Klassiker der Lyrik

27.01.2011
Der Übersetzer Guido Schmidlein legt mit "Auf unsichtbarem Grunde" eine Auswahl aus mittleren und späten Texten Mario Luzis, die fünf verschiedenen Bänden entnommen sind. In dem Werk des letzten italienischen Klassikers der Lyrik des 20. Jahrhunderts geht es auch um die Bestimmung des Menschen im Wandel der Zeit.
Ein tiefes Sprachvertrauen zeichnet Mario Luzis weit über tausend Seiten umfassendes dichterisches Werk aus. Dass er von der Angst vor dem Verstummen oder den Grenzen des Sagbaren so unberührt blieb und ihm trotz aller Dunkelheit und Bilderdichte die neoavantgardistische Sprachzerstörungslust fern lag, erklärt sich aus seinen Anfängen.

1914 im toskanischen Castello geboren, wurde der 2005 verstorbene Luzi vom intellektuellen Klima der 30er-Jahre in Florenz geprägt, wo Zusammenkünfte mit Eugenio Montale, Gianfranco Contini und Carlo Bo an der Tagesordnung waren und sich die Redaktionen der führenden italienischen Literaturzeitschriften an den Tischen des Caféhauses Le giubbe rosse versammelten.

In der Hochzeit des italienischen Faschismus knüpften Ungaretti und Montale ästhetisch an den französischen Spätsymbolismus an, was ihren aufsehenerregenden Lyriksammlungen die Bezeichnung "hermetische Dichtung" einbrachte: Vollständige Sätze zerfielen, das essenzielle Wort sollte die Wahrheit des Seins verdichten, Klangfülle und Analogien bestimmten den Rhythmus der Texte. Mit seinem Debüt "Das Boot" (1935) wurde Luzi als Vertreter der jüngeren Generation sofort zum Repräsentanten des florentinischen Hermetismus ausgerufen - eine Etikettierung, die ihm selbst eher unrecht war.

Mit seinem preziösen Vokabular, den Latinismen, der Verankerung in der europäischen Tradition und einer tiefen Spiritualität unterlief Luzi, zunächst Lehrer und später Professor für französische Literatur, die hohlen Pathosformeln des Faschismus. Der Übersetzer Guido Schmidlin legt mit der Sammlung "Auf unsichtbarem Grunde" jetzt erstmals eine Auswahl aus dem mittleren und späten Werk Luzis vor, die fünf verschiedenen, zwischen 1971 und 1995 entstandenen Bänden entnommen ist.

Nach 1945 werden Luzis Gedichte erzählerischer und transparenter, womit er sich vielleicht auch aus der durch den Krieg erzwungenen elitären Isolation lösen wollte. Reisen nach Fernost oder politische Ereignisse wie die Ermordung Aldo Moros sind Gegenstand der Texte. Die Frage nach der conditio humana spielt in der mittleren Schaffensphase eine wichtige Rolle. Was macht den Menschen aus, und wie steht es, in Anknüpfung an Augustinus, um seine Sprache? Ist es das Gedicht, das die Wahrheit ausdrücken kann, oder droht es, zur Formel zu erstarren?

Zentral ist die Figur des Paulus, "wie zwei Hagelkörner/ zwei weiße Löcher, seine meergewohnten Augen", der sich seines Ziels gewiss ist. So entvölkert, verödet oder neblig die toskanischen Landschaften auch sein mögen, plötzlich weichen Skepsis und Müdigkeit. Die tiefe Versenkung, die an eine christliche Demutshaltung erinnert, führt das lyrische Ich häufig wieder ins Offene, Lichtvolle.

Das Element des Wassers und der Wechsel der Jahreszeiten verheißen einen Neuanfang. Plötzlich birgt eine Forelle das Geheimnis des Lebens: "Es kämmt ihr die Gedanken / es formt ihre Sinne dieses Fließen / des Wassers und der Luft". Ein italienischer Klassiker, der neu zu entdecken ist.

Besprochen von Maike Albath

Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grunde, Gedichte,
aus dem Italienischen übersetzt von Guido Schmidlin, Carl Hanser Verlag München 2010, 328 Seiten, 19,90 Euro