Klassismus

Die verachtete Unterschicht

28:45 Minuten
Illustration von Arbeitern und Angestellten mit niedrigem Einkommen, die versuchen auf einem bröckelnden Liniendiagramm Halt zu finden.
Die Mittelschicht bröckelt - um so harscher grenzen sich viele Angehörige dieser Klasse nach unten ab. © imago / Ikon Images / Eva Bee
Von Houssam Hamade · 11.01.2022
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Es liegt nicht nur am Geld: Wer zur Unterschicht gehört, trägt in den Augen anderer oft die falsche Kleidung, spricht falsch und benimmt sich falsch. Klassismus wird diese kulturelle Ausgrenzung genannt, die sozialen Aufstieg fast unmöglich macht.
"Da war ein Kind, das öfters an uns vorbeigelaufen ist und uns als ‚Asis‘ beschimpft hat. Eines Tages hatte der sehr schöne neue Sneaker. Und dann haben wir ihn gezwungen, dass er uns die Sneaker gibt. Wir haben mit Schlägen gedroht, und wir haben die Sneaker dann natürlich bekommen. Ich muss sagen, am Abend hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, okay, vielleicht war das jetzt echt zu viel.
Aber am nächsten Tag hatte der einfach neue Sneaker, die gleichen. Und das war für mich irgendwie noch einmal eine Bestätigung, dass das grundsätzlich vielleicht doch nicht so schlimm war. Wir wären niemals auf legalem Weg an diese Sneaker rangekommen, und für ihn ist es total leicht, diese Sneaker wieder zu ersetzen. Das hat mich irgendwie noch einmal schockiert."

"Ich hatte einen Hass auf Gymnasiasten"

Laura Regina Beische besuchte in den Nullerjahren eine Brennpunktschule im Ruhrgebiet. Heute studiert sie in Köln Biologie und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Ihre Wut von früher sieht sie heute kritisch:
"Mich hat das irgendwann mal so gestört, dass meine Wut schon sehr zerstörend war. Aber ich hatte gerade in meiner Schulzeit einen unglaublichen Hass auf Kinder, die auf einem Gymnasium waren. Das war in Teilen einfach nicht mehr berechtigt, wie ich die angegangen bin. Bei mir haben die dann sofort einen negativen Stempel bekommen. Ich war viel provokanter, wenn ich mit ihnen gesprochen habe. Eigentlich habe ich einen Streit heraufbeschworen und dann auch immer so ein bisschen mit der Haltung: Wenn es hart auf hart kommt, gewinne ich auf jeden Fall den Kampf, weil Gymnasiumkinder sich eh nicht prügeln können. Ich glaube, das habe ich auch ein bisschen zu romantisch ausgelebt."
Dabei stammt Beische selbst nicht aus einer Familie, die Sozialleistungen erhält, sondern aus einer Arbeiterfamilie. Deren Haus im Ruhrgebiet baute der Vater mit Hilfe seiner Freunde und einem schwer lastenden Kredit selbst. Zu Hause herrschte ein strenges Arbeitsethos. Man grenzte sich gegen "Arbeitslose" ab. Ihre Schule wurde hauptsächlich von Kindern erwerbsloser Eltern besucht. Und darauf waren der Unterricht und die ganze Institution ausgerichtet. Wer arm ist, würde arm bleiben, das stand fest.

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"Der Lehrer hatte das auch so formuliert: Wir müssen realistisch bleiben, das sind alles Menschen, die auf jeden Fall danach Hartz IV beziehen. Eine Ausbildung steht überhaupt nicht zur Debatte. Und ich tue hier was Gutes und so was", erinnert sich Beische.
"Wir konnten froh sein, wenn wir die Ausbildung über bestimmte Förderungsvereinigungen bekommen haben, so etwas wie AWO. Aber eine richtige, echte Ausbildung kriegen wir sowieso nicht. Und Studieren stand überhaupt nicht zur Debatte. Oder generell Abitur machen. Wir konnten froh sein, wenn wir den Hauptschulabschluss hatten. Und so wurden wir dann darauf vorbereitet, wie man Hartz-IV-Anträge ausfüllt, was unsere Verpflichtungen sind, was es für Sanktionen gibt. Ich muss sagen, ich war damals sehr fit, was die Agenda 2010 alles beschlossen hatte. Ich wusste ganz genau, wie man was ausfüllt."

