Klassenkampf in der Nachbarschaft

25.04.2013
Ob in Tel Aviv, dem Tahrir-Platz in Kairo, ob in Madrid oder Athen: Die Stadtbevölkerung macht ihrem Unmut Luft im öffentlichen Raum. Nach Ansicht des Sozialwissenschaftlers David Harvey eröffnen sich dort neue Perspektiven für die Weltrevolution.
Auch wenn Stichworte wie "Twitter-Revolution" oder "Facebook-Demo" nahelegen, dass Protest im 21. Jahrhundert vor allem auf Bildschirmen spielt – noch im digitalen Zeitalter bahnen sich Protestbewegungen ihren Weg auf der Straße. Ob auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, dem Tahrir-Platz in Kairo, ob in Madrid oder Athen: die Stadtbevölkerung macht ihrem Unmut Luft im öffentlichen Raum. Nach Ansicht des britischen, in New York lebenden Sozialwissenschaftlers David Harvey tun sich dort neue Perspektiven auf die Weltrevolution auf. Im urbanen Raum sieht er den Ort gegenwärtiger und kommender Klassenkämpfe: "Das Urbane wirkt offensichtlich als wichtiger Schauplatz für politisches Handeln und für Rebellion."

Harvey, Jahrgang 1935 und unbeirrter Neomarxist, verband bereits Ende der 1960er-Jahre geografische Analysen mit Kritik am kapitalistischen System. Räumliche Formen und soziale Prozesse denkt er zusammen. Die Stadtentwicklung der Moderne – beginnend im Paris des 19. Jahrhunderts bis zur Errichtung chinesischer Megastädte in unseren Tagen – ist für ihn das Resultat kapitalistischer Wirtschaftspolitik. Er kommt zum Schluss, "dass die kapitalistischen Prozesse der Urbanisierung die Stadt als funktionierendes Gemeinwesen zerstört haben".

Um dies wiederherzustellen, macht Harvey in seinem Buch "Rebellische Städte" nun neues revolutionäres Potenzial aus – in jenen Menschen, die städtisches Alltagsleben ermöglichen: Pflegekräfte, Busfahrer, Restaurantpersonal. Harvey betont die Notwendigkeit, nicht Fabriken, sondern Wohnorte und Nachbarschaft als Schauplätze sozialer wie politischer Solidarität stärker wahrzunehmen.

Harvey vereinnahmt alles für seine marxistische Ideologie
In der Stärkung des städtischen Gemeinwesens und einer "revitalisierten Konzeption des Proletariats" sieht er die Möglichkeit, die Stadt zurückzuerobern, sie neu zu entwerfen – und letztlich den Umsturz der "ausbeuterischen Klassen- und Staatsmacht" vorzubereiten. Dabei weitet Harvey den alten Begriff des Proletariats aus, und zwar auf Menschen, die nicht der klassischen Arbeiterschaft angehören, sondern beispielsweise als unorganisierte, einkommensschwache Beschäftigte in prekären Verhältnissen sich durchschlagen.

Harvey bezieht sich auf "Das Recht auf Stadt", einen vom französischen Soziologen Henri Lefebvre geprägten Begriff. 1967 hatte Lefebvre in seinem gleichnamigen Essay ein alternatives urbanes Leben gefordert, in dem Bewohner in kommunale Belange mit einbezogen sind, ihren Lebensraum selbst gestalten und einer kapitalistisch orientierten Stadtplanung Widerstand entgegensetzen, indem sie für soziale und ökologische Bedürfnisse streiten.

Harvey definiert das "Recht auf Stadt" als Zwischenstation auf dem Weg zur Abschaffung des Kapitalismus. So stellt er lokale Ereignisse in einen globalen Zusammenhang. Und mehr noch, so muss man einwenden: Er vereinnahmt auf diese Weise unterschiedliche Protestbewegungen für seine marxistischen Ideologie. Widerstand gegen Gentrifizierung bestimmter Viertel in europäischen Großstädten durch die Mittelklasse unterscheidet sich in Harveys Augen nicht vom Protest der indigenen Bevölkerung im bolivianischen El Alto gegen die Privatisierung der Wasserversorgung.

Der unbedingte Wille zur Weltrevolution, der permanente Rückgriff auf marxistische Theorie: Sie machen diese gut 250 Seiten, auch wenn sich viele einzelne anregende Beobachtungen finden, insgesamt zu einer mühsamen Lektüre. Schließlich sind Städte mehr als reine Umschlagplätze für Kapital.

Besprochen von Carsten Hueck

David Harvey: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution
Aus dem Englischen von Yasemin Dincer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
283 Seiten, 18 Euro