in bestimmten engeren kirchlichen Bezügen stehen, dass sie sich auch ins Ganze hineinbegeben, also dass sie das Bewusstsein haben, wir sind nicht nur eine kleine um uns kreisende Gruppe – das ist sehr wichtig –, sondern wir sind Kirche."

Dieter Tewes: "Und das ist der wesentliche Knackpunkt, dass sie von Christus her sich engagieren, aber immer in Verbindung mit der Gemeinschaft."

In der Katholischen Pfarrei St. Martin in Hannover-Ost existieren bereits zehn Kleine Christliche Gemeinschaften. Die sind miteinander vernetzt. Katharina Göbel-Groß:

"Einmal im Monat treffen sich die Vertreterinnen und Vertreter der KCGs – das sind häufig die Leiter, aber können auch andere dazu kommen –, um sich auszutauschen, was so aktuell ansteht und auch um selber noch mal ‘nen Input zu kriegen auch thematisch: Wie kann ‘ne KCG aufgebaut sein? Welche Fortbildungsmöglichkeiten gibt es – und so? Das wird von unserem Pfarrer immer vorbereitet und auch moderiert."

Dieter Tewes: "Es wird eben keine Sekte, wenn sie mit der Kirche in Verbindung bleibt, wenn sie bei theologischen Fragen die Hauptamtlichen fragen. Also: Sekte, also das Wort Sekte heißt ja secare, abschneiden, abgeschnitten sein von der Kommunikation, für sich alleine sein. Sie müssen in einem Kommunikationsfeld bleiben."

Kleine Christliche Gemeinschaften sind Kirche vor Ort, Kirche in der Nachbarschaft. Das ist das vierte wesentliche Merkmal.

Katharina Göbel-Groß: "Also wir haben ja alle miteinander auch im Alltag zu tun, also wir laufen hier über den Weg am Garagenhof oder weil unsere Kinder miteinander spielen, aber wir haben halt darüber hinaus noch’n Bezugspunkt und beschäftigen uns ganz intensiv mit dem, was uns halt auch innerlich bewegt, was uns spirituell bewegt und was halt auch unser Glaubensleben ausmacht."

Das Prinzip der Wohnortnähe unterscheidet Kleine Christliche Gemeinschaften von Hauskreisen, wie man sie etwa in den Freikirchen findet.

Dieter Tewes: "Das Problem bei den Hauskreisen ist allerdings – und das ist der Unterschied zu Kleinen Christlichen Gemeinschaften –, dass das Kreise sind, wo sich Gleichgesinnte treffen. Also, die sich nicht in erster Linie geografisch orientieren, also nach Dorf, Wohnecke oder so, sondern: Wer passt zu mir?"

Katharina Göbel-Groß: "Also, es gab durchaus Bedenken auch innerhalb der KCG, ob das so gut gehen kann, wenn Leute, die sich aus der Nachbarschaft kennen, auch in so ‘nem intimen Bibelgespräch, das ja doch sehr in die Tiefe gehen kann, und wo man ja auch von sich selber und seinen Erfahrungen berichtet, inwieweit das gut geht."

Gabriele Rodriguez: "Also, was mich motiviert, an einer KCG teilzunehmen, ist Christentum direkter wahrzunehmen. In der Kirche ist es ja doch eher anonym. Messe wird zelebriert, und ich nehme doch eher passiv teil."

Gabriele Rodriguez. Doch nicht jeder will sein Christsein so intensiv leben, will mit seinen Nachbarn regelmäßig herausfinden, wozu Gott ihn sendet. Daher sind Kleine Christliche Gemeinschaften eine große Herausforderung.

Dieter Tewes: "Es ist ein neues Betriebssystem, wie Kirche funktioniert."

Kleine Christliche Gemeinschaften ermöglichen neue Räume der Christusbegegnung und der Gotteserfahrung durch Liturgie und Diakonie, mittels Bibel-Teilen und sozialem Engagement. Auf keinen Fall sind sie nur Notnagel gegen den Priestermangel, den man bei steigenden Klerikerzahlen wieder aus der Kirchenwand ziehen sollte. Im Gegenteil!

Dieter Tewes: "Ich glaube, ohne diese Erfahrung, die die Menschen selbst machen müssen, dass es ein lebendiger Christus ist und nicht, dass da nur ein Verein ist, der erzählt, dass es den gibt – ohne diese Erfahrung wird die Kirche nicht überleben."

Service:

Über die theologischen Hintergründe informiert das Buch "Kleine christliche Gemeinschaften verstehen. Ein Weg, Kirche mit Menschen zu sein", herausgegeben von Christian Hennecke. Es ist im Echter Verlag erschienen, umfasst 286 Seiten und kostet 19,90 Euro.

Weitere Informationen gibt es zudem auf den Internetseiten von Missio.