Keine Hilfe und kein ruhiger Ort zum Lernen

Beische erzählt, dass ihr Weg zur Uni schwer war, schwerer als für Akademikerkinder. Ihr fehlten Ressourcen wie ein ruhiger Ort zum Lernen oder Personen, an die sie sich wenden konnte, wenn sie Schwierigkeiten hatte, den Lernstoff zu verstehen. Stattdessen sei ihr immer wieder nahegelegt worden, doch etwas Handwerkliches zu machen. Vor dem Abitur absolvierte sie dann auch eine Friseurinnenausbildung.
Beische betont, dass ihre Erfahrungen keine Einzelerlebnisse sind, sondern dass dahinter System stecke. Eine Form der Benachteiligung und Diskriminierung von ohnehin schon Unterprivilegierten. Auf den Punkt lasse sich das mit einem Begriff bringen, der derzeit Karriere macht: Klassismus!
"Ein Freund hat mich dann irgendwann mal auf Andreas Kemper verwiesen. Er hat mir gesagt: Hey, ich habe einen Vortrag von dem gesehen, das hat mir die Augen geöffnet", so Beische.
"Dann habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen und ich habe mich in total vielen Dingen wiedergefunden, auch in Sachen, die ich von Christian Baron gelesen habe. Das hat mir total gutgetan. Ich habe gemerkt, du hast es doch nicht falsch eingeschätzt und du bist damit nicht alleine. Ich wünschte mir auch, dass ich zurückreisen und meinem jugendlichen Ich sagen könnte: Hey, das ist das, verzweifle nicht."

Statt auf Leistung kommt es auf die Herkunft an

Der Journalist und Autor Christian Baron hat in seinem Roman "Ein Mann seiner Klasse" eindrücklich beschrieben, was es heißt, in der reichen Bundesrepublik in Armut aufzuwachsen. Viele Betroffene von Klassismus beschreiben seine Schriften als Türöffner. Nicht wegzudenken aus der Diskussion um Klassismus ist auch der Soziologe Andreas Kemper. Er gilt als Pionier der deutschen Klassismusforschung und schrieb 2009 gemeinsam mit Heike Weinbach ein Standardwerk zum Thema.
"Klassismus ist eine Diskriminierungsform, eine Unterdrückungsform ähnlich wie Rassismus, Sexismus, Ableism usw.", erklärt Kemper. "So wie Rassismus sich auf ‚Rasse‘ bezieht, bezieht sich Klassismus auf Klasse. Das heißt, aufgrund einer Zuordnung zu einer bestimmten Klassenposition werden Menschen diskriminiert, unterdrückt – und nicht nur auf der Vorurteilsebene."
Der Soziologe Andreas Kemper.
Der Soziologe Andreas Kemper gilt als einer der führenden Vertreter der "Klassismus"-Forschung in Deutschland.© Stephan Röhl/Gunda-Werner-Institut/CC-BY-SA 2.0
Der Klassismus ziehe sich, so Kemper, durch alle Bereiche der Gesellschaft, wirke auch durch die Strukturen. Selbst in der Schule, die an sich ein Garant für Chancengleichheit sein sollte, würden Kinder von Arbeitenden und Erwerbslosen massiv benachteiligt. Diese Benachteiligung sei tief in der Logik der Institution Schule verankert:
"Wir haben ein Bildungssystem in Deutschland, wo die Menschen sehr früh selektiert werden. Hauptschule, Realschule, Gymnasium. Dann gibt's noch Förderschulen. Und danach wird ausgesiebt. Es gibt viele Studien, die sagen, dass das oftmals gar nichts mit Leistung zu tun hat. Ein ganz großer Teil hat mit der sozialen Herkunft zu tun."

Trotz guter Noten eine Hauptschulempfehlung

Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist durch eine Reihe von Studien intensiv erforscht worden. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss haben es deutlich leichter, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als etwa Kinder aus Arbeiterfamilien. Diese Tendenz setzt sich an der Hochschule fort. Kemper erlebte den Klassismus des deutschen Bildungssystems am eigenen Leib. Seine Eltern arbeiteten in einer Textilfabrik in Münster. Trotz eines guten Notendurchschnittes wurde er auf eine Hauptschule geschickt.
Als Fünftklässler sei er mit einem Freund dann in die Stadtbücherei gegangen:
"Sein Vater war Meister in der Fabrik, während mein Vater nur Fabrikarbeiter war. Mit seiner Mutter bin ich dann zusammen zur Stadtbibliothek gegangen und hatte dann nicht nur die Möglichkeit, Bücher zu haben – zu Hause hatten wir keine Bücher und keinen Zugang zu Büchern –, sondern ich hatte auch mit meinem Freund die Möglichkeit, über die Inhalte der Bücher zu diskutieren."
Es seien vor allem die "feinen Unterschiede", die Klassenposition und gesellschaftlichen Erfolg miteinander verknüpfen, erklärt Kemper. Der entscheidende Erforscher dieser feinen Unterschiede ist der 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu.
"Pierre Bourdieu sagt: Der Habitus ist das Klassenunbewusste. Das heißt, wie ich mich habe, das ist automatisiert, das ist in den ersten Lebensjahren konditioniert worden und kommt von der sozialen Position der Eltern, die den Kindern schon ganz früh beigebracht wird. Es geht dabei um die Wiederherstellung dieser Klassenpositionen über die Generationen, aber auch individuell von Tag zu Tag."

Soziales und kulturelles Kapital wird vererbt

Was den Kindern wohlhabender oder reicher Menschen mitgegeben wird, ist Kapital. Dazu zählt allerdings nicht nur das ökonomische Kapital, das Geld, erklärt Francis Seeck. Seeck hat eine Vertretungsprofessur für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Brandenburg inne und hat zusammen mit einer Kollegin gerade einen vielbeachteten Sammelband herausgegeben: "Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen".
"Bourdieu hat ein Modell von Kapitalsorten entwickelt, die über das ökonomische Kapital hinausgehen", sagt Seeck. "Beim ökonomischen Kapital geht es darum: Wie viel verdient ein Mensch, wie viel Vermögen hat jemand, wird jemand erben oder nicht? Aber dann geht es auch über ökonomisches Kapital hinaus. Bei kulturellem Kapital geht es zum einen um Objekte, zum Beispiel Bücherregale, teure Bilder und andere Objekte. Die zeigen: Ich habe Status, ich habe Ressourcen. Aber es können auch Bildungsabschlüsse sein, Titel oder auch das sogenannte verkörperte kulturelle Kapital, also sich in Räumen der Hochkultur selbstverständlich bewegen zu können.
Und eine weitere Kapitalseite ist das soziale Kapital, was wir auch unter Vitamin B kennen: Wen kennt man? Welche Kontakte hat man? Welche Netzwerke hat man? Wen kann man anrufen? Wen kennt man beispielsweise aus der Schulzeit? War man auf einer Privatschule oder auf einer Schule, wo es vielleicht nicht so viele Menschen gibt, die später sehr viel Einfluss und Macht haben?"
Die wichtigste Kapitalform, die über den beruflichen und akademischen Erfolg mitentscheidet, ist allerdings immer noch das Geld. Denn mit Geld lässt sich beispielsweise der richtige Anzug kaufen, der signalisiert, dass man dazugehört, dass man wer ist. Geld eröffnet den Zugang zu einer privaten Universität und es hilft auch, die richtigen Bekanntschaften zu machen. Umgekehrt hilft beispielsweise ein Doktortitel dabei, später gutes Geld zu verdienen.

Mittelschicht verachtet die Lebensweise der Armen

Auch Seeck hat auf Grund der Zugehörigkeit zur Armutsklasse Klassismus selbst erlebt. Die alleinerziehende Mutter habe zwar studiert, sie sei durch eine chronische Erkrankung aber in die Langzeiterwerbslosigkeit gerutscht. Wie Laura Beische wurde auch Seeck in der Schule immer wieder davon abgeraten, das Abitur zu machen, weil es "für Jugendliche wie sie" besser so sei. Abgewertet wurde sie aber nicht nur dort:
"Da war ein Junge aus meinem Kinderladen bei uns zu Besuch. Seine Eltern waren Beamte, haben sehr gut verdient und in einer sehr schönen, großen Altbauwohnung gelebt mit Stuck und Dielen und allem, was in der Mittelklasse so von der Ästhetik beliebt ist. Und er war bei uns zu Hause und hat dann gleich ganz entsetzt geguckt und gesagt: Hier sieht es ja aus wie im Kohlenkeller und hat einen verekelten Gesichtsausdruck gemacht. Das war auf jeden Fall einen Moment der Beschämung. Für meine Mutter und natürlich auch für mich."
Blick auf ein Bücherregal mit alten, teilweise schon etwas zerfledderten Büchern.
Einen Zugang zu Büchern haben, ist kulturelles Kapital, über das Kinder aus sozial schwachen Familien oft nicht verfügen.© picture-alliance / eb-stock | Emanuel Bloedt
Heute ist Seeck einer völlig anderen Lage. Man habe es mit einem Professorentitel sehr viel leichter. Das Leben sei rundum besser.
"Oft wird mir dann auch gesagt: Oh, du hast ja so einen anstrengenden Job und ich kriege sehr viel Bestätigung für meine aktuelle Arbeit. Die meisten aus meiner Herkunftsfamilie arbeiten z.B. in der Pflege, als Lastwagenfahrer oder als Maurer. Und dann fällt mir der Kontrast immer stark auf, wie viel Freiheit und Autonomie zum einen Akademikerinnen und Akademiker meistens in ihren Jobs haben, aber natürlich auch die finanzielle Anerkennung, die eine ganz andere ist."

Gesellschaftliche Probleme als individuelle Schwäche kleinreden

Selbst in der Arztpraxis wird Seeck heute aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung anders behandelt als früher:
"Wenn ich sage, ich vertrete gerade eine Professur, ist es manchmal schwer, überhaupt aus der Arztpraxis wieder rauszukommen. Weil mir dann einfach sehr viele Fragen gestellt werden: Oh, wie haben Sie das denn geschafft? In Ihrem Alter? Das ist ja toll. Man wird dann auch mit Lob überhäuft. Das ist das Gegenteil von dem, was ich aus meiner Jugend und Kindheit kenne, nämlich dass es sehr schwer ist, eine angemessene ärztliche Behandlung zu erfahren, wenn man in Armut lebt. Dann werden auch sehr viel von den gesundheitlichen Problemen immer auf die eigene Lebensweise zurückgeführt. Da wird dann oft der Grund eher bei einem selbst gesucht wird und man bekommt keine gute gesundheitliche Behandlung."
Dem Vorurteil, dass sie auf Grund schlechter Lebensführung krank sind, begegnen gerade Erwerbslose oft. Etwa wenn Thilo Sarrazin in seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" immer wieder herausstellt, dass Erwerbslose selbst schuld an ihrer Lage und an ihrer schlechten Gesundheit seien. Denn sie ließen sich gehen. Sie würden zu viel rauchen, trinken, sich schlecht ernähren und sich nicht genügend bewegen.
Solche Vorurteile machen etwas Entscheidendes deutlich: Beim Klassismus werden gesellschaftliche Probleme individualisiert. Dabei zeigen verschiedene Studien immer wieder, dass Armut krankmacht und Krankheit arm macht. Expertinnen und Experten kritisieren immer wieder, dass der Hartz-IV-Satz zu niedrig für gesundes Essen sei und die Zuzahlungen für Medikamente zu gering. Auch sind laute Umweltgeräusche und schlechte Luft sowie harte körperliche Arbeit eine starke Belastung für die Gesundheit. Dem sind Menschen, die arm sind, besonders oft ausgesetzt.
Es stimmt zwar auch, dass einer der Gründe für die niedrige Lebenserwartung von Armen tatsächlich ein im Durchschnitt erhöhter Genussmittelkonsum ist. Aber auch dieser wird von Stress wie Zukunftssorgen und Ausgrenzungserfahrungen stark begünstigt, wie weitere Studien zeigen.

Rassismus und Klassismus sind eng verwoben

Klassismus. Schon durch das an die alte "Klasse" angehängte "ismus" sucht die Idee Anschluss an die gegenwärtigen Diskriminierungsdiskurse. Seeck oder Kemper betonen, dass das nicht aus taktischen Gründen und wegen des Marketings richtig ist, sondern weil sich Klassismus und andere Diskriminierungsformen schon immer überlappten.
"Deswegen ist es ganz wichtig, Klassismus beispielsweise auch als ein feministisches Thema zu betrachten oder sich die Verwobenheit von Sexismus und Klassismus anzuschauen, weil gerade alleinerziehende Mutterschaft das größte Armutsrisiko ist und das auch viel mit sexistischen gesellschaftlichen Strukturen zu tun hat", sagt Francis Seeck.
"Und in der aktuellen Debatte zu Klassismus wird manchmal der männliche Arbeiter als Figur ganz stark ins Zentrum gerückt, obwohl viele Menschen, die von Klassismus betroffen sind, da gar nicht mitgedacht werden. Gerade auch Frauen, die z.B. im Niedriglohnsektor arbeiten, die in Sorgeberufen arbeiten, sollten da ganz stark im Zentrum stehen. "
Aber auch Rassismus und Klassismus seien eng verwoben, erklärt Seeck. Thilo Sarrazin lässt sich dafür beispielhaft anführen. In seinem Bestseller beschreibt er in Anführungszeichen "Türken und Araber" mit ganz ähnlichen Bildern und Begriffen wie Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger.
"Das hat man auch in der Corona-Pandemie gemerkt. Wenn dann über Viertel oder Häuserblocks geredet wurde, von denen angeblich eine höhere Gefahr ausgeht, also die dann auch Isolation gehen mussten, waren das fast immer Häuser, wo vor allem migrantische, ärmere Menschen wohnen. Auch z.B. bei dem rechtsextremen Terroranschlag in Hanau war eine Shishabar im Zentrum – ein Ort, wo es ganz klar auch um diese Verwobenheit von Klassismus und Rassismus geht. Und das sollte in der Debatte mehr ins Zentrum gerückt werden."

"Es werden die ganze Zeit Aschenbecher gefilmt"

Getragen wird diese verzerrte Darstellung von Erwerbslosen und Armen auch von verschiedenen Medienbeiträgen. Erwerbslose werden beispielsweise in Fernsehsendungen, die zum Teil zur Primetime laufen, vielfach als Menschen dargestellt, die auf Grund charakterlicher Schwächen arm geworden sind. Der Journalist und Autor Sebastian Friedrich hat sich mit dieser medialen Darstellung beschäftigt:
"Bei RTL2 beispielsweise laufen im Grunde den ganzen Tag irgendwelche Reportagen, Dokumentationen über reale Menschen, die in einem Arbeiter-, Arbeiterinnenstadtteil oder so leben. Auch wenn man sich nicht mehr ganz bewusst über die Menschen lustig macht, werden trotzdem vor allem Menschen gezeigt, die passiv sind, also die im Grunde den ganzen Tag nichts anderes machen, als sich irgendwie Cola zu trinken, Alkohol zu trinken oder zu rauchen und irgendwelche Behördenbriefe abzuarbeiten. Es werden die ganze Zeit Aschenbecher gefilmt", sagt Friedrich.
"Wenn du den ganzen Tag mit genau diesen Bildern zugeballert wirst, mit den immergleichen Abläufen, ohne tatsächliche Handlung, und einfach nur Menschen siehst, die dasitzen und auf den nächsten Behördenbrief warten, dann kriegst du irgendwann eine ganz genaue Vorstellung davon, wie Erwerbslose angeblich sind."
Auch Friedrich erfuhr Klassismus am eigenen Leib. Er kennt die Unsicherheit und Herabsetzung durch Armut und er kennt die Vorurteile, die armen Menschen das Leben schwermachen. Seine Mutter zog ihn allein groß. Sie arbeitete als Friseurin, Fabrikarbeiterin, Spielhallenaufseherin und war zwischendurch auch Sozialhilfeempfängerin. Friedrich selbst brach mit 18 die Schule ab und stand ohne Aussicht auf eine Lehrstelle und ohne Arbeit da.
"Ein Freund von mir – er ist jetzt Rentner – war jahrzehntelang Lkw-Fahrer. Als ich mit ihm über diese Sendung Hartz und herzlich auf RTL2 gesprochen habe, meinte er, diese Sendung habe doch eine ganz einfache Funktion. Die besteht darin, dass Leute, die aufstocken müssen, die vielleicht auch von Hartz IV leben oder die schlecht bezahlte Jobs haben, sich diese Sendung angucken und denken: Da gibt es doch Leute, denen es noch schlechter geht."

Der Kapitalismus braucht seine "Reservearme"

Friedrich erklärt die Verhältnisse mit marxschen Kategorien. Klassismus sei eine Ideologie, die dazu diene, Klassenverhältnisse aufrechtzuerhalten:
"Mein Eindruck ist, dass in dieser Form, wie Erwerbslose dargestellt werden, es tatsächlich zu einer Entsolidarisierung kommt, dass es dann eher so ein Abgrenzen nach unten ist: Guck mal, denen geht es noch schlechter. Und: So wie die bin ich ja nicht."
Man gebe Armen die Schuld für ihr Unglück. Dabei sei ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit im Interesse der Unternehmen. Der Kapitalismus brauche Erwerbslose – oder besser: eine "Reservearmee" von Arbeitskräften, die bei Konjunkturschwankungen eingesetzt werden kann. Gleichzeitig sorge Arbeitslosigkeit für Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschaft. Der Effekt: sinkende Löhne für Beschäftigten, höhere Profite für die Unternehmen. Trotzdem würden Erwerbslose immer und immer wieder als faul, reaktionär und triebhaft dargestellt. Solange diese charakterlichen Schwächen im Vordergrund stünden, werde nicht über die strukturellen Ursachen gesprochen. Und solange ließen sich Menschen auch dazu bringen, sich zu Niedriglöhnen ausbeuten zu lassen.
"Es gibt auch Studien, die zeigen, dass selbst Menschen, die zu dieser Klasse gehören, die dort dargestellt wird, die Langzeitarbeitslosen beispielsweise, dass die sich auf diese Sendungen beziehen und sagen: Ja, aber es gibt solche Leute, aber ich bin nicht so. Ich bin nicht faul. Ich strenge mich ja an", sagt Friedrich.
"Insofern fördert eine solche Darstellung von Erwerbslosen die Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Und verhindert somit im Grunde auch den gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutungsverhältnisse, wie wir es im Kapitalismus kennen."

Umverteilung und Anerkennung

In den letzten Monaten wurde der Klassismusbegriff in Deutschland viel und heiß diskutiert. Die meisten großen Zeitungen veröffentlichten Artikel zum Thema, die Zeit publizierte eine Reihe. Einer der Hauptkritikpunkte am Klassismus-Begriff ist, dass es – ganz Sinne der Anerkennungskultur der Identitätsdebatte – nur darum gehe, den Armen billigen Respekt zu verschaffen, aber nicht, deren Armut aufzuheben. Auf Nachfrage erklären allerdings die meisten Stimmen, die zum Klassismus seit Jahren intensiv arbeiten, dass der Vorwurf ins Leere laufe. So auch die Sozialarbeiterin und Praxisforscherin Tanja Abou, Mitbegründerin des Instituts für Klassismusforschung:
"Bei der Frage nach Umverteilung versus Anerkennung bin ich immer etwas irritiert, dass das zurzeit so gegeneinander diskutiert wird. Ich habe den Eindruck, dass da auch viel an den Kämpfen, die bisher geleistet wurden, lächerlich gemacht wird. Für mich schließen sich die Umverteilungs- und die Anerkennungsfrage überhaupt nicht aus. Das ist für mich Teil von allen politischen Kämpfen", sagt Abou und verweist auf die Texte der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser. Diese habe deutlich gemacht, dass "Umverteilungs- und Anerkennungsfragen in politische Kämpfe gehören, und zwar zusammengedacht und nicht gegeneinander diskutiert".
Abou betont, der Klassismusbegriff helfe Erwerbslosen und Arbeitenden, ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Lage zu entwickeln, ihrer Klassenlage. Das trage dazu bei, Ausbeutung und Ausgrenzung als Teil eines gemeinsamen Problems zu erkennen. Erst dann könne man gemeinsam etwas dagegen tun.
Ein SPD-Wahlplakat von 2002 zeigt den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, darunter der Spruch: "Wie viel ein Mensch lernt, ist seine Sache. Dass er die Möglichkeit dazu hat, ist unsere." 
"Es gibt kein Recht auf Faulheit": Mit dieser Äußerung in einem BILD-Interview 2001 wird Ex-Bundeskanzler Schröder - selbst aus kleinsten Verhältnissen stammend - bis heute zitiert.© imago images / Engelhardt
Darin übereinstimmend bezeichnet Sebastian Friedrich Klassismus als Ideologie, die dazu beiträgt, kapitalistische Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die Agenda 2010 wäre in seinen Augen ohne klassistische Kampagnen, die Erwerbslose als faul und frech stigmatisierten, nicht möglich oder zumindest deutlich schwerer durchsetzbar gewesen. Es gebe "kein Recht auf Faulheit", erklärte beispielsweise der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder. Die Abscheu gegen Arme, an die hier angeschlossen wird, hat eine lange und im Extremfall mörderische Tradition.
"Es gab auch feministische und lesbische Gruppen, die sich explizit nochmal mit der Verfolgung sogenannter asozialer Menschen auseinandergesetzt haben", betont Francis Seeck.
"Im Nationalsozialismus gab es ja auch den schwarzen Winkel, unter dem wurden sogenannte asoziale Menschen verfolgt und ermordet, z.B. Bettelnde, Landstreicher, wohnungslose Menschen und auch Sexarbeiterinnen."

Verbreitete Ressentiments gegen Erwerbslose

Wie weit verbreitet Ressentiments gegen Erwerbslose sind, zeigt sich auch an den Ergebnissen der Mitte-Studie von 2018/19, einer regelmäßig durchgeführten Erhebung. Über die Hälfte der deutschen Bevölkerung findet, dass Langzeitarbeitslose sich "auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben" machen. Immer noch folgen viele dem alten Müntefering-Spruch: "Wer arbeitet, muss was essen. Wer nicht arbeitet, braucht nichts essen." Und so treffen dann auch Menschen, die sich gegen Klassismus engagieren, auf eine feindselige Gegenseite.
"Als ich dann angefangen habe, in Münster das erste Referat für studierende Arbeiterkinder aufzubauen, habe ich gemerkt, wie viel Gegenwind ich bekomme, wie wie heftig ich angegriffen werde, wie ich, wie ich beleidigt werde usw.", berichtet Andreas Kemper.
"Wenn man sich bewegt, dann spürt man diesen Klassismus auch noch viel mehr. Das sind ganz ähnliche Erfahrungen wie bei Rassismus oder Sexismus. Sobald sich die Menschen, die betroffen sind, wehren, wird es nochmal heftiger. Denn dann kommen auch Gewaltaspekte ins Spiel. "
Kemper betont, dass hinter der Abwertung von Armen handfeste Interessen stünden:
"2006 wurde das Antidiskriminierungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland umgesetzt. Und da gab es dann Diskussionen darüber, ob das um soziale Herkunft erweitert wird. Dazu gab's dann ein Green Book – so hieß das auf europäischer Ebene –, wo dann Statements eingefordert wurden. Und die Familienunternehmer haben in ihrem Statement gesagt: Auf gar keinen Fall soziale Herkunft als Erweiterung."

"Diversity Management" hilft nicht

Auf der anderen Seite hätten viele Unternehmen das Diversity Management für sich entdeckt, so Kemper. Diversity Management ist eine Form des Personalmanagements, das sich darum bemüht, Diskriminierungen im Betrieb zu vermeiden, und eine möglichst vielfältige Belegschaft anstrebt. Kemper hält diesen Ansatz hier aber nur für begrenzt hilfreich:
"Ich weiß nicht, ob man Klassismus wirklich so im Diversity Management unterbringen kann wie Sexismus und Rassismus, weil ja bei Klasse tatsächlich dann auch die Klassengesellschaft und damit auch die Strukturen, die ökonomischen Strukturen in Frage gestellt werden. Man redet sehr viel schneller über Ökonomie, wenn man über Klassismus und damit über Klassen spricht, als wenn man über Rassismus spricht. Da ist dann die Frage, ob das über Diversity Management so einfach geht oder ob da dann nicht gewerkschaftliche Kämpfe wichtiger sind."
Das Thema ist umkämpft. Das wird auch daran deutlich, dass in den letzten Jahren immer mehr Organisationen entstehen, die sich gegen Klassismus einsetzen.
"Ich finde es wichtig, dass sich Menschen, die betroffen sind, auch selbst organisieren. Das heißt, ohne Schwulen und Lesbenbewegung hat sich nichts geändert. Und ohne Frauenbewegung hat sich auch hinsichtlich von Patriarchat und Sexismus nichts geändert."

Die Menschen aus ihrer Ohnmacht befreien

Klassismus aber wirke so stark, dass es lange Zeit nicht einmal eine Selbstorganisierung der Betroffenen gegeben habe, sagt Kemper. Aber:
"Das ändert sich gerade. Jetzt haben wir eine ganze Reihe von Referaten an Hochschulen, die dafür kämpfen, dass soziale Herkunft verbannt wird. "
In so einem Referat ist Laura Beische aktiv. Zu ihrer politischen Arbeit gehören auch Workshops, die sie an ihrer ehemaligen Schule durchführt. Sie erzählt von ihrer Erfahrung, dass bei vielen Schülerinnen und Schülern schnell der Groschen falle, sobald sie das Klassismuskonzept kennenlernten.
"Man hat gemerkt, dass so ein bisschen die Ohnmacht weggegangen ist und dass sie das Gefühl hatten, es ist ein Zustand, wo ich doch handeln kann. Zwar auch nicht im großen Spielraum, aber ich verstehe jetzt Dinge besser. Ich glaube, deshalb finde ich das Konzept von Klassismus ziemlich gut, weil das für sehr viele zugänglich und greifbar ist, um dann nächste Schritte zu gehen oder über andere Dinge nachzudenken. Dass man vielleicht selber darüber nachdenkt, politisch zu handeln, vielleicht mit in die Praxis zu gehen oder sich auch einfach auszutauschen. Einfach um noch mehr Menschen aus der Ohnmacht zu befreien."
Denn: "Klassismus zu bekämpfen, bedeutet nicht nur, einfach netter zu Leuten zu sein, sondern dass man das System, wie es gerade ist, hinterfragt."

Mitwirkende
Technische Realisierung: Neumann, Christiane
Autor: Hamade, Houssam
Sprecher: Weisschnur, Timo
Regie: Maio, Giuseppe
Redaktion: Hartwig, Martin

Eine Wiederholung vom 11. Mai 2021.

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